Der Sommer der Extreme und was wir daraus lernen können

Da half auch die Feuerwehr nicht – der kanadische Ort Lytton fiel den Flammen während der Hitzewelle zum Opfer (Symbolbild) Foto: Rob Swystun, Fire, CC BY 2.0

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Klimakrise

Der Sommer der Extreme und was wir daraus lernen können

Von John Molyneux | 10.08.2021

Der aktuelle Sommer ist weltweit geprägt von extremen Wetterereignissen und Hitzerekorden. Gegen diese fortschreitende Klimakrise muss endlich wirksam etwas getan werden, fordert unser Autor und blickt schon auf ein wichtiges Ereignis im November.

Die extremen Wetterereignisse dieses Sommers deuten darauf hin, dass ein großer Umschwung des Klimawandels stattgefunden hat und noch andauert, während ich diese Zeilen schreibe.

Zuerst kam die außergewöhnliche Hitzewelle, die den Westen Nordamerikas von Ende Juni bis Mitte Juli heimgesucht hat ‒ oder zumindest kam sie in der Berichterstattung der Mainstream-Medien zuerst vor. Sie erfasste Nordkalifornien, Idaho, West-Nevada, Oregon und Washington in den USA sowie Britisch-Kolumbien, Alberta, die Nordwest-Territorien, Saskatchewan und Yukon in Kanada. Sie führte zu einigen der höchsten Temperaturen, die in der gesamten Region jemals gemessen worden sind, und zu der höchsten Temperatur, die in Kanada jemals gemessen worden ist ‒ mit erstaunlichen 49,6 Grad Celsius (während Kanada normalerweise eines der kühlsten Länder der Welt ist).

Die extreme Hitze löste unweigerlich zahlreiche ausgedehnte Waldbrände aus, von denen einige eine Fläche von Hunderten von Quadratkilometern erreichten, ein Waldbrand zerstörte das Dorf Lytton, in dem die Rekordtemperatur gemessen wurde.[1] Die Hitze und die Brände verursachten unabsehbare Schäden an den Ernten, mit weitreichenden wirtschaftlichen Folgen, und forderten zahlreiche Menschenleben, wobei die Zahl der Todesopfer auf weit über 600 geschätzt wird.

Ab dem 12. Juli kam es dann zu massiven Überschwemmungen in Europa. Die Überschwemmungen begannen anscheinend im Vereinigten Königreich, breiteten sich dann aber mit zunehmender Intensität über Nord- und Mitteleuropa nach Osten aus. Am stärksten betroffen waren Deutschland mit mindestens 177 Toten und Belgien mit über 40 Toten. Die Gesamtzahl der Todesopfer wird auf 217 geschätzt. Die Schäden an der Infrastruktur belaufen sich auf mindestens 2,55 Milliarden Euro, wahrscheinlich sogar noch höher.

Beide Entwicklungen haben dazu geführt, dass so genannte „Expert:innen“, die üblicherweise mit ihren Äußerungen, wonach einzelne extreme Wetterereignisse nicht mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden können, zitiert werden, ihre Meinung geändert haben, bzw. dass die Medien gezwungen waren, ihre Meinung zu ändern, und sagten, dass diese Ereignisse ohne den vom Menschen verursachten Klimawandel „nahezu unmöglich“ gewesen wären. Der geschäftsführende Direktor von RTE News (Raidió Teilifís Éireann ist die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft in der Republik Irland) hat sich sogar dafür entschuldigt, dass der Sender extreme Wetterereignisse nicht mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht hat.

Aber diese Ereignisse sind bei weitem noch nicht die ganze Geschichte. In vielen Gegenden von China kam es auch zu großen Überschwemmungen. Aufgrund der staatlichen Zensur können wir uns kein vollständiges Bild vom Ausmaß machen, aber es gibt einige Beispiele: In Guizhou führten die Überschwemmungen zur Evakuierung von 26.000 Menschen und zur Beschädigung von 19.000 Häusern; in Sichuan waren 120.000 Menschen betroffen; in Shaanxi mussten 58.000 Menschen evakuiert werden; in der Inneren Mongolei führten außergewöhnliche Regenfälle zum Einsturz von zwei Dämmen, dadurch wurden Brücken und Ackerland zerstört; am schlimmsten war die Provinz Henan dran. In Henan führten rekordverdächtige Regenfälle, darunter 7,9 Zoll [ca. 200 mm] pro Stunde in der Provinzhauptstadt Zhengzhou, zu verheerenden Überschwemmungen, wegen denen mindestens 99 Menschen starben, 1,1 Millionen evakuiert wurden und von denen 9 Millionen Menschen betroffen waren.[2] Gleichzeitig (am 27. Juli) verursachten außergewöhnlich starke Regenfälle im westindischen Bundesstaat Maharashtra beträchtliche Überschwemmungen, die mehr als 200 Menschenleben forderten, und auf den Philippinen mussten Tausende von Menschen wegen sintflutartiger Regenfälle evakuiert werden.

