Publizistisches Trommelfeuer stellt Wirklichkeit auf den Kopf

Die Demonstrant*innen sahen sich beim G20-Gipfel einer unglaublichen Polizeigewalt ausgesetzt. Foto: fiction of reality, CC BY 2.0

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Nach dem G20-Gipfel

Publizistisches Trommelfeuer stellt Wirklichkeit auf den Kopf

Von Koordination der ISO | 28.07.2017

Die G20-Proteste in Hamburg waren ein großer Erfolg für die gesellschaftliche Linke. Eine Woche lang sind Tausende Aktivist*innen in fieberhafter Anspannung im Dauereinsatz gewesen, haben politisch um Camps gekämpft, zahllose Aktionen vorbereitet, sind auf die Straße gegangen.

Trotz wochenlanger medialer Angstmache und trotz der Einschüchterung durch einen eskalierenden Polizeistaat ist es gelungen, Zehntausende gegen die G20 auf die Straße zu bringen. Die Bündnisdemonstration am Samstag, den 8. Juli, mit 76.000 Teilnehmer*innen dürfte die größte Demo in Hamburg seit Jahrzehnten gewesen sein. Tausenden Aktivist*innen gelang es am Freitag, den 7. Juli, Zufahrtswege zum Gipfel zu blockieren und den Gipfelablauf zumindest punktuell zu stören – leider nicht umfassend. Etwa 2.000 Jugendliche demonstrierten zeitgleich durch die Innenstadt. Bis zur Zerschlagung der antikapitalistischen Demonstration am Donnerstag durch die Polizei hatten sich bereits 12.000 versammelt; hätte sie durch „die Viertel“ ziehen können, sie wäre sicher auf über 20.000 angewachsen. Über 20.000 waren es am Mittwoch gewesen, die bei „Lieber tanz ich als G20“ gegen den Gipfel ravten, nachdem am Dienstag bereits Tausende gegen den Gipfel „gecornert“ hatten. Rund 2500 Teilnehmer*innen hatten am Mittwoch und Donnerstag den alternativen „Gipfel für globale Solidarität“ besucht und mit Gästen aus aller Welt inhaltliche Kritik an den G20 diskutiert.

Die Gewalt ging vom Staat aus

Um uns diesen großen Erfolg kaputt zu machen, versuchen SPD/CDU und Medien nun mit aller Macht, die Krawalle in der Schanze und in Altona gegen uns zu instrumentalisieren und sprechen nur noch von der Randale, anstatt über den Massenprotest. Dabei stellen sie die Wirklichkeit auf den Kopf. Denn mindestens bis Donnerstagabend, den 6. Juli, wurde Gewalt nur von einer Seite ausgeübt, den Sicherheitskräften. Schon bevor der G20-Gipfel begann, herrschte an der Elbe der Ausnahmezustand. 38 Quadratkilometer Innenstadtgebiet wurden zur demokratiefreien Zone erklärt, in der nicht protestiert werden darf. Camps, in denen Gegner*innen des G20-Gipfels übernachten wollten, wurden untersagt oder mit schikanösen Auflagen belegt. Selbst wenn sie mühsam vor Gericht erstritten wurden, setzte sich die Polizei kurzerhand über ein Gerichtsurteil hinweg und verhinderte gewaltsam den Aufbau der Zelte.

Der rot-grüne Senat hatte mit Hartmut Dudde einen notorischen Hardliner als obersten Einsatzleiter bestimmt. Dudde hatte einen kometenhaften Aufstieg gemacht, als Ronald Barnabas Schill („Richter Gnadenlos“) Innensenator war. Dudde hatte verfügt, dass es in Hamburg keine Zeltlager für G20-Gegner*innen geben dürfe. Durchgesetzt wurde das mittels rabiaten Einsätzen, deren oberstes Ziel war, bei den Demonstrant*innen „shock and awe“ (Angst und Schrecken) zu verbreiten und ein Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit auszulösen. Jede Wiese, die besetzt wurde, wurde mit martialisch auftretender Polizeiübermacht gestürmt. Die Beamten in Kampfmontur rissen bunte Iglu-Zelte weg, stießen friedliche Protestler*innen, schlugen zu und setzten Pfefferspray ein.

Schon bevor der G20-Gipfel begann, herrschte an der Elbe der Ausnahmezustand. 38 Quadratkilometer Innenstadtgebiet wurden zur demokratiefreien Zone erklärt.

