Mit blauem Auge davongekommen?
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Tarifabschluss 2024 Chemische Industrie

Mit blauem Auge davongekommen?

Von J. H. Wassermann | 08.07.2024

Die „Sozialpartnerschaft“ hat sich wieder mal durchgesetzt: In „freien Verhandlungen“ haben sich die Unternehmer:innen und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) in der dritten Runde der bundesweiten Verhandlungen auf einen Tarifabschluss geeinigt.

Der Abschluss hat drei Teile: Erhöhung der Tarifentgelte, Verankerung eines „Mitgliedervorteils“ im Manteltarifvertrag und geringfügige „Modernisierungen“ im Bundesentgelttarifvertrag (BETV, Regelungen zu Eingruppierungen u.Ä.).

Die Löhne steigen moderat: zwei Leermonate (Juli, August 2024) dann ab September zwei Prozent, im April 2025 als zweite Stufe 4,85 Prozent bei 20 Monaten Laufzeit bis zum 28. Februar 2026. Das ist jedenfalls nominal nicht weit weg von der aufgestellten Forderung von 7 Prozent. Die lange Laufzeit, die Streckung auf zwei Stufen, die zwei Leermonate und die üblichen Öffnungsbestimmungen (Verschiebung der Entgelterhöhung um bis zu drei Monate 2025 in Unternehmen mit „wirtschaftlichen Schwierigkeiten“) verwässern allerdings das Ergebnis. Trotzdem wird das Ergebnis nicht auf große Kritik stoßen. Schließlich gab es im Januar 2024 noch aus dem letzten Tarifabschluss eine Erhöhung um 3,25 Prozent und eine Einmalzahlung von 1.500.-€.

Ein freier Tag für Mitglieder

Der von vielen ehrenamtlichen Funktionären gewünschte „Mitgliedervorteil“ ist jetzt als tariflicher Anspruch der Gewerkschaftsmitglieder auf einen zusätzlichen freien Tag pro Kalenderjahr geregelt. (Einen weiteren Tag gibt es bei 10-, 25-, 40- und 50-jährigem Mitgliedschaftsjubiläum.)  Nun sind alle tariflichen Ansprüche immer nur einklagbar für die Mitglieder der Tarifvertragsparteien. Das hindert Unternehmen aber nicht daran, auch allen unorganisierten KollegInnen Löhne und sonstige tarifliche Leistungen zu gewähren.

Hier ist nun allerdings die Bestimmung vereinbart, dass der freie Tag durch Nachweis der Mitgliedschaft gegenüber der Firma beansprucht werden muss. Das soll dazu führen, dass tatsächlich nur Mitglieder diesen Anspruch einlösen können. Ob und wie das in den Betrieben eingehalten und umgesetzt wird, zeigt die Zukunft. Eine gewisse Hemmung, sich der Firma gegenüber als Gewerkschaftsmitglied zu „outen“, kann z. B. dazu führen, dass nicht alle KollegInnen ihren Anspruch einlösen. Andererseits könnten Unternehmen auf den Nachweis der Mitgliedschaft verzichten, dann müsse „die Gewerkschaft“ dafür sorgen, dass Kolleg:innen – nämlich die Unorganisierten – etwas nicht bekommen, obwohl die Firma ihnen was geben will. Ob solche betrieblichen Diskussionen dann konsequent geführt werden, bleibt abzuwarten.

Tabubruch?

Damit die Unternehmen gegenüber anderen Kapitalistenverbänden diesen „Tabubruch“ rechtfertigen können, wird das Ganze als „Ausgleich für das Engagement der Gewerkschaftsmitglieder“ bezeichnet und nicht als geldwerte Leistung – was es am Ende aber natürlich trotzdem bleibt. Es geht also um die weitere Verfestigung der „Sozialpartnerschaft“: keine betrieblichen Mobilisierungen, keine Warnstreiks, keine Streiks und Schmusekurs der Betriebsräte vielerorts.

Der freie Tag wird in den Betrieben von Mitgliedern und Funktionären aber sicher mit großer Zustimmung aufgenommen.

Beim dritten Teil des Tarifabschlusses handelt es sich um eine angeblich kostenneutrale Anpassung bestimmter Bestimmungen und Bezeichnungen im BETV.

Für eine eigentliche „Modernisierung“ haben sich die Tarifparteien nun Zeit bis 2030 (!) genommen.

Durchgesetzt wurde dieses Ergebnis in Verhandlungen, also Gesprächen. Mobilisierungen der Belegschaften gab es an zwei „Aktionstagen“ im Juni. Da wurden dann Flugblätter verteilt oder in Mittagspausen in Kantinen informiert oder ähnlich harmlos „mobilisiert“. Das Zutrauen in die Aktionsfähigkeit der Mitglieder war offensichtlich schwach ausgeprägt. Schon ein, zwei Wochen vor der dritten Verhandlungsrunde war klar, dass dort abgeschlossen werden soll und wird.

Zu schwach – oder keinen Mut?

Es sollte ausdrücklich, von Hauptamtlichen als Leitlinie ausgegeben, an den Aktionstagen nicht zu viel gemacht werden. Das drückt die Angst des Apparats aus, dass mobilisierte KollegInnen vielleicht dann doch eine höhere Erwartungshaltung entwickeln würden, die dann nicht mehr „einzufangen“ wäre. Vor rund zehn Jahren hatte es in einer Tarifrunde die Losung gegeben, “die Unternehmer mauern in den Verhandlungen, wir müssen was tun“. Regionale Demonstrationen und Kundgebungen mit recht ordentlicher Beteiligung waren die Folge. Als es dann nach einem halben Tag doch ein Ergebnis gab, das nicht so viel besser als der ursprünglich kritisierte Verhandlungsstand war, stieß dies – bis heute – auf erhebliche Kritik.