Anfang dieses Monats meldete Memet Uludağ, Mitglied der [irischen sozialistischen Partei] People Before Profit (PBP), eine Temperatur von 51 Grad Celsius im Südosten der Türkei, und jetzt wird die Türkei von Bränden heimgesucht, die vier Menschenleben gefordert haben. Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich mir die Wettervorhersage für Bagdad angeschaut: 47/48 °C die ganze nächste Woche. Der springende Punkt bei diesen Temperaturen ist, dass sie nicht weit von der Grenze entfernt sind, die der menschliche Körper über längere Zeit ertragen kann, und Klimawissenschaftler:innen sagen voraus, dass es in den nächsten Jahren noch mehr solche extreme Hitzeepisoden geben wird.[3]

Die Hitzewelle in Nordrussland und Ostsibirien war weit weniger katastrophal, was die unmittelbaren Auswirkungen auf das menschliche Leben angeht (weil es sich um ein so dünn besiedeltes Gebiet handelt), aber in mancher Hinsicht noch außergewöhnlicher. Im Mai und Juni 2021 lagen die Temperaturen am Polarkreis über 30 °C, und in Moskau wurde im Juni die bisher höchste Temperatur gemessen: 34,8 °C. Das sind 20 Grad über dem Durchschnitt. An den Küsten der Barentssee, die oberhalb von Murmansk am Polarkreis liegt, herrschten mehrere Tage lang mit bis zu 30 °C heißere Temperaturen als an den Stränden von Italien und Südfrankreich. Eine weitere Hitzewelle hat das Gebiet der Laptewsee getroffen, das ebenfalls innerhalb des Polarkreises, oberhalb Sibiriens liegt, aber weiter östlich. Diese folgt auf die erstaunliche sibirische Hitzewelle von 2020, bei der in [der fernöstlichen russischen Kleinstadt] Werchojansk (nordöstlich von dem sibirischen Fluss Lena gelegen) rekordverdächtige 38 °C gemessen wurden und die zu großflächigen Waldbränden führte.[4] Was dies für die Zukunft so gefährlich macht, ist das bereits begonnene Auftauen der Permafrostböden, dadurch gelangen Milliarden Tonnen Methan, ein noch tödlicheres Treibhausgas als Kohlendioxid, in die Atmosphäre, und dadurch entsteht eine massive Rückkopplungsschleife.

Am 14. Juli wurde berichtet, dass sich der Amazonas-Regenwald, der als Lunge des Planeten bekannt ist, von einem Kohlenstoffspeicher (der Kohlendioxid aus der Luft absorbiert) in einen Kohlenstoff­emittenten verwandelt hat. Laut einer aktuellen Studie belaufen sich die Emissionen auf eine Milliarde Tonnen Kohlendioxid pro Jahr. Der größte Teil der Emissionen wird durch Brände verursacht, von denen viele absichtlich gelegt werden, um Land für die Rindfleisch- und Sojaproduktion zu roden. Aber auch ohne Brände bedeuten heißere Temperaturen und Dürreperioden, dass der südöstliche Amazonas zu einer CO2-Quelle geworden und kein Speicher mehr ist.

Schon vor diesen jüngsten Entwicklungen haben einige Biowissenschaftler:innen der Oregon State University spekuliert, der Planet könnte die wichtigsten Kipppunkte bereits überschritten haben.[5] Das mag verfrüht sein, aber es hat den Anschein, als hätten die jüngsten Ereignisse das öffentliche Bewusstsein für die Krise deutlich verändert. Dieses Bewusstsein muss in Taten umgesetzt und zu einem tieferen Verständnis für die Ursachen der Krise in der Natur des kapitalistischen Systems entwickelt werden.

