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Daria Saburova beim Frauenstreik in Paris:

Krieg oder Frieden? Ein falsches Dilemma in der Kontroverse um die Ukraine

Von Daria Saburova | 30.03.2024

Der Wahlkampf zu den Europawahlen im Juni 2024 wird in Frankreich, unter anderem wegen der Erstarkung der Extrem-Rechten um Marine Le Pen, um einiges heftiger geführt als in Deutschland. In den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien spielt der Krieg in der Ukraine eine gewichtige Rolle. Inhaltlich ähnelt diese Debatte in vielem dem, was auch in Deutschland diskutiert wird. Deshalb veröffentlichen wir in diesem Zusammenhang den Redebeitrag von Daria Saburova, Forscherin, Kämpferin für die Rechte der Palästinenser*innen und Mitglied des Europäischen Netzwerkes zur Solidarität mit der Ukraine beim Frauenstreik in Paris am 12. März 2024.

Ich möchte diese Einladung nutzen, um einige Dinge über die Auseinandersetzungen klarzustellen, die seit einigen Wochen über die Ukraine geführt werden. Die erste Auseinandersetzung betrifft die von der europäischen Bauernbewegung ausgelöste Debatte über den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Die zweite wurde durch Macrons Aufwerfen der Möglichkeit der Entsendung von Truppen in die Ukraine ausgelöst. In beiden Fällen wird die Ukraine-Frage von allen politischen Kräften zynisch für ein Spiel zu Differenzierungen im Wahlkampf genutzt. Sie wird mit Argumenten geführt, die nichts mit der Realität vor Ort zu tun haben, und das hat keine andere Folge, als die Unterstützung der Öffentlichkeit für den ukrainischen Widerstand zu untergraben. Ich werde mich auf die zweite Auseinandersetzung konzentrieren, weil die militärische Unterstützung weiterhin im Mittelpunkt der Forderungen steht, die die Ukrainerinnen und Ukrainer an die Europäer richten.

Von anderen europäischen Politikern und dem NATO-Generalsekretär kritisiert, wurden Macrons Äußerungen auch von der ukrainischen Regierung sofort zurückgewiesen. Tatsächlich hat die Ukraine nie um die Entsendung von Truppen gebeten. Sie fordert Waffen und vor allem Munition. In dieser Hinsicht ist der Beitrag Frankreichs, egal was man sagt, bisher relativ bescheiden: Nach Angaben der französischen Regierung beläuft er sich auf 3,8 Milliarden Euro in zwei Jahren, bei einem Militärhaushalt von über 40 Milliarden Euro pro Jahr, was etwa 4 % der gesamten Militärausgaben des Landes entspricht. In Wirklichkeit sind diese Zahlen, wie eine aktuelle Untersuchung von Mediapart (hier auf Französisch) zeigt, stark aufgebläht, da der tatsächliche Wert der Hilfe um ein Vielfaches geringer ist.

Mit seinem Getöse über die Entsendung von Truppen in die Ukraine hat Macron nicht nur sein Ziel im Wettbewerb um die europäische Führung verfehlt. Diese Äußerungen haben allen politischen Kräften Auftrieb gegeben, die sich mehr oder weniger offen, wenn die politische Situation es zulässt, von Anfang an gegen die militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen haben: natürlich der Rassemblement National, aber auch die Parteien der institutionellen Linken, wie die Kommunistische Partei und La France Insoumise. Man muss feststellen, dass sie Hand in Hand eine neue anti-ukrainische Kampagne starten, die sowohl den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union als auch das am 16. Februar zwischen Frankreich und der Ukraine unterzeichnete bilaterale Sicherheitsabkommen (hier auf Französisch) betrifft. Schlimmer noch, wie jetzt bekannt wurde: Während die extreme Rechte sich für eine Stimmenthaltung entschied, beschlossen die Kommunistische Partei und die Partei France Insoumise, gegen dieses Sicherheitsabkommen zu stimmen.

