Lindners Seifenblasen

Foto: Pascal, Pascal Resistance, CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

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Betrieb & Gewerkschaft

Lindners Seifenblasen

Von J. H. Wassermann | 21.03.2023

Aktienrente: Tabubruch oder Bauchlandung?

Im Januar hat der Bundesminister der Finanzen, Christian Lindner von der FDP, angekündigt, dass das System der Alterssicherung, also im Wesentlichen die gesetzliche Rentenversicherung, mit der Einführung einer „Aktienrente“ „zukunftsfest“ gemacht würde.

Was ist nun dran an dieser „Aktienrente“?

Im Koalitionsvertrag wurde zwischen SPD, Grünen und FDP vereinbart:

„Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben. Um diese Zusage generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen. Diese teilweise Kapitaldeckung soll als dauerhafter Fonds von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet werden und global anlegen.“

Was genau wird nun eingeführt?

Ab dem Jahr 2023 wird die Bundesregierung erstmals und dann jedes Jahr 10 Milliarden € am Kapitalmarkt aufnehmen, also neue Staatsschulden erzeugen. Dieses geliehene Geld wird dann vom KENFO verwaltet und „angelegt“.

Was ist KENFO?
Der „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ wurde als öffentlich-rechtliche Stiftung 2017 eingerichtet. Nach der Havarie (Kernschmelze der Reaktoren) des Kernkraftwerks im japanischen Fukushima hatte die damalige Merkelregierung politisch entschieden, aus der sogenannt „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ in Deutschland auszusteigen. In der Folge wurden die Atomkraftwerksbetreiber nicht nur zum Teil für entgangene Laufzeiten „entschädigt“. Das ungelöste Problem der Endlagerung und überhaupt Entsorgung von radioaktivem Müll fiel zurück an den Staat.
Der Fonds verwaltet als größte öffentlich-rechtliche Stiftung in Deutschland ein Vermögen von 24,1 Milliarden €. Diese Mittel wurden seinerzeit von Betreibern der Atomkraftwerke eingezahlt. Damit haben diese Konzerne sich abschließend von der Lagerung und Entsorgung der nuklearen Abfälle freigekauft.

Diese „Stiftung“ wird also mit 10 Milliarden € jährlich „an den Kapitalmarkt gehen“ und das Geld „anlegen“. Es wird also von der Bundesregierung Geld am Kapitalmarkt aufgenommen und dann wieder angelegt? Was soll das denn?

Die Bundesrepublik Deutschland gilt global als Schuldner (als Geld Leihender) bester Bonität, also bester Kreditwürdigkeit und Rückzahlungsfähigkeit. Kapitalgeber gehen also davon aus, dass ihr Geld „sicher“ angelegt ist. Daher muss der deutsche Staat, wenn er sich auf dem Wege der Staatsanleihen Geld leiht,  nur sehr niedrige Zinsen zahlen.

Der Staat als Spekulant

Nun soll dieses Geld genommen werden und mehr Zinsen durch andere Finanzanlagen erwirtschaftet werden. Höhere Zinsen, also eine bessere Rendite, lassen sich aber nur erwirtschaften, wenn die neuen Anlagen ein höheres Risiko aufweisen. Als Anlagemöglichkeiten sollen vor allem Aktien von Privatunternehmen, Staatsanleihen anderer Staaten und vergleichbare Wertpapiere gekauft werden.

In der Theorie dieser „Aktienrente“ führen die Gewinne am Kapitalmarkt dazu, dass einerseits die Schulden zurückgezahlt werden können, UND dass noch was übrig bleibt. Dieser Überschuss soll dann den Bundeshaushalt entlasten. Entlastung soll in diesem Zusammenhang heißen, dass der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung verringert werden kann.

Damit wir eine Vorstellung davon entwickeln können, betrachten wir einmal kurz die Größenordnungen.

Selbst wenn die Bundesregierung nur null Prozent Zinsen für die 10 Milliarden € zahlen würde und – sagen wir – 5 Prozent auf dem Kapitalmarkt erzielen könnte, würde es allein 20 Jahre dauern, bis die Schulden zurückgezahlt werden könnten. Erst bei einer längeren Laufzeit als 20 Jahre würde überhaupt ein Überschuss zur „Entlastung“ Bundeshaushalts, bzw. des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Rentenversicherung erwirtschaftet werden.

Schon an dieser vereinfachten Überlegung können wir sehen, dass ein „Druck“ entsteht, möglichst eine höhere Rendite zu erzielen, aber: Höhere Rendite heißt immer höheres Risiko.

Aktienrente = sicherere Rente?

Bei der Einführung der aktuellen „Aktienrente“ sollen wir noch in den Blick nehmen, dass der aktuelle Zuschuss aus dem Bundeshaushalt an die Rentenversicherung 100 Milliarden €  letztes Jahr betrug. Das sind grobe 20 Prozent des gesamten Bundeshaushalts und grobe 30 % der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung.