Bis Mittwochabend war die Polizei mit ihrer harten Draufschlag-Linie allerdings politisch in die Defensive geraten. Kirchengemeinden öffneten ihre Türen für Gipfelgegner*innen, das Hamburger Schauspielhaus erklärte am Dienstagabend, es werde seine Räumlichkeiten für G20-Gegner*innen öffnen. In dieser Situation ließ Innensenator Andy Grote zu, was er vorher konsequent verhindert hatte: In zwei Hamburger Parks gab es nun Camps mit über 300 Zelten. Als am frühen Mittwochabend noch 25.000 Menschen in einer Nachttanzdemonstration durch die Straßen Hamburgs zogen, bedeutete das: Die Strategie der Hamburger Polizei stand am Mittwochabend kurz vor ihrem Scheitern.

Im unmittelbaren Vorfeld der vom harten autonomen Spektrum betriebenen „Welcome to Hell“-Demonstration war klar, dass Verfechter des Eskalationskurses, Scholz, Grote und Dudde die politische Auseinandersetzung rund um den G20-Gipfel ohne Randale-Bilder verlieren würden.

Er war folgerichtig, dass die riesige Polizeistreitmacht am Donnerstagabend alles tun würde, um endlich die gewünschten Randale-Bilder zu bekommen. Bereits kurz nach dem Start der Demo griffen Polizeikommandos den Protestzug brutal an. Unter dem Vorwand, der „Schwarze Block“ habe gegen das Vermummungsverbot verstoßen, stürmte die Polizei in die Demonstration und setzte wiederholt Wasserwerfer, Tränengasgranaten und Pfefferspray ein und trieb die Teilnehmer*innen unter dem Einsatz von Knüppeln auseinander. Dabei waren selbst im „Schwarzen Block“ die allermeisten der Aufforderung der Polizei nach Abnahme der Vermummung nachgekommen und trugen lediglich noch Mützen und Sonnenbrillen.

Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken, der direkt am Ort des Geschehens war, erklärt den Polizeiangriff so: „Ich glaube sogar, das war gewollt. Natürlich hat der Hamburger Senat diese Gewaltbilder vor dem Gipfel an die Wand gemalt und dazu benutzt, um Camps zu verbieten, Straßen zu sperren, demonstrationsfreie Zonen auszurufen und so weiter. Und dazu mussten die Bilder geliefert werden. Ich glaube, dass die Eskalation am Hamburger Fischmarkt gewollt war – mit dem Risiko, dass es in der Stadt danach sogar brennt.“

Die Randale im Schanzenviertel

Die inszenierte Betroffenheit und die Hetztiraden fast aller bürgerlichen Politikerinnen und Politiker über den „autonomen Terror“ stützen sich auf die Ausschreitungen im Schanzenviertel am Freitagabend, den 7. Juli. Dabei zeichnen viele Medien und Politikerinnen und Politiker das reichlich übertriebene Bild eines bürgerkriegsähnlichen Zustands. Fakten? Meist Fehlanzeige. Unkritisch werden die Presseerklärungen der Polizei als Meldung übernommen. In einem taz-Artikel heißt es: „Es geschieht sehr viel weniger, als die Fernsehbilder suggerieren. Nicht das Schanzenviertel brennt, sondern einige seiner Ecken. Nicht die Läden werden gestürmt, sondern ein paar Läden. Unberührt bleiben Kneipen und Cafés, es wird getrunken, gegessen, geredet, gelacht.“

Die Polizei war an diesem Freitagabend nicht das Opfer einer nicht mehr „beherrschbaren Situation“. Es ist eine Zweckbehauptung, dass die Polizei sich drei Stunden lang nicht ins Schanzenviertel wagte, weil sie um Leib und Leben der Beamt*innen fürchtete. Es waren auch zum Zeitpunkt, als die Randale begann, Hundertschaften der Polizei ganz in der Nähe präsent. Sie hätten über Seitenstraßen ins Schanzenviertel gelangen können und hätten dabei nicht einmal Barrikaden zur Seite räumen müssen. Weitere Hundertschaften aus der 20.000 Köpfe zählenden Polizeistreitmacht hätten binnen kürzester Zeit an den Ort des Geschehens gebracht werden können – wenn das den politischen Zielen der Einsatzleitung entsprochen hätte. Die hatte offenbar andere Prioritäten. Das freitägliche Vorgehen der Dudde-Truppe erklärt sich nur, wenn man versteht, dass Dudde die Bilder brauchte, um in der nachfolgenden Debatte der deutschen Öffentlichkeit erklären zu können, dass seine Eskalationsstrategie die einzig mögliche Strategie war.