Einige Worte zu seinem Inhalt und zu dem, was France Insoumise stattdessen vorschlägt. Was die France Insoumise stört, sind die grundsätzlichen Aussagen, die dieses Dokument enthält: “Frankreich bekräftigt das Ziel der Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union” und “bestätigt, dass die künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO einen nützlichen Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa darstellen würde.” Wenn man sich diesen Text jedoch konkret im Detail ansieht, steht nicht nur nichts über die Entsendung von Bodentruppen in der aktuellen Phase des Krieges, sondern es ist auch nichts dergleichen für den Fall vorgesehen, dass die Ukraine nach einem Waffenstillstand oder der Unterzeichnung eines Friedensabkommens erneut überfallen wird. Konkret, ich zitiere: “Im Falle eines künftigen bewaffneten russischen Angriffs auf die Ukraine […] wird der französische Teilnehmer der Ukraine rasche und nachhaltige Sicherheitsunterstützung, nach Bedarf moderne militärische Ausrüstung in allen Bereichen und wirtschaftliche Unterstützung gewähren.” Der Rest des Dokuments geht detailliert auf den Inhalt dieser Unterstützung ein, die Ausbildung, Cyberverteidigung, Waffen usw. umfasst. Konkret: Anstatt Änderungsvorschläge zu machen, lehnt France Insoumise diese minimalen Sicherheitsgarantien ab, die sich im Wesentlichen nicht von denen unterscheiden, die die Ukraine derzeit genießt.

Was schlägt sie stattdessen vor? In einem am 7. März veröffentlichten Video stellt Mélenchon (hier auf Französisch) seine Sicht auf den, wie er es nennt, “Ukraine-Russland-Konflikt” dar. Seiner Meinung nach ist “die einzige Strategie, die Sinn macht”, das Vorantreiben eines “Friedensplans”. Dazu müsse man die Natur dieses “Ukraine-Russland-Konflikts” verstehen. Zitat Mélenchon: “Bei dem Krieg zwischen Russen und Ukrainern geht es um zwei Dinge: erstens die Grenzen […] und zweitens die gegenseitige Sicherheit. Die Ukrainer wollen nicht mehr in der Angst leben, von den Russen überfallen zu werden. Und die Russen wollen nicht mehr unter Bedingungen leben, unter denen sie nach eigenen Angaben erstens der Bedrohung durch eine militärische Intervention der NATO ausgesetzt sind und zweitens Bevölkerungen, die darum gebeten haben, in das russische Ganze aufgenommen zu werden, bedroht werden.” Um zu einer Einigung zu gelangen, soll eine “Grenzkonferenz” abgehalten werden, auf der, ich zitiere, “die betroffenen Bevölkerungen gefragt werden, an was, an wen sie angegliedert werden wollen. Die Stimme des Volkes ist die Lösung, nicht das Problem. […] Wenn diese Fragen durch ein Referendum geklärt werden, dann haben wir alle Elemente für einen Frieden.”

Ich werde mich nicht lange mit dieser Argumentation aufhalten. Ich will lediglich daran erinnern, dass es sich hier nicht um einen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland über Grenzen und gegenseitige Sicherheit handelt, sondern um eine brutale, absolut ungerechtfertigte Invasion und Besetzung ukrainischer Gebiete durch die russische Armee. Dass die Bedrohung durch die NATO und die angebliche Forderung der russischsprachigen Bevölkerung, militärisch einzugreifen, um sie vor der ukrainischen Regierung zu schützen, ist pure russische Propaganda. Das Gerede über Referenden in den besetzten Gebieten ist ein niederträchtiger Vorschlag, da Mélenchon sehr wohl weiß, dass eine demokratische Organisation dieser Referenden unmöglich ist. Russland hat bereits ein Scheinreferendum über die besetzten Gebiete abgehalten, bei dem mehr als 90% der Stimmen für den Anschluss an Russland abgegeben wurden. Wie würde man Russland zwingen, die Flüchtlinge sicher zurückkehren zu lassen, damit sie wählen können, die russischen Siedler hingegen zu entfernen, damit sie nicht wählen können und diese Referenden von unabhängigen internationalen Gremien überwachen zu lassen? Es ist absolut unverantwortlich, uns glauben zu machen, dass dies unter den gegenwärtigen Bedingungen möglich ist.

Betrachten wir die Lage realistisch. Angesichts der Situation, in der sich die Ukraine derzeit befindet, ist es vernünftig anzunehmen, dass ein Waffenstillstand entlang der Frontlinie, die am wenigsten schlechte Option ist. Die hohe Zahl an Toten und Verwundeten, der Mangel an Munition und geeigneter Ausrüstung usw. entmutigt die ukrainischen Truppen. Die ukrainischen Zivilisten wiederum zeigen wenig Neigung, diejenigen zu ersetzen, die bereits an der Front sind: Nach dem Scheitern der Gegenoffensive im Sommer bewegt sich die Demarkationslinie nicht mehr zugunsten der Ukraine und sie weicht auch nicht weit genug zurück, damit die Menschen im Hinterland wieder eine existentielle Bedrohung spüren, die sie dazu motivieren würde, sich freiwillig zu melden, wie es anfangs der Fall war. Die Spannungen innerhalb der ukrainischen Gesellschaft sind sehr real. Jeder will, dass der Krieg aufhört.

