Zur Konstitution des bürgerlichen Staates

Foto: Itmostt, Paris 2019, CC BY 2.0

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Grundsatztexte

Zur Konstitution des bürgerlichen Staates

Von Jakob Schäfer | 30.10.2020

Auch wenn wir heute keine Staatskrise haben: Nicht nur die Corona-Proteste lassen es sinnvoll erscheinen, einige Grundsatzfragen zur Rolle des Staates neu zu erörtern.

Jakob Schäfer

In der Gewerkschaftspolitik wie bei Fragen der Wahlbeteiligung, bei Fragen der Besetzung staatlicher Ämter (auch auf kommunaler Ebene) wie bei der Grundausrichtung eines sozialistischen Programms ist ein korrektes Verständnis des bürgerlichen Staates von zentraler Bedeutung.

Der Staat als eine Folge gesellschaftlicher Arbeitsteilung

Unabhängig von den konkreten Funktionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen weist der Staat zwei zentrale Gemeinsamkeiten auf: Er entsteht (a) im Zusammenhang mit der Entfaltung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und (b) mit der Herausbildung von Klassen. Ernest Mandel schreibt dazu: „Zu einer bestimmten Zeit der Entwicklung menschlicher Gesellschaft, bevor sie sich nämlich in Klassen aufspaltete, wurden bestimmte Funktionen wie das Recht, Waffen zu tragen oder Recht zu sprechen, von allen erwachsenen Mitgliedern der Gemeinschaft kollektiv ausgeübt. Erst im Rahmen der späteren Entwicklung und in dem Maß, wie sich die Gesellschaft in Klassen aufspaltete, wurden diese Kompetenzen dem Kollektiv entzogen und einer Minderheit vorbehalten, die sie auf besondere Art nutzt.“[1]

Laut Friedrich Engels ist der Staat „ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangen, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“[2] Und weiter: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“[3]

Über diese allgemeine Bestimmung hinaus weist der „moderne Staat“, wie er sich in den letzten 400 Jahren in (West)europa herausgebildet hat[4], gewisse Züge auf, die es näher zu betrachten gilt. Dabei sollten wir festhalten: Genauso wie in früheren Gesellschaftsepochen ist auch der Staat im Kapitalismus nicht einfach von der herrschenden Klasse installiert worden. Zweitens leitet er sich in seiner konkreten Form auch nicht logisch aus dieser oder jener Kapitalentwicklung ab. Er ist aufgrund seiner komplexen Geschichte ‒ und von Land zu Land unterschiedlich ‒ ein Ergebnis konkreter Auseinandersetzungen des Bürgertums (und später auch anderer Klassen) mit den herrschenden Kräften der vorangegangen Gesellschaftsformation (vor allem dem Feudaladel). Darauf weisen z. B. Poulantzas und mehr noch Hirsch hin. Methodisch hat dies auch Ernest Mandel in seinen diversen Schriften hervorgehoben und auch mit konkreten Analysen untermauert.[5]

In der feudalen Gesellschaftsordnung genügte es ‒ zumindest genügte das den Herrschenden ‒, die einfache Reproduktion sicherzustellen. Das Besondre nun am bürgerlichen Staat ‒ am Staat im Kapitalismus ‒ ergibt sich aus der spezifischen Produktionsweise. Marx hat dies schon im I. Band des Kapitals ausreichend klar gemacht hat: Im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformationen (Gesellschaftsordnungen mit jeweils eigener Produktionsweise) kommt es im Kapitalismus darauf an, dass eine erweiterte Reproduktion stattfindet und fortlaufend gesichert wird. Erweitert reproduziert wird allerdings nur das Kapital, nicht unbedingt die Gesamtheit der gesellschaftlichen Produktionsmittel.[6] Denn: Die Konkurrenz der Kapitale (Kapitalismus ohne Konkurrenz kann es nicht geben) zwingt zur ständigen Akkumulation. Das Kapital, das nicht erweitert reproduziert wird (das also nicht akkumuliert wird, um bei der nächsten technologischen Entwicklung mithalten zu können), ist dem Untergang geweiht.[7] Deswegen ist das Prinzip des „Immer-Mehr“ dem Kapitalismus inhärent und kann nicht mit bürgerlicher Politik (also im Rahmen der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) ausgehebelt werden.[8]

Autonomie des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft

Marx hat seine Staatstheorie nicht im Detail ausgearbeitet, ein dazu geplantes Werk wurde nicht mehr realisiert, aber seine Hinweise sind hilfreich: „Er [der Staat] verhält sich als ‚höhere Macht‘ zu ihren [der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft] ‚Gesetzen und Interessen‘. Ihr ‚Interesse‘ und ‚Gesetz‘ verhalten sich als ein ‚Untergeordneter‘. Sie leben in der Abhängigkeit von ihm. Eben weil ‚Unterordnung’ und ‚Unabhängigkeit‘ äußere, das selbständige Wesen einengende und ihm zuwiderlaufende Verhältnisse sind, ist das Verhältnis der ‚Familie‘ und der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ zum Staate das der ‚äußerlichen Notwendigkeit‘, eine Notwendigkeit, die gegen das innere Wesen der Sache geht.“[9]

Für die kapitalistische Entwicklung reicht es nicht, dass die Instanz „Staat“ von den unmittelbaren ökonomischen Privatinteressen unabhängig bleibt. Selbst die Unabhängigkeit von den spezifischen Interessen großer Teile der kapitalistischen Klasse reicht nicht aus. Mehr als in den vorangegangenen Gesellschaftsordnungen verfügt der bürgerliche Staat über eine relative Autonomie, das heißt über ein gewisses Maß an Unabhängigkeit auch gegenüber den ökonomisch Herrschenden.