Ziel erreicht?

Das Ergebnis sieht auf den ersten Blick nicht so schlecht aus. Die aktuell gesunkene Preissteigerungsrate nach knapp drei Jahren hoher Steigerungen trägt dazu bei, dass das Gefühl entsteht, es ginge wieder leicht nach oben mit der realen Kaufkraft. Die reale Kaufkraft der Tariflöhne in der Chemischen Industrie wird in Zukunft aber niedriger liegen als vor dem Beginn der beschleunigten Inflation ab Mitte des Jahres 2021. Die steuer- und sozialversicherungsfreien Einmalzahlungen in den Jahren 22, 23 und 24 von insgesamt 4.400.- € tragen dazu bei, dass dies aber noch nicht als Erfahrung und im Bewusstsein vorhanden ist.

Der freie Tag für Gewerkschaftsmitglieder sollte mit knapp 0,4 Prozent bewertet werden, die 7 Prozent der Forderung wären also rechnerisch erreicht.

Die sogenannte und nicht gelungene „Modernisierung“ des BETV ist etwas für Betriebsräte in mittleren und Großbetrieben und berührt die Mitglieder nur gelegentlich im Individualfall.

Das dicke Ende

Das „dicke Ende“ aber kommt zum Schluss. Wir berichteten, dass nach Jahren der innerorganisatorischen Diskussion nun endlich die besondere Schlichtungsregelung für die Chemische Industrie von der IGBCE gekündigt worden war. Zur Erinnerung: Diese Schlichtungsregelung tritt verbindlich in Kraft, wenn die Tarifverhandlungen gescheitert sind. Dann hat die Schlichtung mit drei VertreterInnen jeder Seite zusammenzutreten und erst wenn diese Schlichtung – also ohne Schlichter von außen – von einer Seite für gescheitert erklärt wird, dann erst endet die Friedenspflicht und Warnstreiks sind möglich.

Nun war die Kündigung der Schlichtungsregelung von aktiven ehrenamtlichen FunktionärInnen als Signal für eine etwas offensivere Haltung und als Vorbereitung für kommende Tarifverhandlungen wahrgenommen worden. Bis dahin, dass Ver.Di mit ihren Mitgliedergewinnen in der Vorbereitung von Tarifrunden als positiver Bezugspunkt genannt wurde.

Die Latte höher gelegt

Diese Schlichtungsregelung ist jetzt als Teil des Tarifabschlusses wieder in Kraft gesetzt worden. Sie ist jetzt erstmals mit einer Sechsmonatsfrist zu Ende 2026 (!) kündbar – allerdings mit der organisationspolitisch äußerst bedenklichen Verknüpfung mit dem freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder: Im Falle der Kündigung verliert der entsprechende Absatz im Manteltarifvertrag mit „Beendigung der Schlichtungsregelung“ seine Gültigkeit.

War die Schlichtungsregelung vorher eine ärgerliche Einschränkung der Möglichkeit, eine wirkliche Tarifbewegung fristgemäß in Gang zu setzen, so hat man sich jetzt Handschellen angelegt – und es ist unklar, wo der Schlüssel liegt. Wenn die Notwendigkeit besteht, sich auf härtere und aktive Tarifrunden vorzubereiten, muss man jetzt durch Kündigung der Schlichtungsregelung in den Betrieben erstmal erheblichen Unmut erzeugen, weil der freie Tag wegfällt.

Diese unselige Koppelung der beiden Umstände erklärt, warum die Unternehmer den „Tabubruch“ mitmachen konnten und auch gegenüber anderen Kapitalistenverbänden rechtfertigen können; schließlich liegt die Latte für Arbeitskampfmaßnahmen in der Chemischen Industrie damit höher als vorher.


Kasten:

Tarifergebnisse in chemisch-pharmazeutischen Industrie der letzten Jahre:

Juli 20201,5 %
Juli 20211,3 %
April 20221.400.- € Einmalzahlung
Juli 2022Nachtzuschläge auf 20 %
(entspricht für Schichtarbeitende etwa 1,7 % Lohnerhöhung, da Nachtzuschläge weitestgehend steuer- und sozialversicherungsfrei sind, handelt es sich praktisch um eine Nettolohnerhöhung)
Januar 20233,25 %
1.500.- € Einmalzahlung
Januar 20243,25 %
1.500.- € Einmalzahlung
September 20242,00 %
April 20254,85 %

Das Statistische Bundesamt hat jetzt das Jahr 2020 als Basisjahr genommen mit der Festsetzung auf den Wert 100 für den allgemeinen Lebenshaltungskostenindex. Im Jahr 2024 liegt dieser Index nun bei 120.

Die tariflichen Nominallöhne in der Chemischen Industrie stiegen (ohne die Berücksichtigung von Einmalzahlungen, ohne Berücksichtigung der Erhöhung der Nachtzuschläge, siehe Tabelle) einschließlich des neuen Tarifvertrages um rund 17 %. Allerdings wird auch bei moderater Preissteigerung von 2,5 % im Jahr am Ende der Laufzeit des Tarifvertrages 2026 der Lebenshaltungskostenindex ungefähr zwischen 125 und 130 stehen. (Solche Berechnungen sind in mehrerer Hinsicht schwierig und ungenau.) Dazu kommt, dass der allgemeine Lebenshaltungskostenindex  die Preissteigerungsrate für alle Haushalte zugrunde legt. Haushalte mit niedrigem oder mittlerem Einkommen von abhängig Beschäftigten haben in der Regel eine höhere Steigerung zu verkraften.

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