Neoliberalismus mit vorgehaltenen Maschinenpistolen
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Chile: 50 Jahre nach der Schandtat

Neoliberalismus mit vorgehaltenen Maschinenpistolen

Von Roberto González Amador im Gespräch mit Éric Toussaint | 11.09.2023

Der Putsch gegen die Regierung des chilenischen Präsidenten Salvador Allende, der in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert her ist, schloss „mit brutaler Gewalt“ den Weg hin zu einem Wohlfahrtsstaat und zur Souveränität über ihre natürlichen Ressourcen, den mehrere lateinamerikanische Länder gerade eingeschlagen hatten. „Chile war ein Vorbote dessen, was in den folgenden zehn Jahren weltweit geschehen sollte: die Gegenoffensive des Imperialismus, insbesondere der USA, gegen die Politik der Einkommensumverteilung, die endogene industrielle Entwicklung und den Aufbau dessen, was man als Wohlfahrtsstaat bezeichnet hat“, erklärt Eric Toussaint, Gründer des Komitees zur Streichung der illegitimen Schulden, und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Frankreich.

Fünfzig Jahre später markiert der Putsch gegen die rechtmäßig gewählte Regierung von Salvador Allende „einen historischen Punkt: die Durchsetzung eines Modells, das wir als neoliberal kennen, durch den Einsatz brutaler Gewalt gegen die Volksklassen“, fügt er in einem Interview mit La Jornada hinzu.

„Das neoliberale Modell, ob in der Version von Pinochet in Chile, von Carlos Menem in Argentinien oder von Carlos Salinas de Gortari in Mexiko, ist trotz des Geredes über ein angebliches Wunder gescheitert. Aus historischer Perspektive bedeutete er für Lateinamerika die Privatisierung und eine „Reprimarisierung“[i] ihrer Volkswirtschaften“, stellt Eric Toussaint fest, ein Kritiker der Politik der internationalen Finanzorganisationen gegenüber den Ländern des Südens, Internationalist und führender Aktivist von Bewegungen wie dem Weltsozialforum.

Das diktatorische Regime von Augusto Pinochet, dem General, der den Staatsstreich gegen Präsident Allende anführte, „leitete die neoliberale Welle und die Umsetzung eines wirtschaftlichen und politischen Modells ein“. Chile war laut Toussaint das Laboratorium für die Durchsetzung dieses Modells, das unter anderem auf Reduzierung der Eingriffe des öffentlichen Sektors in die Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten, Privatisierung von strategischen Ressourcen und Übertragung von Dienstleistungen wie Gesundheit und Bildung an private Unternehmen beruhte.[ii]

Der chilenische Militärputsch fand laut Éric Toussaint in Bezug auf die Wirtschaftspolitik in einem besonderen Umfeld statt: Die Jahrzehnte zuvor waren von der Politik der staatlichen Förderung von Wachstum und Entwicklung geprägt gewesen, wie sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Ländern des Nordens eingeführt worden war. In diesem Umfeld hofften Wirtschaftswissenschaftler wie Milton Friedman, der an der Universität von Chicago die wichtigsten Ökonomen ausbildete, die das Wirtschaftsmodell der chilenischen Diktatur in die Praxis umsetzten, „oder reaktionäre Denker, die von der sogenannten Österreichischen Schule[iii] inspiriert waren, Anfang der 1970er Jahre, eine ‒ je nach Region ‒ mehr als drei Jahrzehnte währende Periode zu beenden, und unterstützten die neoliberale Wende, die im Fall von Chile buchstäblich mit vorgehaltenen Maschinenpistole durchgesetzt wurde.“

Die Politik, die Chile ab 1973 aufgezwungen wurde, „zielte darauf ab, eine je nach Region unterschiedlich lange Periode von etwa 35 Jahren keynesianischer Politik im Norden und Süden zu beenden[iv]; eine Politik, die sowohl eine gewisse Autonomie gegenüber dem Imperialismus als auch Zugeständnisse der herrschenden Klassen gegenüber den Volksschichten enthielt. Ich beziehe mich auf einen Zeitraum, der in Lateinamerika die Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas in Mexiko [1934‒1940], Juan Domingo Perón in Argentinien [1946‒1955, 1973/74] und Gétulio Vargas, [1930‒1945, 1950‒1954] gefolgt von Juscelino Kubitschek [1956‒1961] und João Goulart [1961‒1964] in Brasilien umfasst. Chile war also ein Vorreiter dessen, was in den Jahren nach dem Putsch passieren sollte. 1973 ist ein historisches Datum, weil es den Beginn der Verallgemeinerung der Gegenoffensive gegen die keynesianische Politik der entwicklungsorientierten Förderung vom Staat aus und gegen die Politik einer eigenständigen Entwicklung der Region, wie sie von der CEPAL vorgeschlagen wurde, markiert.“