Mandel zitiert Elmar Altvater: „Das Kapital kann somit von sich aus in seinen Aktionen die Gesellschaftlichkeit seiner Existenz gar nicht produzieren; es bedarf auf seiner Grundlage einer besonderen Einrichtung, die seinen Grenzen nicht unterworfen ist, deren Handeln also nicht von der Notwendigkeit der [eigenen] Mehrwertproduktion bestimmt ist und die gleichzeitig auf der unangetasteten Grundlage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das Kapital vernachlässigt. […] Der Staat kann also weder als bloß politisches Instrument noch als vom Kapital aufgehobene Institution begriffen werden, sondern nur als besondere Form der Durchsetzung der gesellschaftlichen Existenz des Kapitals neben und außerhalb der Konkurrenz.“[10]

Die formale Rechtsgleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer voll entfalteten Warenwirtschaft ‒ einschließlich des scheinbar gleichwertigen Tauschs von Arbeit gegen Lohn[11] ‒ ist die Grundlage für den Waren-, aber auch für den Staatsfetischismus.[12] Die institutionelle Basis für die relative Autonomie des Staates liegt in der Vielfältigkeit seiner Aufgaben und dem Ausmaß seiner Apparate, die infolgedessen ein gewisses „Eigenleben“ entwickeln.[13]

Die materielle Basis des Staates sind die Steuern, ohne sie kein kapitalistischer Staat! Und ohne Repressionsinstrumente (Armee, Polizei, Justiz, Strafvollzug) ist alles andere Schall und Rauch. Der Staat erfüllt allerdings seinen Zweck dann am besten, wenn er wenig Repression einsetzen muss, denn diese hat letztlich Reibungsverluste zur Folge. Gramsci beschreibt dies so: „Die normale Ausübung von Hegemonie zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr über den Konsens überwiegt.“

Grundlegend für die Machtausübung und Sicherung ist zunächst die Verfügungsgewalt über bestimmtes Wissen. „Die bürokratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr spezifisch rationaler Grundcharakter. Über die durch das Fachwissen bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr, der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch das Dienst-wissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder ‚aktenkundigen‘ Tatsachenkenntnisse. Der nicht nur, aber allerdings spezifisch bureaukratische Begriff des ‚Amtsgeheimnisses‘ – in seiner Beziehung zum Fachwissen etwa den kommerziellen Betriebsgeheimnissen gegenüber den technischen vergleichbar – entstammt diesem Machtstreben. Überlegen ist der Bureaukratie an Wissen: Fachwissen und Tatsachenkenntnis, innerhalb seines Interessenbereichs, regelmäßig nur: der private Erwerbsinteressent. Also: der kapitalistische Unternehmer. Er ist die einzige wirklich gegen die Unentrinnbarkeit der bureaukratischen rationalen Wissens-Herrschaft (mindestens: relativ) immune Instanz. Alle andern sind in Massenverbänden der bureaukratischen Beherrschung unentrinnbar verfallen, genau wie der Herrschaft der sachlichen Präzisionsmaschine in der Massengüterbeschaffung.“[14]

Althusser, Poulantzas und andere knüpfen daran an, aber Poulantzas macht einen entscheidenden Fehler (in gewisser Weise bei Althusser, seinem Lehrer, schon angelegt): Poulantzas führt diese Ebene des Machterhalts und der Machtausdehnung des Staates auf die Trennung von Kopf- und Handarbeit zurück und sieht darin die Kernursache für die Entstehung bzw. Fortexistenz und Weiterentwicklung des Staates.[15]

Wenn man die spezifisch für die (Staats)bürokratie nützliche Wissensanhäufung nicht auseichend konkretisiert und stattdessen alle Arbeitsteilung unter die Trennung von Hand- und Kopfarbeit subsumiert, dann kann man neuere Entwicklungen ‒ erst recht die der „Wissensgesellschaft“ ‒ überhaupt nicht mehr erklären. Schließlich ist es so ‒ und auch in den 1970er Jahren, als Poulantzas seine Bücher schrieb, schon gut erkennbar ‒, dass es gerade nicht eine fortschreitende Trennung von Hand- und Kopfarbeit gibt. Neuere technologische Entwicklungen ‒ schon im Fordismus! ‒ wären auf diese Weise nie möglich gewesen. Es fand schon im Fordismus eine wachsende Reintegration der Kopfarbeit in den Produktionsprozess statt. Erst recht ist der Postfordismus zu einem erheblichen Teil auch eine Wissensgesellschaft, was allein schon daran ersichtlich ist, dass der Staat heute in zunehmendem Maß z. B. auf digitale Kompetenzen von Privatfirmen und der dort arbeitenden Menschen angewiesen ist.

Zudem kann der Staat nicht nur als Verdichtung von Kräfteverhältnissen angesehen werden, sondern muss vor allem von seinen Grundfunktionen ausgehend begriffen werden. Ohne eine solche Staatsableitung hängt die Darstellung der „relativen Autonomie“ völlig in der Luft. So ist beispielsweise die Begrenzung der Höchstarbeitszeit in England (Einführung des Zehn-Stunden-Gesetzes) ohne ein solches Verständnis nicht zu erklären. Dieses Gesetz diente der physischen Erhaltung der Arbeiter*innen und war gleichzeitig eine Vorkehrung gegen politisch nicht kontrollierbare Aufstände. So hat also der kapitalistische Staat in jeder seiner Phasen nicht eine abstrakte Funktion erfüllt, sondern jeweils das umgesetzt, was sowohl dem Eigeninteresse des Staatsapparats als auch dem Erhalt der kapitalistischen Produktionsweise (und damit der ökonomischen Macht des Kapitals) diente.

Aufgaben und Funktionsabsicherung des Staats

Ausgangspunkt einer korrekten Wesensbestimmung muss sein, dass wir den bürgerlichen Staatsapparat nicht als eine Ansammlung von Spitzenpolitikern oder Bürokraten (Spitzenbeamten des Staates) sehen, die vom Kapital ihre Order bekommen. Nichts wäre falscher als das!

Der bürgerliche Staat erfüllt dann – und nur dann optimal ‒ seine Funktion, wenn er bestmöglich für die Absicherung der kapitalistischen Produktionsweise sorgt. Ganz unmittelbar sorgt der bürgerliche Staat für die ökonomische, soziale und technische Infrastruktur. Dies reicht von der Sicherung der Geldwirtschaft bis dahin, dass der Staat notfalls eigene Wirtschaftsunternehmen gründet, um die ökonomische oder technische Infrastruktur für die gesamte kapitalistische Klasse zu verbessern. In Frankreich ist ‒ historisch bedingt ‒ diese Tätigkeit viel ausgeprägter als in der BRD. Vor allem säkulare Projekte fallen in der Regel dem Staat zu, also jene wirtschaftlichen Investitionen, die für das Einzelkapital nicht zu stemmen wären (bzw. zu wenig Profite abwerfen würden). Ein Extrembeispiel ist die Gründung der Reichswerke Hermann Göring im Faschismus (Juli 1937), um die Auslandsabhängigkeit bei Rohstoffen auf ein Minimum zu reduzieren.

