6 Fragen, die sich im Vorfeld des G20-Gipfels stellen

Ein Aufkleber wirbt für den Protest gegen die Konferenz der G20 in Hamburg Foto: Rasande Tyskar, CC BY-NC 2.0

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G20-Gipfels in Hamburg

6 Fragen, die sich im Vorfeld des G20-Gipfels stellen

Von Helmut Dahmer | 22.06.2017

Wo steht der globale Kapitalismus heute?

Der globale Kapitalismus steigert in den höchst entwickelten Gesellschaften nach wie vor die Arbeitsproduktivität (samt der Kontroll- und Destruktionskapazität) und beschert der Bevölkerungsmehrheit in diesen Oasenländern „paradiesische“ Lebensverhältnisse (Freiheit von Hunger, Seuchen und Kriegen, steigende Lebenserwartung, parlamentarische Demokratie, Grundrechte). Auch die Binnenverhältnisse in diesen „Oasen“ unterliegen freilich dem Druck der sie umgebenden Weltwüste, deren Durchdringung mit kapitalistischen Strukturen sie vorantreiben und deren Ressourcen sie sich durch permanente Interventionskriege zu sichern suchen. Überfluss und Verelendung koexistieren national wie international. Das Entwicklungsgefälle zwischen armen (Schuldner-) und reichen (Gläubiger-)Staaten hat sich seit 1945 nicht verringert. 65 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Kriegen und den Folgen des Klimawandels, Hunger droht in weiten Teilen Afrikas. Und je mehr Staaten sich atomar bewaffnen, desto größer wird das Risiko des Umschlags „konventioneller“ Kriege in Massenvernichtungs-Kriege.

Wie ist die „Renaissance“ rechter und reaktionärer Bewegungen zu erklären?

Die Erinnerung an den Faschismus und seine Untaten wurde selbst in dessen vormaligen Zentren durch „Beschweigen“ nachhaltig gedämpft und verblasst allmählich. Die auf die Überwindung kapitalistischer Strukturen gerichteten, sozialistischen Revolutionen wurden entweder militärisch niedergeschlagen oder „entgleisten“. Sowohl im stalinistischen Russland als auch im maoistischen China und in deren Satelliten (Kambodscha, Nordkorea) wurden der Modernisierung der Landwirtschaft und der nachholenden Industrialisierung Hekatomben von Menschenleben geopfert. Die „westlich“ und „säkular“ orientierten, als „sozialistisch“ firmierenden Revolten und Guerilla-Kriege sind allesamt gescheitert. Darum richten sich die illusionären Hoffnungen vieler Millionen Menschen, die im vergangenen Jahrhundert noch dem „Sowjet-Mythos“ anhingen (und den „Archipel GULag“ nicht sehen wollten), nicht aufs Diesseits, sondern, aller partiellen „Modernisierung“ zum Trotz, noch einmal aufs Jenseits. „Djihad“ und „Kalifat“ sind die terroristischen „Erben“ der säkular und progressiv gerichteten, antiimperialistischen Bewegungen von gestern und vorgestern. Und nachdem die Internationalisierung sowohl in ihrer stalinistischen Variante als auch in ihrer aktuellen finanzkapitalistischen Gestalt sich für die ökonomisch schwächeren „Satelliten“ als nachteilig erwiesen hat, ist der nostalgische Rückzug hinter geschlossene Grenzen und in Autarkieträume nicht verwunderlich.

Was bedeutet eigentlich „Populismus“?