Pinochets Putsch war „der Beginn einer Reise in die neoliberale Hölle“, die dann mit der Machtübernahme von Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich 1979 und Ronald Reagan im Weißen Haus 1980 eine weitere Etappe erreichte. „Es handelt sich um einen historischen Umschwung, die Durchsetzung eines Wirtschaftsmodells durch den Einsatz brutaler Gewalt gegen die Arbeiterklasse und linke Bewegungen, wie es auch in Uruguay und Argentinien geschah.“ Er fügt hinzu: „Es war eine schreckliche Zeit, was die Unterdrückung in Lateinamerika angeht. Deshalb sprechen wir von einem Wirtschaftsmodell, dem neoliberalen Modell, mit einer sehr klaren konservativen politischen Dimension und mit massiver Unterdrückung durch die Streitkräfte, wie es in Chile und Argentinien der Fall war.“

Eric Toussaint macht darauf aufmerksam, dass der Staatsstreich in Chile nicht nur von den USA, ihrem Militär und ihren Nachrichten- und Spionagediensten, sondern auch von Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds unterstützt wurde.

Welche wirtschaftlichen Interessen haben die Bedingungen für den Putsch gegen Präsident Allende geschaffen oder ihn unterstützt?

Einer der Gründe für den Zusammenbruch der Allende-Regierung war die Verstaatlichung von Kupfer. Diese betraf die großen US-amerikanischen Unternehmen, die Druck auf die US-Regierung ausübten und die rechtsgerichtete chilenische Armee ermutigten. Danach begann die Umsetzung des Modells durch massive Privatisierungen und „Reprimarisierung“, die Liberalisierung von Investitionen und die Erhöhung der Auslandsverschuldung. All dies geschah in der Annahme, dass man als Anreiz für Investitionen privatisieren und Gesetze zum „Schutz“ dieser Investitionen vor einer Verstaatlichung erlassen muss. Im Laufe der Jahre kamen die Wirtschaftspolitiker:innen mehrerer lateinamerikanischer Länder zu der Behauptung, dass es keinen anderen Weg als die Fortsetzung einer solchen Wirtschaftspolitik gibt.

Ich würde sagen, dass es keinen anderen Weg in die Hölle gegeben hat. Dieser Weg wurde von starker Propaganda über das angebliche Wunder des chilenischen Modells begleitet, so wie es auch Propaganda über das angebliche Wunder von Salinas de Gortari Anfang der 1990er Jahre in Mexiko gab. Aber alle diese Modelle sind gescheitert. In Chile gab es unter der Pinochet-Diktatur eine allgemeine Bankenkrise, und die Banken mussten gerettet werden, wie auch in Mexiko, Ecuador und anderen Ländern. Lateinamerika hat seine Volkswirtschaften privatisiert und wurde zum Rohstoffexporteur oder zum Sitz von „Maquiladoras“ [Montage-/Zusammenbau-Fabriken in Sonderwirtschaftszonen]. Dabei handelt es sich beispielsweise um Autofabriken, in denen die Teile nicht selbst hergestellt werden, sondern importiert und von unterbezahlten und gering qualifizierten Arbeiterinnen und Arbeitern zusammengebaut werden; dagegen hatte es in den Jahrzehnten vor dem Staatsstreich in mehreren Ländern einen Prozess der Industrialisierung gegeben.

Was geschieht heute in Bezug auf diese Vorstellung von Wirtschaftspolitik?

Die massive Ablehnung der neoliberalen Politik durch die Mehrheiten in den lateinamerikanischen Ländern begann sich nach den Diktaturen und der Schuldenkrise der 1980er Jahre deutlich zu äußern. Zu nennen sind die Rebellionen in Venezuela 1989 (die als „Caracazo“ bekannt ist), Bewegungen wie die der Zapatisten in Mexiko (ab 1994) und die Wahlen von Hugo Chávez in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador und Evo Morales in Bolivien zwischen Ende der 1990er Jahre und Anfang dieses Jahrhunderts. Gemeinsam war ihnen, dass sie die Kontrolle über natürliche Ressourcen wie Öl und Gas zurückgewinnen wollten. In jüngerer Zeit sind die Wahlsiege von Andrés Manuel López Obrador in Mexiko 2018, von Alberto Fernández in Argentinien 2019 und zuletzt 2022 von Gabriel Boric in Chile und Gustavo Petro in Kolumbien zu nennen.