Aber die Aufgaben reichen weiter: „Materielle Umverteilungen innerhalb und zwischen den Klassen sind ohne staatliche Gewalt nicht realisierbar und die Existenz von Staaten bleibt elementar für die Regulation der Klassenverhältnisse, für die Legitimation der herrschenden Verhältnisse und für die Gewährleistung  eines gewissen sozialen Zusammenhalts.“[16]

All dies muss auch von einem bestimmten Personal umgesetzt werden. Wie Mandel betont, ist es ein mechanischer Fehler, die bürgerliche Klasse auf die „fungierenden Kapitalisten“ zu reduzieren. Sämtliche Kapitalbesitzer gehören zu dieser Klasse, also auch die Rentiers (Couponschneider), hoch bezahlte Manager usw. Eine wichtige „Nebenlinie“ der Bourgeoisie bilden die „Berufspolitiker“ und die oberen Ränge der Staatsbürokratie. Dieses „Nebenlinie“ wächst im Gleichklang mit der Hypertrophie des Staates. Diese Bürokratie identifiziert sich weitgehend mit dem Staat „an sich“ und dieser Identifizierung entspricht am genauesten die Ideologie des Gesamtinteresses der Gesellschaft.

Mandel: „Die hohen Einkünfte der Spitzen des Staatsapparates, ihr Zugang zu vertraulichen Informationen für einträgliche und gesicherte Spekulationen…sichert in quasi automatischer Weise die Einbindung (Integration) von Spitzenpolitikern und Spitzenbeamten in die bürgerliche Klasse, ungeachtet ihrer Herkunft, weil es ihnen Akkumulation von Geldkapital ermöglicht. Als Kapitaleigner sind sie dann an der Erhaltung des Grundbestands der bürgerlichen Ordnung interessiert.“[17]

„Diese Selektionsverfahren – die weniger auf direktem Ämterkauf, Nepotismus, Vererbung von Pfründen oder Belohnung von Diensten an Staatshäuptern beruhen, wie dies in vorkapitalistischen Staaten der Fall war – fußen in beträchtlichem Ausmaß auf Leistungszwang und Konkurrenz, die selbstverständlich nicht von der in der kapitalistischen Produktionsweise wurzelnden Konkurrenz und Leistungszwang in der materiellen Produktion willkürlich getrennt werden können. Wichtig jedoch ist es zu unterstreichen, dass sich in diesem Selektionsprozess Verhaltensweisen und Denkformen durchsetzen müssen, die erfolgreiche bürgerliche Politiker und hohe Beamte objektiv zu Instrumenten der Klassenherrschaft des Bürgertums gestalten, unabhängig von ihrer persönlichen Motivierung oder ihrem subjektiven Selbstverständnis.“[18] Nur wer also den Klasseninteressen des Kapitals entspricht, kann entsprechend aufsteigen. Dies nicht erkannt zu haben, ist ein wesentlicher Schwachpunkt aller Reformist*innen.

Mandel schreibt: „Aber nicht nur der hierarchische Aufbau bestimmt die Rolle des bürgerlichen Staates als Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Klasse. Seine Struktur selbst ist das hier entscheidende Moment, welches bewirkt, daß dieser Staat – auch in seiner demokratischsten Form – diese Rolle und nur diese Rolle spielen kann.“ Und als Fußnote fügt er hinzu: „Unkenntnis des Strukturcharakters des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist der Hauptfehler aller Reformisten und Neo-Reformisten, inkl. jener mit den ‚besten Absichten‘: der Befürworter ‚systemüberwindender‘ Reformen und der Anhänger des Konzepts des ‚anti-monopolistischen‘ Bündnisses“.[19] „Den bürgerlichen Staatsapparat zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft benutzen zu wollen, unterscheidet sich nicht von der Illusion, eine Armee mit Hilfe pazifistischer Generäle auflösen zu können.“[20]

„Bedenkt man überdies, wie stark die Vorherrschaft der allgemeinen Ideologie des Bürgertums auch im Proletariat in ‚ruhigen Zeiten‘ bleibt und bleiben muß; wie sehr mehrere ‚Grundmythen‘ als selbstverständlich gelten, gerade weil sie nichts anderes sind als ein ideologischer Reflex der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, dann versteht man, welche gewaltige integrierende Kraft von der bürgerlichen Staatsform ausgeht ‒ eine Kraft, die nicht zuletzt führende Kader von Arbeitermassenparteien und Massengewerkschaften über die Symbiose mit dem Staatsapparat in zahlreichen konzertierenden Gremien zu systemkonformem Verhalten, wenn nicht sogar zu praktischer Aussöhnung mit dem Spätkapitalismus verleitet.“[21]

Im vorimperialistischen Stadium des Kapitalismus war der Staat vergleichsweise schwach. Der Hauptunterschied zur vorangegangenen Gesellschaftsordnung lag seinerzeit darin, dass die herrschende Klasse weniger direkte Gewalt zur Durchsetzung der unmittelbaren Zwangs- und Knechtschaftsverhältnisse benötigte.