Die Französische Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts konnte das feudale Grundeigentum abschaffen, weil die Jakobiner sich mit dem „Volk“ (dem städtischen Bürgertum und den Plebejern) verbündeten. Die Russische Revolution widerstand (vor 100 Jahren) den konterrevolutionären „weißen“ Armeen und den imperialistischen Interventionstruppen, weil die Bolschewisten der bäuerlichen Mehrheit Land und Frieden versprachen und Fabriken und Banken unter Kontrolle ihres revolutionären Regimes stellten. Das prekäre französische Bündnis war nur von kurzer Dauer, das russische währte etwa ein Jahrzehnt. Der heutige „Populismus“ wendet sich gegen die Parteiendemokratie und hofft, sie durch eine plebiszitär gestützte, „bonapartistische“ Diktatur abzulösen. Er macht sich die „Tendenz zum starken Staat“ zunutze, die ja irgendwann in die Suche nach dem „starken Mann“ (oder auch nach der „starken Frau“) mündet. Die „Populisten“ surfen auf der Welle aufgestauter Ressentiments gegenüber der rapide fortschreitenden Modernisierung, die gegenwärtig wieder einmal Mehrheiten verunsichert und überfordert.[1] Sie wollen zurück in eine als besser imaginierte (völkische) Vergangenheit. Dies (wohlbekannte) Programm ist tendenziell eines der Repression und des Krieges.

Ist die Linke schuld am Rechtsruck?

Die verbliebene Minorität der revolutionären Linken hat noch immer mit dem Desaster der gescheiterten Revolutionen zu kämpfen. Das Erbe der beiden menschenverschlingenden totalitären Regime des vorigen Jahrhunderts ist eine nachhaltige Lähmung der „Spontaneität der Massen“, auf die sich die alte Arbeiterbewegung noch verlassen konnte. Solange linke Parteien und Gruppen das nicht realisieren, ist ihre Lage aussichtslos, weil sie ins Leere reden. Die Überbleibsel der reformistischen Linken sind durch die prokapitalistische Politik der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien in West- und Süd-Europa seit dem Ende des zweiten Weltkriegs gründlich diskreditiert. Das bezeugt der lautlose Untergang von KPI und KPF oder – aktuell – derjenige der französischen PS (der Nachfolgerin der 1905 gegründeten SFIO). Die Versuche der KPD, 1923 mit der nationalistischen Rechten anzubändeln („Schlageter-Kurs“) und 1931 den Nazis durch nationalkommunistische Losungen (wie „Volksrevolution“ und „nationale Befreiung“) den Rang abzulaufen, sind ebenso kläglich gescheitert wie die einige Jahre später von der stalinisierten Komintern propagierten „Volksfronten“.

Sind die geplanten Protestaktionen gegen den Hamburger G20-Gipfel sinnvoll?

Der Hamburger „Gipfel“ ist eine gute Gelegenheit für die antikapitalistischen Gruppen, ihre Existenz und ihr Programm öffentlich sichtbar zu machen. Sie sollten die Leute vom „Schwarzen Block“ daran hindern, es Polizei, Presse und Fernsehen noch einmal zu ermöglichen, die Linke als einen verlorenen Haufen von Hooligans und Steinewerfern hinzustellen.

Wo steht die Linke?

Ein Jahrhundert nach der russischen Oktober- und der deutschen Novemberrevolution steht die Linke wieder am Anfang. Sie muss, belehrt durch ihre lange, blutige Niederlagen-Geschichte, die überfällige Ablösung der kapitalistischen Weltwirtschaft auf dem heutigen Niveau noch einmal neu denken.[2] Dabei kommt den kleinen Gruppen besondere Bedeutung zu, die die Erinnerung daran bewahren, worum es den Pariser Kommunarden (1871), den russischen Revolutionären von 1905 und 1917, den deutschen Spartakisten, den spanischen Revolutionären von 1936 und den ungarischen von 1956 eigentlich ging…


Fußnoten:

[1] Vgl. dazu den kürzlich von Jürgen Falter veröffentlichten aufschlussreichen Vergleich von NSDAP und AfD: Falter (2017): „Volkspartei des Protests.“ Frankfurter Allgemeine, 19. 6. 12017, S. 8.

[2] Vgl. dazu den Bericht von Sarah Leonhard über die jugendlichen Anhänger von Jeremy Corbin und Bernie Sanders: Leonhard (2017): „Why young voters love old socialists.“ The New York Times, International Edition; 20. 6. 2017, S. 15.

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