Wer waren die Randalierer?

Die Randale an diesem Freitagabend im Schanzenviertel war ziemlich „sinnfrei“ und hatte mit linker Politik wenig gemein. Klar ist inzwischen aber auch: Die Ausschreitungen im Schanzenviertel gehen nicht allein auf das Konto von militanten Linken. In einer Erklärung von Ladenbesitzer*innen aus dem Schanzenviertel heißt es dazu: „Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein Schwarzer Block in unserem Stadtteil gewütet haben. Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen. (…) Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel – durch alle anwesenden Personengruppen hindurch –, die sich hier Bahn brach. Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken Aktivist*innen zu sprechen, wäre verkürzt und falsch.“

Es geht also bei der Einordnung der Ereignisse im Schanzenviertel nicht so sehr um die altbekannte Unterscheidung „gute und böse“ Demonstranten, sondern um die Unterscheidung Demonstranten – „Hooligans“. Das wird auch deutlich an einer bemerkenswerten Besonderheit: An den Brandstiftungen und Plünderungen in der Schanze waren radikale Linke nicht nur nicht (bzw. marginal) beteiligt – sie haben im Gegenteil aktiv Schlimmeres verhindert. Es mehren sich die Augenzeugenberichte, denen zufolge Autonome sich (oft gemeinsam mit Anwohnern!) Schlägereien mit den Marodeuren geliefert haben – insbesondere um potentiell lebensgefährdende Brandstiftungen in Ladengeschäften von Mietshäusern zu verhindern (zum Glück weitgehend erfolgreich).

Es verbietet sich, angesichts einer wirklich komplizierten Gemengelage im Schanzenviertel, hier weitergehende vorschnelle Urteile zu fällen. Eine umfassende Analyse der Ereignisse zu leisten, ist Aufgabe der Linken in Hamburg.

Die Randale an diesem Freitagabend im Schanzenviertel war ziemlich „sinnfrei“ und hatte mit linker Politik wenig gemein.

Es ist allerdings davon auszugehen, dass in dieser explosiven Stimmung im Schanzenviertel auch Polizeiprovokateur*innen eine Rolle gespielt haben. Die Szene rund um die Rote Flora war in den letzten Jahren immer wieder das Ziel von verdeckten Ermittler*innen, welche sich zum Teil jahrelang als Linke ausgaben.

Zwar gibt es bisher keine konkreten Hinweise auf Agents provocateurs. Ein Vorfall gibt aber zu denken: Als Beleg für die extreme Gewalttätigkeit der Randalierer wurden im Fernsehen immer wieder Bilder einer Gruppe präsentiert, die vom Dach eines Hauses Gegenstände auf die Straße warf. In diesem Zusammenhang wurde aber hinterher bekannt, dass die Polizei vom Besitzer des Hauses schon im Vorfeld auf die „Gefährlichkeit“ des Hauses hingewiesen worden war – allerdings vergeblich. Es war ihr sogar der Schlüssel zu dem Haus angeboten worden. Noch seltsamer ist, dass diese Personengruppe, die später von einem Sonderkommando der Polizei festgenommen worden war, wenige Tage darauf „klammheimlich“ wieder freikam und gegen sie nicht ein einziger Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts, eine schwere Straftat begangen zu haben, beantragt worden ist.

Kritik am „Schwarzen Block“

Die Ereignisse in Hamburg verweisen auf seit langem bekannte politische Defizite der Kreise, die als „Schwarzer Block“ bezeichnet werden. Politisch denkenden Leuten musste schon vor der „Welcome to Hell“-Demonstration angesichts der unglaublich starken, offenbar sehr flexibel und „robust“ agierenden Polizeistreitmacht klar sein, dass Straßenkämpfe mit diesem Polizeiaufgebot in einem Desaster enden würden. Klar war, dass Eskalationsstrategen in der Einsatzzentrale der Polizei Randalebilder brauchten wie ein Heroinsüchtiger die Nadel.

Es ist die Schwäche der Möchte-Gern-Streetfighter im „Schwarzen Block“, dass ihnen das politische Verständnis fehlt, solche Zusammenhänge zu erkennen. „Bauchgefühl“ und aufregende Action-Erlebnisse haben leider in diesen Kreisen einen höheren Stellenwert als rationale politische Erwägungen. Es ist falsch, blindwütige Zerstörungen im Rückraum, fernab von Polizeieinheiten, als erfolgreiche Gegenwehr gegen Polizeiterror zu verklären. Diese Art von Militanz mag Wut ausdrücken, ist aber vor allem Ausdruck von politischer Ohnmacht. Ein weiteres Problem ist, dass solche Aktionsformen es Menschen, die mit linken Werten nichts am Hut haben, leicht machen, hier einzusteigen.