In dem Maße, wie sich allerdings die Klassenkämpfe verschärften (also die ideologische Integration nicht mehr ausreichend für Klassenruhe sorgen konnte), wuchs die Macht des bürgerlichen Staates, und zwar sowohl in seiner unmittelbar ökonomischen Rolle wie auch beim Einsatz vermehrter Repression. Dabei findet ein bedeutsamer Ausbau des eigentlichen Staatsapparats statt, der für eine eigene „interne“ Kontinuität sorgt. Will heißen: Die offizielle Staatsspitze kann (seit Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in wachsendem Maß) relativ problemlos ausgetauscht werden, ohne dass damit der ganze Funktionszusammenhang oder die Aufgabenbestimmung des Gesamtapparates gefährdet wird. Mehr und mehr entwickelt dieser Apparat eine sehr funktionsfähige Infrastruktur, deren wichtiges Personal der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist. In den letzten Jahrzehnten wurde dies in einigen Ländern (am besten bekannt für den Fall der Türkei) noch durch eine Entwicklung des „tiefen Staates“ ergänzt, also einer konspirativen Verflechtung von Geheimdiensten, Militär und Teilen des traditionellen engeren Staatsapparats.[22]

Wir sollten festhalten ‒ auch Poulantzas hat dies zu Recht betont –, dass es keine unaufhaltsame lineare Tendenz in Richtung autoritärer oder gar faschistischer Staat gibt. Die Behauptung von einer allgemeinen „Faschisierung“ des Staates ist purer Unsinn, weil dies nicht die wechselnden Kräfteverhältnisse und die daraus sich für die Bourgeoisie ergebenden Konsequenzen wahrnimmt. Georg („Schorsch“) Jungclas schreibt dazu: „Die Bourgeoise übt ihre Herrschaft jeweils in der Form aus, die vom Standpunkt ihrer Klasseninteressen die zweckentsprechendste ist.“[23] Zur Bevorzugung dieser oder jener Form des bürgerlichen Staates (parlamentarische Demokratie, Bonapartismus, Militärdiktatur, Faschismus) gelangt die Bourgeoisie natürlich nicht mittels weisen Beschlusses eines Rates aller Kapitalist*innen. Gerade aufgrund der relativen Autonomie des Staates kann es zu sehr zähem Ringen und Kräftemessen kommen. So hat sich in Frankreich nach den revolutionären Unruhen von 1848 erst im Verlauf von mehr als anderthalb Jahren der Bonapartismus durchgesetzt.[24]

Veränderungen der konkreten Staatsaufgaben im Spätkapitalismus

Im Kapitalismus haben wir einen scheinbar widersprüchlichen Prozess, der aber bei genauerem Hinsehen keine wirklichen Verständnisprobleme bereitet. Auf der einen Seite entwickelt der bürgerliche Staat mit dem Entstehen des Imperialismus eine zunehmend aktive Rolle zur Sicherung der unmittelbaren Profitinteressen des heimischen Kapitals (mit der Entwicklung des „Wettbewerbsstaates“ steigert sich dies sogar qualitativ[25]). Auf der anderen Seite verstärkt der Staat mit der Zunahme weiterer konkreter Funktionen und dem Ausbau seiner Apparate die relative Autonomie des Staates gegenüber den unmittelbaren Wirtschaftsinteressen dieser oder jener Kapitalfraktion. Da dieser Ausbau des Staates automatisch mit einer Stärkung der materiellen und politischen Interessen der Staatsagenten einhergeht, sind nicht wenige Menschen davon überzeugt, dass der Staat ein klassenunabhängiges Gebilde ist, das gerade nicht den eingangs zitierten Aussagen von Engels entspricht.

Im Postfordismus kommt es zu einem gewaltigen Ausbau der internationalen Wertschöpfungsketten. Foster/Suwandi schreiben: „Die Covid-19-Pandemie mit ihren Lockdowns und den Maßnahmen sozialer Distanzierung ist ‚die erste globale Lieferkettenkrise‘ (Stefano Feltri, Why Coronavirus Triggered the First Global Supply Chain Crisis‘ in Pro-Market, 5. März 2020). Sie hat zu ökonomischen Wertverlusten, enormer Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, dem Zusammenbruch von Firmen, weit verbreitetem Hunger und anderen Entbehrungen geführt.“[26] Die Autoren schreiben weiter (und zitieren dabei Elisabeth Braw[27]), dass beispielsweise Volkswagen „ ‚5000 direkte Zulieferer hat, die alle noch einmal im Durchschnitt 250 Zulieferer der zweiten Ebene besitzen. Dies bedeutet, dass die Firma tatsächlich 1,25 Millionen Zulieferer hat, von denen sie [eine multinationale Firma] die große Mehrheit nicht kennt.‘ Zulieferer der dritten Ebene sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.“[28]   

Die qualitativ gesteigerte Verflechtung der Weltwirtschaft – bedeutend mehr Welthandel sowie gewaltig ausgedehnte Lieferketten ‒ hat weitreichende Folgen für die konkreten Aufgaben des Staates. Der in diesem Prozess sich entwickelnde Wettbewerbsstaat erfordert von den Staatsapparaten andere Mittel, als es sie noch im Fordismus gab, u. a. auch und gerade die verstärkten internationalen Aktivitäten (WTO usw.), im Extremfall bis hin zu wieder mehr bewaffneten Interventionen. Die Staatsfunktionen nehmen also zu!

Natürlich ist ein Wettbewerbsstaat in aller Regel auch weiterhin ein Nationalstaat (die Fälle, in denen er mehrere Nationen abdeckt, sind hier mitgedacht) und somit auch als reiner Apparat schon darum bemüht, sich (national und international) zu behaupten. Die relative Autonomie wirkt fort, aber der Staat entwickelt kein von Klasseninteressen unabhängiges oder „neutrales“ Eigenleben.

Das nimmt im Wettbewerbsstaat sehr handfeste Formen an. Es gibt keinen bedeutsamen Staatsbesuch in China, Russland, Saudi-Arabien usw., bei dem nicht große „Wirtschaftsdelegationen“ mitreisen, denen die staatlichen Vertreter ‒ von Guttenberg (siehe Wirecard) bis Altmeier ‒ die Türen öffnen.