Selbst wenn die 10 Milliarden € in Zukunft jährlich fließen, sehen wir an den Größenordnungen, dass weder eine nennenswerte „Entlastung“ des Bundeshaushalts erreicht werden kann noch, dass ein wesentlicher Teil der Altersversorgung in Zukunft auf Aktien oder anderen Wertpapieren beruhen wird.

Hieran sehen wir, dass das Vorhaben der FDP – vorerst – gescheitert ist. Inhalt der FDP-Ideen ist ja, dass ein wesentlicher Anteil der Altersversorgung der „privaten“ Verantwortung den Einzelnen aufgebürdet wird. Und dass entsprechende Unternehmen – heute vornehm und verschleiernd als „Finanzdienstleister“ bezeichnet – diesen Einzelnen dann auf der Grundlage von Aktien und Wertpapieren „Altersversorgung“ „verkaufen“.

Es handelt sich auch nicht um einen „Tabubruch“. Es werden keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung dazu benutzt, um auf den internationalen Finanzmärkten herum zu spekulieren.

Kein Tabubruch aber falsch

Trotzdem ist die Einführung der „Aktienrente“ prinzipiell falsch. Der Staat nimmt Steuergelder und spekuliert damit. Spekulation heißt ja nicht nur etwas Unsicheres tun, oder um ein anderes Wort zu nutzen: Wetten auf die Zukunft abzuschließen.

Kauft der KENFO Staatsanleihen anderer Länder, die höher verzinst sind als in Deutschland, werden diese Zinsen ja am Ende von den Menschen in diesen Ländern durch Steuern oder Kürzung der Sozialleistungen oder durch Privatisierungen oder unfaire Handelsabkommen usw. bezahlt.

Oder es heißt konkret, dass Geld in der einen oder anderen Form an privatwirtschaftliche Unternehmen verliehen wird und der Staat durch die Zinsen für das verliehene Geld was verdient. In dieser Logik müssen diese Unternehmen dann Gewinn erwirtschaften. Wir wissen aber, dass der Gewinn von den Beschäftigten erarbeitet wird. Der Staat beteiligt sich also weltweit daran, dass in Unternehmen Druck auf Beschäftigte ausgeübt wird, damit ein Gewinn erarbeitet wird – und natürlich mit mehr Druck mehr Gewinn. Und das Ganze läuft unter dem Vorwand, die Altersversorgung von Beschäftigten abzusichern.

Finanzspekulation fördert Ausbeutung global

Gleichzeitig wissen wir auch – und auch hier ist die FDP das Sprachrohr der liberalen, bzw. neoliberalen Interessen –, dass das Finanzkapital international verzweifelt nach renditeträchtigen Anlagemöglichkeiten sucht. Dazu gehören dann z. B. auch die Privatisierung des Gesundheitssystems. Und das sind nicht nur Krankenhäuser im Besitz von Aktiengesellschaften. Das sind auch Online-Apotheken oder Arztpraxen als Ketten im Konzernbesitz. Ein anderes Beispiel wäre der Verkauf kommunaler Wohnungen an Wohnungskonzerne.

Schon an diesen beiden Beispielen hört die Aktienrente auf, abstrakt und theoretisch zu sein. Ein erhöhter Renditedruck im Gesundheitswesen oder bei Mietwohnungen betrifft Menschen ganz konkret. Unser Staat beteiligt sich in Zukunft mit überwiegend von den abhängig Beschäftigten hierzulande aufgebrachten Steuermitteln global an einer Verschärfung der Ausbeutung.

Globaler Irrsinn

Der US-amerikanische Autor Benjamin Braun Fueling Financialization: The Economic Consequences of Funded Pensions – Benjamin Braun, 2022 (sagepub.com)  führt aus, dass allein Pensionsfonds aus den USA ein Anlagevermögen von 35 Billionen US $ hätten und damit 62 % der weltweiten Pensionsvermögen, also von ca. 56 Billionen US $ darstellen.  (Eine Billion ist eine 1 mit 12 Nullen.) Diese Summen werden von Kapitalanlagegesellschaften wie Blackrock, Vanguard, Street One und vielen anderen weltweit „angelegt“. Braun stellt dies in den Zusammenhang einer in den letzten fünf Jahrzehnten enorm gewachsenen „Finanzialisierung“ des Wirtschaftslebens. Ein „Assetmanager“ (also einer der Anlagen aussucht und managt) einer der großen Fonds ist längst viel einflussreicher als der Präsident einer international tätigen Großbank. Und er beschreibt, wie der Drang nach Rendite ständig die gesetzlichen Beschränkungen für die Anlagemöglichkeiten ausgeweitet hat, indem diese Fonds Druck auf Regierungen – und nicht nur in den US – ausgeübt haben.

Die Rücklagen fürs Alter, die abhängig Beschäftigte vom laufenden Einkommen sparen, verwandeln sich über die private Altersversorgung in eine Peitsche eben für diese abhängig Beschäftigten, wenn die „Assetmanager“ Mietwohnungen kaufen und die Mieten erhöhen, Pflegeheime kaufen und dann am Personal sparen, Firmen kaufen und Arbeitsplätze vernichten und Löhne kürzen.