Gewalttäter in Uniform

Von der willkürlichen Gewalt der Polizei gegen Demonstrierende hört und liest man in den Medien viel zu wenig. Auf Facebook und Twitter haben sich jedoch immer mehr zu Wort gemeldet, die von roher Gewalt, Pfefferspray-Attacken, Tritten, Schlägen ins Gesicht, Drohungen und Beschimpfungen berichtet haben. Menschen wurden ohne Grund festgenommen und in der Gefangenensammelstelle schikaniert und drangsaliert. Ihnen wurde teilweise der Kontakt zu Anwält*innen, ein Telefonat oder der Toilettengang verwehrt. Verletzte berichten, dass ihnen selbst eine Erstversorgung ihrer Wunden verweigert wurde. Dass in den Medien überhaupt über die Polizeigewalt berichtet wurde, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass auch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten die Eskalation einer teils wildgewordenen Staatsmacht am eigenen Leib zu spüren bekamen.

Hetzkampagne gegen Linke

CDU-Politiker*innen wollen die Situation zum Rundschlag gegen Linke nutzen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber will das Wohnprojekt Rigaer Straße in Berlin, die Rote Flora in Hamburg und soziale Zentren in Leipzig schließen lassen. Natürlich meldet sich auch Innenminister de Maizière zu Wort; er will gegenüber Linken pauschale Demoverbote in Form von vorbeugendem Hausarrest, kontrolliert mit elektronischer Fußfessel, verhängen. Parteikolleg*innen von ihm fordern eine Wiedereinführung von Berufsverboten gegen Linke. Es ist zu befürchten, dass die Anhänger*innen von „Law and Order“ im Zeichen des Wahlkampfes noch weitere Gesetzesverschärfungen ins Gespräch bringen.

Die Linke sollte sich für eine lückenlose Aufklärung des Polizeieinsatzes einsetzen und all jenen, die die gewalttätigen Ausschreitungen jetzt in den Vordergrund rücken wollen, den Spiegel vorhalten. Zahlreiche Gruppen und Initiativen wie das das Grundrechtekomitee haben die Gewalttätigkeiten der Polizeitruppe dokumentiert. Die Internetseite https://g20-doku.org/ dokumentiert Grundrechtsverletzungen durch die Polizei.

CDU-Politiker*innen wollen die Situation zum Rundschlag gegen Linke nutzen.

In der Zwischenzeit wurden schon einige Behauptungen der Polizei als Märchen entlarvt. Was am Sonntag, den 9. Juli, ein Molotowcocktail war, sieht fünf Tage später laut Experten nach einem Böller aus. Ein anderes: Von den zunächst offiziell verlautbarten fast 480 verletzten Polizist*innen haben sich laut Angaben des bayerischen Innenministeriums mehr als die Hälfte in den beiden Wochen vor den Demonstrationen krank gemeldet, die ab dem 6. Juli stattfanden.

Es geht natürlich zuallererst um die Verteidigung der nun akut bedrohten linken Zentren (Rote Flora, Hamburg; Conne Island, Leipzig; Rigaer Straße, Berlin). Darüber hinaus sollte die Linke aber auch militante Aktionsformen grundsätzlich verteidigen – das ist etwas anderes als sie jederzeit und überall anwenden zu wollen. Wir sollten uns nicht auf eine vom Gegner definierte „Gewaltfreiheit“ festlegen lassen. Wir sollten nicht in den Chor derjenigen einstimmen, die zivilen Ungehorsam etwa in Form passiver Sitzblockaden zum letzten zu legitimierenden Mittel des Widerstands erklären. Auch militante Selbstverteidigung unserer Demonstrationen gegen Angriffe von Polizei und Faschisten ist legitim.

Nach wie vor gilt die Forderung: Hamburgs regierender Bürgermeister Scholz und sein Innensenator Grote müssen wegen der zahlreichen von ihnen verantworteten Gewalttätigkeiten der Polizei den Hut nehmen. Es geht darum, für diese Forderung den nötigen Druck zu entwickeln.

Koordination der Internationalen Sozialistischen Organisation (ISO), 22. Juli 2017
Dieser Text wurde am 29. Juli 2017 um 11:40 Uhr aktualisiert.

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