Die Konkurrenz der Standorte erleichtert es den Herrschenden ganz beträchtlich, den Druck auf die Lohnabhängigen (und andere unterdrückte Schichten) zu erhöhen. Gleichzeitig hilft diese Konkurrenz der Wettbewerbsstaaten, ein Nationalgefühl herzustellen oder zu festigen (Fetisch der „Volksgemeinschaft“). Die international agierenden Unternehmen brauchen aber auch staatliche Unterstützung bei der Absicherung ihrer Geschäfte. Nicht zuletzt die Herrschaft über die Peripherie wäre ohne die aktive Tätigkeit der imperialistischen Staaten nicht in dem heute vorhandenen Maß aufrechtzuerhalten. Hirsch: Das globale kapitalistische System ist ein „veränderliches Netzwerk gegensätzlicher und zugleich verbundener einzelstaatlicher, gegebenenfalls regionaler Akkumulations- und Regulationszusammenhänge.“[29]

Basis und Überbau

Gerade in der bürgerlichen Gesellschaft besteht der Staat aus sehr viel mehr als nur den Spitzen des Staatsapparats. Gramsci legte großen Wert darauf, hervorzuheben, dass in dem Gesamtgebilde, das den Menschen als Staat gegenübersteht, eine Reihe von „Institutionen“ mit zu betrachten sind: Medien, Kirche, Familie.[30] Für Gramsci sind letztlich auch Parteien, Verbände, Universitäten usw. Teil der „zivilen Gesellschaft“ und Bestandteile des regulativen Systems und damit Teil des Staates, also Teil der verdichteten Kräfteverhältnisse.

Für seine Funktionsabsicherung nutzt der Staat nicht zuletzt ideologische Staatsapparate. Diese Begrifflichkeit geht auf Althusser zurück[31] und wird von Poulantzas (teilweise abgewandelt) aufgegriffen. Im Grunde aber ist diese Erkenntnis nicht neu. Marx und Engels führen aus: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschend materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion.“[32] Kurz: Auch im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts wirkten diese Apparate, damals mit einer größeren Rolle der Kirche, aber ebenfalls schon mit der kapitalistisch erziehenden Rolle der Schule, der Medien usw.

Aus den Ausführungen zur eigenständigen Rolle des Staates leitet sich auch ab, dass die oft verwendete Charakterisierung des Staates als „Überbau“ ganz leicht zu Missverständnissen führen kann und deshalb tunlichst vermieden werden sollte. Gramsci schreibt dazu:

„Ökonomie und Ideologie. Die Behauptung, die wie ein grundlegendes Postulat des historischen Materialismus vorgebracht wird, daß jede Bewegung in der Politik und der Ideologie als ein unmittelbarer Ausdruck der Basis darzustellen und zu erklären ist, muß theoretisch als primitiver Infantilismus und praktisch mit dem authentischen Zeugnis von Karl Marx bekämpft werden, der konkrete historische und politische Werke verfaßt hat. […]

  1. Die Schwierigkeit, die Basis jeweils statisch (wie eine fotografische Momentaufnahme) zu erfassen. Die Politik ist in der Tat stets die Widerspiegelung der Entwicklungstendenzen der Basis, diese Tendenzen müssen aber nicht unbedingt zu ihrer vollen Entfaltung kommen. Eine Phase der Basis kann erst dann konkret studiert und analysiert werden, wenn sie ihren gesamten Entwicklungsprozeß durchlaufen hat, und nicht schon während des Prozesses selbst. In diesem Fall darf man nur eine Hypothese aufstellen, wobei man ausdrücklich betonen muß, daß es sich um eine Hypothese handelt.
  2. Daraus folgt, daß einer bestimmten politischen Handlung durchaus ein Kalkulationsfehler von Führern der herrschenden Klassen zugrunde gelegen haben kann, ein Fehler, den die historische Entwicklung im Zuge der parlamentarischen Regierungskrisen der herrschenden Klassen korrigiert und überwindet: Der mechanische historische Materialismus zieht die Möglichkeit des Irrtums überhaupt nicht in Betracht, sondern sieht jeden politischen Akt unmittelbar durch die Basis bestimmt, das heißt als eine Widerspiegelung einer realen und dauerhaften (erworbenen) Veränderung der Basis. Das Prinzip des „Irrtums” ist komplex: Er kann auf einem individuellen Impuls auf Grund falscher Einschätzung beruhen oder auch Ausdruck eines Versuchs bestimmter Gruppen und Grüppchen sein, die Vorherrschaft innerhalb der herrschenden Gruppierung an sich zu reißen; Versuche, die scheitern können.
  3. Es wird nicht genügend berücksichtigt, daß viele politische Handlungen durch eine innere Notwendigkeit der Organisation verursacht werden, das heißt, sie sind durch das Erfordernis bedingt, einer ‚Partei‘, einer Gruppe, einer Gesellschaft einen geschlossenen Charakter zu geben. Das zeigt sich zum Beispiel klar in der Geschichte der katholischen Kirche. Wenn man für jeden ideologischen Kampf innerhalb der Kirche die unmittelbare und ursprüngliche Erklärung in der Basis suchen wollte, würde man schön hereinfallen …“[33]

Zu den von Gramsci so bezeichneten „Kalkulationsfehlern“ will ich ein Beispiel geben, das mir schlagend erscheint: Hätten die entscheidenden staatlichen Stellen am 10. Mai 1968 nicht in Paris die Studierenden angegriffen, sondern hätten sie sich zu Gesprächen und Zugeständnissen bereit erklärt, dann wäre es nicht zur „Nacht der Barrikaden“ gekommen. Die aber wurde im ganzen Land live übertragen, die Repression der Polizei hat eine gewaltige Empörung ausgelöst. Drei Tage später, am Montag, den 13. Mai, begann der größte Generalstreik in der französischen Geschichte (9,5 Mio. Streikende) und eine bis dahin nicht dagewesene breite gesellschaftliche Mobilisierung, die die französische Geschichte (auch die Entwicklung jenseits der Landesgrenzen) über Jahre geprägt hat und für eine gewisse Zeit die Kräfteverhältnisse in Frankreich spürbar verändert hat. Mehr noch: Wie Daniel Bensaïd mehrfach in seinen Reden und Schriften erklärt hat: Ende des Monats stand drei Tage lang nicht fest, in welche Richtung sich das Kräftemessen entwickeln würde. Der Staat ‒ in dem Fall die „V. Republik“ ‒ befand sich in einer bis dahin nicht dagewesenen Krise.