Es gibt jetzt eine neue Welle von progressiven Regierungen, aber wir sehen keinen Bruch mit dem Wirtschaftsmodell. Sie setzen eine Politik der Fürsorge und der staatlichen Unterstützung für die ärmsten Teile der Volksklassen um, was natürlich wichtig ist, aber es gibt keinen wirklichen Willen, einen strukturellen Wandel herbeizuführen.

Dieses Interview ist am Freitag, den 1. September 2023, in der mexikanische Tageszeitung La Jornada erschienen, https://www.jornada.com.mx/2023/09/01/economia/017e1eco.

Auf der Webseite des Komitees zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM) ist es am 8.9. in mehreren Sprachen veröffentlicht worden, https://www.cadtm.org/Chili-50-ans-apres-l-ignominie-Le-neoliberalisme-au-bout-de-la-mitraillette.

Die Anmerkungen wurden bei der Veröffentlichung auf der Webseite des CADTM hinzugefügt.

Éric Toussaint hat 2004 an den Universitäten Lüttich und Paris VIII promoviert und ist Sprecher von CADTM international.

Auf Deutsch liegen zwei Bücher von ihm vor, beide sind im Neuen ISP Verlag erschienen: Profit oder Leben: Neoliberale Offensive und internationale Schuldenkrise, 2000; Die Bank des Südens und die Weltwirtschaftskrise: Bolivien, Ecuador, Venezuela und die Alternativen zum Neoliberalismus, 2010. Einige Artikel von ihm, die ins Deutsche übersetzt wurden, sind in der deutschsprachigen Unterseite der Webseite des CADTM veröffentlicht: http://de.cadtm.org/


[i] Reprimarisierung: Man unterscheidet drei große Wirtschaftssektoren: den Primärsektor (direkte Nutzung natürlicher Ressourcen), den Sekundärsektor (verarbeitende Industrie) und den Tertiärsektor (Dienstleistungen). Im Allgemeinen gilt: Je weiter eine Volkswirtschaft voranschreitet und je mehr Technologie sie integriert, desto stärker ist sie im sekundären und tertiären Sektor. In einigen Ländern, die besonders reich an Rohstoffen sind, wächst der Anteil des primären Sektors jedoch manchmal auf Kosten der übrigen Wirtschaft. In diesem Fall spricht man von einer „Reprimarisierung“.
Quelle: https://www.monde-diplomatique.fr/publications/manuel_d_economie_critique/a57221

[ii] Éric Toussaint zeigt in dem Buch Banque mondiale: Une histoire critique (2022), dass ab der zweiten Hälfte des Jahres 1972 eine zum Teil ähnliche Entwicklung auf den Philippinen stattgefunden hat. Siehe Kapitel 7: Die Weltbank und die Philippinen (online: https://www.cadtm.org/Banque-mondiale-et-Philippines).

[iii] [Als „Österreichische Schule“ oder „Österreichische Grenznutzenschule“ wird eine Gruppe von Theoretikern bezeichnet, die eine heterodoxe Lehrmeinung in der Volkswirtschaftslehr vertreten; sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Carl Menger begründet und ist mit den Namen Eugen Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek verbunden.
Eine marxistische Kritik formulierte Nikolai Bucharin in seinem vor dem Ersten Weltkrieg in Wien und Lausanne verfassten und 1919 auf Russisch veröffentlichten Buch Die politische Ökonomie des Rentners: Die Wert- und Profittheorie der österreichischen Schule (dt. 1926; Nachdruck unter dem Titel Das Elend der subjektiven Wertlehre, 1972). Anm. d. dt. Bearb.]

[iv] In Brasilien wurde die brutale volksfeindliche Wende mit Unterstützung von Washington bereits Ende März 1964 eingeleitet, als das Militär die fortschrittliche Regierung von Präsident João Goulart stürzte. Siehe Eric Toussaints Artikel, 26. März 2019, https://www.cadtm.org/Bresil-55-ans-apres-le-renversement-du-president-democratique-Joao-Goulart-le

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