Besser Umlage als Aktien

Anders als in den US ist die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland ein „Umlagesystem“. Diejenigen, die einer Lohnarbeit nachgehen, müssen einen Teil ihres Lohn als Beitrag an die Rentenversicherung abführen. Mit diesen Mitteln werden dann die Renten an die Alten (auch an die Erwerbsgeminderten und Hinterbliebenen) gezahlt. Dabei decken die Einnahmen die Ausgaben nur zu rund zwei Dritteln, den Rest (100 Milliarden €) muss der Staat über einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt aus den allgemeinen Steuern zahlen.

Das System weist also erhebliche Lücken auf, ist aber natürlich immer noch besser, als wenn die Altersversorgung von einem Kapitalmarkt mit den oben beschriebenen Folgen abhängig ist. Insoweit ist die eher kosmetische Größenordnung der „Aktienrente“ im Moment eine politische Bauchlandung des Neoliberalismus. Dass die Fonds und Finanzkapitalisten nicht aufgeben werden und irgendwann ein neuer Versuch unternommen wird, ist dabei auch klar.

Dass die Frage der Altersversorgung ein hohe politische Bedeutung entwickeln kann, sehen wir im Moment an den massiven Klassenkämpfen in Frankreich. Auch hierzulande ist das Vertrauen der Jüngeren in eine sichere Altersversorgung gebrochen. Es ist vielen klar, die gesetzliche Rente reicht nach den Reformen der Agenda 2010 nicht für ein gutes Leben nach der Arbeit. Zum Verhungern zu viel aber zum Leben zu wenig. Und hinsichtlich der Älteren sollte wir politisch im Blick behalten, dass immerhin knapp ein Viertel der Bevölkerung (18,6 Millionen von ca. 82 Menschen) AltersrentnerInnen sind. Auf diese Wähler wird politisch Rücksicht genommen.

Die Rückschritte bei der Altersversorgung durch die Agenda 2010 sind in Deutschland viel massiver ausgefallen als die jetzt in Frankreich geplanten Maßnahmen. Wenn man mal von der Selbstzerstörung der SPD durch die Agenda 2010 absieht, ist der politische Flurschaden in Deutschland begrenzt geblieben. Das schützt uns aber nicht vor weiteren, schleichenden, auf Jahrzehnte gestreckten Vorhaben, die gesetzliche Rentenversicherung weiter auszuhöhlen.

Rentenbeiträge erhöhen?
Wenn die Ausgaben für Renten nicht durch die Einnahmen gedeckt werden können, warum werden dann nicht die Beiträge angehoben?
Wer als Lohnarbeitende auf seine Abrechnung am Ende des Monats guckt, entdeckt den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil zur Rentenversicherung (auch zu Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung). Das ist aber nur Verschleierung. In Wirklichkeit ist es Teil des Lohns. Hat jemand 3.000.-€ Bruttomonatsverdienst, so zahlt der sogenannte Arbeitgeber noch mal knapp 20 % „Arbeitgeberanteile“; also knapp 600.-€ obendrauf. Diese 120% sind der eigentliche Lohn, wie er in einem privaten Unternehmen als Ausgaben für Lohn und Gehalt auch in den Büchern geführt wird. Der Staat steckt nur vor Auszahlung schon mal die Hand aus und kassiert zwangsweise für die Sozialversicherungen.
Würde der Staat die Beiträge zur Sozialversicherung – und das gilt nicht nur für die Rente – anheben, würde damit der Lohn der abhängig Beschäftigten erhöht werden, nämlich um den Teil, den ein gestiegener Arbeitgeberanteil ausmacht. Das ist nun aber mit den notleidenden Kapitalisten in diesem Land gar nicht zu machen.
Neoliberales Erbe Agenda 2010
Das hatte schon die Rot-Grüne Regierung unter Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 erkannt. In der neoliberalen Wirtschaftstheorie, die nichts anderes ist als der ungeschminkte Ausdruck des Einzelinteresses der Unternehmen, darf die Lohnarbeit nicht teurer werden, das beeinflusst die internationale Konkurrenzfähigkeit negativ, es wird sofort das übliche Geheule angestimmt. Wahr ist, wenn die Lohnarbeit teurer wird, dann bedroht das die Gewinne der Unternehmen. Dabei wäre es im gesellschaftlichen Interesse, dass es eine gute Altersversorgung gibt. Diese politische Auseinandersetzung haben wir seinerzeit aber verloren.
Die Rentenreform der Schröderregierung hat sogar als neoliberales Dogma in der Gesetzgebung durchgesetzt, dass der Rentenbeitrag (AN- und AG-Anteil zusammen) nicht über 22 % steigen darf (Aktuell 18.6%). Damit dies erreicht wird, wurden zukünftige Renten massiv abgesenkt und das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre angehoben.

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