Der Staat ist und bleibt ein Klassenstaat

Nur wenn wir die bisherigen Ausführungen in ihrem Kern ernst nehmen, können wir uns wieder auf Marx und Engels beziehen und richtig einordnen, was sie im Kommunistischen Manifest geschrieben haben: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganze Bourgeoisie verwaltet.“ [34] Oder auch Engels: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“[35]

Mit anderen Worten: Die Erkenntnis, dass der bürgerliche Staat (mehr als seine Vorgänger) über eine weitreichende Autonomie verfügt (selbst der weit gebräuchliche Begriff „relative Autonomie“ ist eher zu schwach), bedeutet nicht, dass dieser Staat ein Eigenleben hat, das es ihm ermöglicht, sich von den Interessen der herrschenden Klasse, nämlich der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, abzukoppeln oder sie zu bekämpfen. Für die im Staatsapparat Tätigen (mindestens an ihrer Spitze) bestehen auch ganz eigene Interessen, vorrangig die der eigenen materiellen Absicherung, unabhängig von der gerade bestehenden Kapitalprofitabilität. Aber auch die sind letztlich an die Fortexistenz der kapitalistischen Produktionsweise gebunden.

Eine Politik, die dies nachhaltig untergraben würde, käme einem Selbstmord der hohen Staatsbeamten gleich. Mehr noch: Würden bedeutende Kapitalkreise (ganz gleich, ob in offiziellen Verbänden organisiert oder nur „privat“ miteinander verbunden) eine solche Gefahr sehen, dann würden sie unverzüglich mit „einsichtigen“ Kreisen der Armee, der Polizei usw. einen Staatsstreich in die Wege leiten. Der kann bonapartistisch oder in Form einer Militärdiktatur (notfalls auch faschistisch) umgesetzt werden. So hat sich in Deutschland im Jahr 1932 das Großkapital hinter Hitler versammelt, eingeleitet durch die Einladung Hitlers im Industrieclub zu Düsseldorf (26. 1. 1932), als er vor 300 handverlesenen Großkapitalisten (Frauen waren keine dabei) sein Programm darlegen konnte. Nicht anders war es bei den Beispielen, die Ernest Mandel in seinem Aufsatz „Methodisches zur Klassennatur des bürgerlichen Staates“ anführt.[36]

Die hohen Staatsbeamen haben nicht nur ein ideologisches Interesse an der Aufrechterhaltung des Kapitalismus. „Wer aus Angst, dem ‚Vulgärmarxismus‘ zu verfallen oder sich in ‚beschreibendem Kleinkram‘ zu verlieren, dieses Moment aus der Analyse des Strukturcharakters der bürgerlichen Gesellschaft, die Staat und Bourgeoisie unzertrennlich miteinander verbinden, ausschaltet, verliert den Blick für ein Wesensmoment dieser Gesellschaft, d.h. des Kapitals selbst. Denn universeller Bereicherungstrieb und universelle Geldwirtschaft sind nicht eine ‚externe‘ Nebenerscheinung, die der kapitalistischen Produktionsweise irgendwie aufgepfropft wäre: sie sind strukturelle Wesenszüge dieser Gesellschaft, von deren Wirkungen sich keine Gruppe von Menschen dauerhaft befreien kann, demnach auch nicht Berufspolitiker oder Bürokraten. Nicht individuelle Korruption, sondern die unvermeidlichen Auswirkungen der dem Kapitalismus immanenten Tendenz, jede beträchtliche Geldsumme in eine Quelle von Mehrwert zu verwandeln, d.h. zu kapitalisieren, liegen an der Basis dieser Analyse.“[37]

Heute sieht die Verbindung von Staatsapparat und Großkonzernen so aus, dass die gegenseitige „Beratung“ über die offizielle Lobbyistenschiene verläuft. Wie unverfroren man dabei vorgeht, zeigt die speziell dafür eingerichtete Beurlaubung des Diplomaten Jens Hanefeld (Außenministerium), damit er bei VW als Leiter der Abteilung „Internationale und Europäische Politik“ fungieren kann.[38]

Ohne Gegenmacht keine Infragestellung des Staates

Sowohl die sorgfältige Analyse des strukturellen Charakters des bürgerlichen Staates als auch die Auswertung aller geschichtlichen Erfahrungen des Kampfs gegen den Staat im Kapitalismus machen unmissverständlich klar: Ein scheibchenweises Überwinden der kapitalistischen Staatsordnung und ein Hinübergleiten in eine demokratisch-sozialistische Verwaltung des Gemeinwesens (gar mit der Tendenz des Absterbens staatlicher Macht) ist schlicht nicht vorstellbar. Die Angst, die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs offen auszusprechen, zeichnet allerdings nicht nur ausgemachte reformistische Organisationen wie etwa die Partei Die LINKE aus, die meinen, dass eine solche Klarstellung abschrecken und ihrer „Realpolitik“ schaden würde.

So drückt sich auch der vielseits geschätzte Poulantzas (der keinem „realpolitischen Druck“ ausgesetzt war) um diese Klarstellung, wenn er beispielsweise ausführt: „Die radikale Transformation des Staatsapparats in einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als Zerschlagung oder Zerstören dieses Apparats bezeichnet.“[39]

Ursache für Poulantzas‘ Herangehensweise ist seine fehlerhafte Aufarbeitung der Geschichte, wenn er bei Lenin „Keime des Stalinismus“[40] ausmacht und einen Widerspruch zwischen Rätemacht und Demokratie sieht. Die Oktoberrevolution sieht Poulantzas nur vor dem Hintergrund des zaristischen Russlands als gerechtfertigt bzw. in dieser Form für notwendig an. Verallgemeinernde Lehren daraus zu ziehen, wie Lenin und vor allem die III. Internationale in ihrer Anfangszeit (also vor ihrer stalinistischen Degeneration) vorschlugen, lehnt Poulantzas ab.[41]

Der Kern seines Missverständnisses liegt in seiner Gleichstellung einer „jakobinischen Tradition“ mit der Rätemacht, die im Gegensatz zur „Selbstverwaltung und der direkten Basisdemokratie“ stehe.[42] Er erklärt das so: „War nicht diese Situation, diese Linie (die radikale Ersetzung der repräsentativen Demokratie durch die bloße Rätedemokratie) der grundlegende Faktor für das, was in der Sowjetunion bereits zu Lenins Lebzeiten geschehen ist, und der den zentralistischen und etatistischen Lenin hervorbrachte, dessen Erben man kennt?“[43] Wieso sich Rätedemokratie und Selbstverwaltung aber angeblich gegenseitig ausschließen, erklärt er nicht. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Ohne politische Struktur, die die Selbstverwaltung überhaupt ermöglicht und ökonomisch sowie politisch absichert, ist ein Absterben des Staates (also der Kampf gegen den Etatismus) gar nicht vorstellbar. Den Etatismus (im Namen der Selbstverwaltung) abzulehnen, aber gleichzeitig den radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Staat abzulehnen, ist nicht gerade besonders konsequent.