Daraus ergeben sich mehrere politische Schlussfolgerungen:

  1. Die große Mehrheit der Politiker:innen, Regierungen, Führungskräfte in der Wirtschaft und Herrscher:innen der Welt macht sich der Komplizenschaft schuldig, indem sie zulassen, dass die Klimakrise dermaßen weit fortschreitet, ohne dass sie ernsthaft versuchen würden, sie aufzuhalten. Es ist nicht so, dass sie es nicht gewusst hätten. Die wissenschaftlichen Fakten und ihre unvermeidlichen sozialen Folgen sind seit Jahrzehnten bekannt, doch unsere Regierenden haben Jahr für Jahr Ausflüchte gemacht oder die Augen verschlossen. Sie haben ein großes Verbrechen gegen die Menschheit begangen.
  2. Sie haben so gehandelt, weil sie ihre Karrieren und ihre Gier rücksichtslos über die große Mehrheit der Menschen und der Tierwelt des Planeten stellen und weil sie sich im schraubstockartigen Griff der Logik des Kapitalismus befinden, die dem Profit und der wettbewerbsorientierten Kapitalakkumulation stets Vorrang vor den menschlichen Bedürfnissen einräumt. Aus diesem Grund ist der „system change“ überlebenswichtig.
  3. Systemwandel bedeutet nicht bloß einen Bewusstseinswandel auf Seiten der Regierungen, der Unternehmen oder der Bevölkerung. Er bedeutet eine Umgestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse, so dass die Produktion unter kollektive demokratische Kontrolle gestellt und einer bewussten Planung unterzogen wird. Das bedeutet eine Revolution, die auf der Macht des Volkes beruht ‒ durch Massenaktivitäten der Mehrzahl der Arbeitenden auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen.
  4. Eine wichtige Gelegenheit, einen Schritt in diese Richtung zu tun, einen Schritt in Richtung der internationalen Massenmobilisierung, die wir brauchen werden, bietet die von den Vereinten Nationen gesponserte internationale COP26-Klimakonferenz, die vom 1. bis 12. November in Glasgow stattfindet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass von dieser Konferenz ernsthafte Maßnahmen ausgehen werden. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie eine riesige Übung in „Greenwashing“ sein wird. Diese Konferenz kann jedoch genutzt werden, um Aktivitäten zu fokussieren. Für Samstag, den 6. November, sind Proteste auf den Straßen von Glasgow und weltweit geplant, und Freitag, der 5. November, soll ein Tag mit Klimastreiks werden, angefangen bei den Schüler:innen. Ökosozialist:innen und Umweltaktivist:innen sollten sich überall auf größtmögliche Mobilisierungen vorbereiten.

Aus dem Englischen übersetzt von Wilfried Dubois

Quelle: http://www.globalecosocialistnetwork.net/2021/07/30/climate-change-a-major-shift/

John Molyneux ist ein sozialistischer Publizist und Aktivist, der in Dublin lebt. Er ist Redakteur der Irish Marxist Review, Mitglied von People Before Profit (PBP) und des Socialist Workers Network (SWN) sowie Koordinator des Global Ecosocialist Network (GEN).
Sein Artikel „Climate Change – a Major Shift“ ist am 30. Juli 2021 auf der Website des GEN veröffentlicht worden.

[1] [Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Lytton,_British_Columbia#2021_wildfire_and_destruction (Anm. d. Übers.).]

[2] [Zu den schweren Unwettern und der Hochwasserkatastrophe in der zentralchinesischen Provinz Henan siehe https://en.wikipedia.org/wiki/2021_Henan_floods; https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasser_in_Henan_2021 (Anm. d. Übers.)]

[3] Siehe Ayesha Tandon, „Climate crisis deepens: More ,record-shatteringʻ heat events are on the way“, Climate & Capitalism, 26. Juli 2021, https://climateandcapitalism.com/2021/07/26/more-record-shattering-heat-events-are-on-the-way/

[4] [Für Einzelheiten siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Hitzewelle_in_Sibirien_2020 mit einigen Weblinks (Anm. d. Übers.)]

[5] Siehe William J. Ripple et al., „World Scientists’ Warning of a Climate Emergency 2021“, BioScience, 28. Juli 2021, https://academic.oup.com/bioscience/advance-article/doi/10.1093/biosci/biab079/632573.

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