Um sein Etappenmodell zu rechtfertigen führt Poulantzas aus: „Der kapitalistische Staat wird dabei [von den Verfechtern der Rätedemokratie] als bloßes Objekt oder Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach Belieben manipuliert werden kann ‒ man gesteht ihm also keine inneren Widersprüche zu. […] Wenn die Sowjets en bloc den bürgerlichen Staat ersetzen sollen, so bedeutet dies nicht mehr, dass die bürgerliche Demokratie durch die direkte Basisdemokratie ersetzt wird. Das Problem ist nicht mehr der Anti-Staat, als vielmehr der Parallel-Staat, der dem instrumentalistischen Modell des gegenwärtigen Staates nachgebildet ist und insofern ein proletarischer Staat sein soll, als er von oben durch die revolutionäre ‚Einheits‘partei kontrolliert und besetzt wird.“[44]

Wenn man auf diese Weise Rätedemokratie mit Stalinismus verwechselt (also mit einem System der „Einheitspartei“, ohne demokratische Willensbildung usw.), dann verbaut man sich natürlich den Weg für die Ausarbeitung einer tatsächlichen Alternative zur bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Noch eindeutiger kommt Poulantzas‘ gradualistische Sichtweise in folgenden Ausführungen zum Ausdruck: „Der demokratische Weg zum Sozialismus ist ein langer Prozess, in dem der Kampf der Volksmassen nicht auf die Errichtung der Doppelherrschaft zielt, die parallel zum Staat und außerhalb von ihm verläuft, sondern sich auf die inneren Widersprüche des Staates richtet. […] Die Macht ist keine quantifizierbare Substanz, die der Staat besitzt und die man ihm entreißen müsste. Die Macht besteht aus einer Serie von Verhältnissen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die sich par excellence im Staat konzentrieren, der die Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen konstituiert. […] Der lange Prozess der Machtergreifung in einem demokratischen Weg zum Sozialismus besteht im Wesentlichen darin, die innerhalb der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu schaffen und zu entwickeln. Dadurch können diese Zentren auf dem strategischen Terrain des Staates zu effektiven Zentren realer Macht werden. Also nicht um die simple Alternative zwischen Stellungs- und Bewegungskrieg, denn der Stellungskrieg im Sinne Gramscis besteht immer in der Einkreisung des Staates-als-Burg.“[45]

Nicht nur steht Poulantzas damit doch recht deutlich im Gegensatz zur strategischen Orientierung eines Antonio Gramsci. Mehr noch: Es ist aufgrund dieser Ausführungen auch überhaupt nicht verwunderlich, dass er große Sympathien für den Eurokommunismus hatte.[46]

Wir sollten nichts vernebeln: Das Gegenstück zu diesen illusionären Konzepten des etappenweisen Überwindens des bürgerlichen Staates ist die Praxis der Pariser Commune, die Marx als „die endlich gefundene politische Form“[47] der Diktatur des Proletariats bezeichnete. Aus all den bis hierhin dargelegten Charakteristika des bürgerlichen Staates ‒ seiner strukturell auf die Wahrung der kapitalistischen Produktionsweise basierenden Funktion wie auch der erbitterten Verteidigung dieser Rolle durch die Bourgeoisie ‒ geht zwingend hervor: Die Bourgeoise wäre mit dem Klammersack gepudert, wenn sie zuließe, dass der Garant ihrer ökonomischen Macht – der Staat-  stückchenweise demontiert wird. Von daher ist auch „rebellisches Regieren“ nicht möglich, was sogar die in der Partei Die LINKE nicht gerade auf dem linken Flügel verorteten Michael Brie und Gabi Zimmer ansatzweise einsehen[48]. Die Erfahrung der Geschichte lehrt vielmehr das Gegenteil: Entweder eine (reformistische) Partei oder Parteienkoalition passt sich an und übernimmt die Verwaltung der Misere (und ist dadurch gerade kein mobilisierender Faktor im Klassenkampf) oder aber eine solche Regierung wird aus dem Weg geräumt bzw. kommt gar nicht erst ins Amt. Die Geschichte lehrt nun mal kein Gegenbeispiel zu diesen zwei Schicksalen reformistischer Parteien an der Regierung.

Das beharrliche Orientieren der Partei Die LINKE auf eine Regierungsbeteiligung belegt nur, wie stark sie dem reformistischen Weg verpflichtet ist, der immer wieder in die o. g. Sackgasse geführt hat.

15. 10. 2020


[1] Ernest Mandel: „Die marxistische Staatstheorie“ deutsche Erstveröffentlichung in „Gegen den Strom“ Nr. 1 (Dezember 2013), S. 8 https://intersoz.org/die-marxistische-staatstheorie/

[2] Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. MEW 21: 165

[3] Engels a. a. O. S. 166 f

[4] Joachim Hirsch legt ‒ so in „Marxistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems“, Hamburg (VSA), 2015 ‒ großen Wert auf den Unterschied des modernen Staats zu allen Vorgängergebilden. Man könnte ihm allerdings vorwerfen, dass er nicht ausreichend betont, dass sich mit diesen Änderungen gerade nichts an der grundlegenden Wesensbestimmung des Staates geändert hat.

[5] Zum Grundsätzlichen siehe Ernest Mandel: „Methodisches zur Bestimmung der Klassennatur des bürgerlichen Staates“, in: Marxismus und Anthropologie. Festschrift für Leo Kofler, Bochum 1980, S. 213 – 232; https://intersoz.org/methodisches-zur-bestimmung-der-klassennatur-des-buergerlichen-staates/ Zur Untermauerung im Konkreten siehe z. B. Mandels Buch „Der Zweite Weltkrieg“, Frankfurt (isp-Verlag) 1991 und hier im Besonderen das Kapitel zum Historikerstreit.

[6] Wie die erweiterte Reproduktion des Kapitals konkret funktioniert, legte Marx im II. Band des Kapitals dar.

[7] Siehe dazu im Besonderen Kapitel 13 in Das Kapital Band I.

[8] Diese wesentliche Erkenntnis, die Marx uns vermittelt hat, scheint in der Parteiführung der LINKEN nicht gerade stark verankert zu sein.

[9] Karl Marx, „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, MEW 1: 204

[10] E. Altvater: “Zu einigen Problemen des Staatsinterventionismus“ in Probleme des Klassenkampfs, Nr. 3, hier zitiert nach Ernest Mandel: „Der Spätkapitalismus“, Frankfurt (suhrkamp), 1972, S. 436

[11] Arbeitskraft und Lohn entsprechen sich wertmäßig, nicht aber Arbeit und Lohn. Zur Unterscheidung siehe MEW 23: 181-200

[12] Mehr zum Staatsfetischismus in Ernest Mandel: „Macht und Geld“, Köln (isp), 2000, im Besonderen Kapitel 1

[13] Die Summe der vom Staat zu schaffenden „allgemeinen Produktionsbedingungen“ steigt ständig und zwar im Gegensatz zur Behauptung des Neoliberalismus. Das wird auch von der Tendenz zum angeblich schlanken Staat nicht widerlegt. Schlanker (also mit möglicherweise weniger Personal) bedeutet nicht weniger Bürokratie oder weniger staatliche Aufgaben. In Wirklichkeit läuft „schlanker machen“ nur auf mehr Freiheit für das Kapital hinaus.

[14] Max Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“, Tübingen 1980, S. 128f.

[15] Siehe etwa: „Es gehört zu den grundlegenden Aussagen der Klassiker des Marxismus, dass der zweifellos wichtigste Aspekt in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in Bezug auf die Herausbildung des Staates als ‚besonderem Apparat‘ in der Teilung zwischen manueller und geistiger Arbeit zu suchen ist. [Belege führt Poulantzas nicht an.] […] Erst im kapitalistischen Staat erhält das organische Verhältnis von geistiger Arbeit und politischer Herrschaft, von Wissen und Macht seine vollendete Form.“ Nicos Poulantzas: „Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus.“ Hamburg 2002 (VSA), S. 83 Ähnlich a. a. O. S. 88)

[16] Hirsch, a. A. O. S. 134

[17] Ernest Mandel: Methodisches zur Bestimmung …, a. a. O. S. 229

[18] E. M. Methodisches …, a. a. O. S. 230

[19] Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus, Frankfurt (suhrkamp) 1972, S. 441

[20] E. M.: Der Spätkapitalismus, a. a. O. S. 442

[21] ebenda

[22] Worauf sich der „tiefe Staat“ unter anderem stützt, hat Hans-Jürgen Schulz dargelegt in „Die geheime Internationale. Spitzel, Terror und Computer.  Zu Geschichte und Funktion der Geheimdienste in der bürgerlichen Gesellschaft“, Frankfurt (isp-Verlag) 1982

Für eine Abkehr von der parlamentarischen Demokratie können sich staatstragende reaktionäre Kräfte im gegebenen Fall in Frankreich z.B. sehr stark auf die Polizei stützen, die bei den „élections professionnelles“ (sie entsprechen in etwa den Personalratswahlen) zu mehr als zwei Dritteln für die zwei sehr rechten Polizei“gewerkschaften“ Alliance und Unité SGP stimmt.

[23] Georg Jungclas: „Die Formen des kapitalistischen Staates“, Hamburg (isp-Verlag) 1972, S. 1

[24] Siehe dazu die für die marxistische Staatstheorie so grundlegende Schrift: Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW 8:111 ff

[25] Siehe dazu Joachim Hirsch: „Marxistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems“, Hamburg (VSA), 2015, im Besonderen Kapitel 3

[26] Foster/Suwandi „Covid-19 und der Katastrophenkapitalismus“ in Z, Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 123, September 2020, S. 23

[27] E. Braw: „Blindsided on the Supply Side”, in Foreign Policy, 4. März 2020

[28] Foster Suwandi, a. a. O. S. 23

[29] Hirsch a. a. O. S. 103

[30] Mehr dazu in Antonio Gramsci: „Gefängnishefte“, Krit. Ausgabe Bd. 2, vor allem in Heft 7

[31] Louis Althusser: „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, Hamburg (VSA), 2010

[32] Marx/Engels: Die deutsche Ideologie, MEW 3: 46

[33] Antonio Gramsci: „Gefängnishefte“, Heft 7, Krit. Ausgabe Bd. 2, S. 871-873, hier zitiert nach Antonio Gramsci: „Zur Politik, Geschichte und Kultur“, Frankfurt (Röderberg) 1980, S. 219 f

[34] MEW 4 : 464

[35]  Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. MEW 19, S.222, 1880

[36] E. M. „Methodisches zur Bestimmung …“ a. a. O. S. 231

[37] E. M. a. a. O. S. 229

[38] Näheres dazu unter: https://gewerkschaftsforum.de/vw-warb-lobbyisten-aus-dem-aussenministerium-ab/

[39] Poulantzas, a. a. O. S. 289

[40] a. a. O. S. 279

[41] a. a. O. S. 278 f

[42] a. a. O. S. 278

[43] a. a. O. S. 280

[44] a. a. O. S. 281 f

[45] a. a. O. S. 285 f

[46] Zur Kritik des Eurokommunismus sei auf Ernest Mandel verwiesen: „Kritik des Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des Stalinismus?“, Berlin (Olle & Wolter) 1978, im Besonderen auf Kapitel 11 Die KPF, der Eurokommunismus und der bürgerliche Staat.“

[47] MEW 17: 342

[48] Michael Brie und Gabi Zimmer: „Sagen, was ist! Zur Strategiedebatte der Partei Die LINKE im Vorfeld der Bundestagswahl 2021“ in Sozialismus 10-2020, S. 5

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