Allerdings müssen die Bedingungen für einen solchen Waffenstillstand gegeben sein, und in erster Linie muss Putin ein Interesse daran haben, den Krieg zu beenden und die künftige Nichtangriffsverpflichtung einzuhalten. Genau dies ist jedoch nicht der Fall: Die russische Armee hat wieder die Initiative ergriffen. Der Krieg ermöglicht es dem Regime, sich im Inneren des Landes zu stärken, das auf “Kriegswirtschaft” umgestellt wurde. Die kürzliche Ermordung des Oppositionspolitikers Alexey Navalny markiert eine neue Stufe der politischen Unterdrückung. Die ganze Welt war zu Recht bewegt, als Tausende russische Kriegsgegner in Moskau aufmarschierten und Blumen am Grab des Oppositionspolitikers niederlegten. Leider deutet trotz der Emotionen und der Hoffnung, die diese Geste weckt, nichts darauf hin, dass es in nächster Zeit zu einem Volksaufstand kommt, der etwas von innen heraus verändern könnte. Das Putin-Regime ernährt sich nun vom Krieg, sowohl intern als auch international, wo sein offenes Ziel darin besteht, die Aggression in der Ukraine zu nutzen, um die geopolitischen Machtverhältnisse neu zu ordnen. Im Moment ist es schwer vorstellbar, dass ihn etwas weniger als eine Kapitulation der Ukraine zufriedenstellen könnte.

Die Ukrainer ihrerseits sind in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht bereit, eine Kapitulation zu akzeptieren. Man kann so viel über einen sofortigen Waffenstillstand als Alternative zur militärischen Unterstützung reden, wie man will, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass dies nur leere Worthülsen sind, die für die französische Öffentlichkeit im Rahmen des Wahlkampfes bestimmt sind. Sicherlich müssen die Kämpfe eines Tages aufhören, und es wird einen Waffenstillstand in der einen oder anderen Form geben. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen für die Ukraine dies stattfinden wird: Wird sie in der Offensive sein? Wird sie ausreichend bewaffnet und unterstützt sein, um sich in der vorteilhaftesten Situation zu befinden? Welche Sicherheitsgarantien ist man bereit im  ganz wahrscheinlichen Fall einer weiteren Invasion zu geben? Wir befinden uns in einer Zeit großer Unsicherheit darüber, wie sich die Situation entwickeln wird, was von vielen Faktoren abhängt. Und in dieser Ungewissheit ist es am vernünftigsten und fairsten, die Militärhilfe für die Ukraine weiterhin zu unterstützen. 

Mir ist bewusst, dass es als Feministin schwierig ist, eine solche Position einzunehmen. Sie berührt die Frage der Identität der Bewegung, ihres Antimilitarismus und der Opposition gegen den Staat. Der ukrainische Widerstand ist zum Stachel im Fleisch aller antikapitalistischen, feministischen und antiimperialistischen Organisationen geworden. Einige haben es vorgezogen, die Reinheit ihrer Prinzipien auf Kosten der Analyse der Situation und der konkreten Solidarität zu bewahren. Ich glaube jedoch, und das behauptete das ukrainische feministische Manifest bereits 2022, dass feministisches Denken und feministische Praxis am besten in der Lage sind, sich konsequent auf die Seite der Erfahrung zu stellen, und zwar im Hinblick auf die unmittelbaren Interessen von Frauen, die Opfer von Unterdrückung sind, aber auch von Frauen im Widerstand, wo immer sie sich befinden. In der Ukraine leisten Zehntausende Frauen bewaffneten Widerstand gegen die Invasion; Hunderttausende arbeiten in den wichtigen öffentlichen Diensten, Millionen sind ehrenamtlich engagiert. Als Feministinnen müssen wir verstehen können, dass sich unser Handeln dem Standpunkt anpasst, von dem aus wir uns engagieren.

Was die Unterstützung Palästinas betrifft, so agieren wir innerhalb des Lagers, das den Aggressor unterstützt. Am effektivsten ist es daher, wenn wir gegen Waffenlieferungen und für die bedingungslose Einstellung der Kampfhandlungen durch Israel kämpfen. Diese Art von Aktivität versuchen russische und weißrussische Feministinnen im Rahmen ihrer Kräfte gegenüber ihren Regierungen. Was die Ukraine betrifft, befinden wir uns jedoch in einem Land [Frankreich], das dem Angegriffenen Unterstützung gewährt. Solange es keine realistischen Alternativen gibt, verlangt die Solidarität, dass wir die Waffenlieferungen an die Ukraine unterstützen und dass wir im Gegensatz zu Campisten aller Seiten verkünden: “Von der Ukraine bis Palästina, Besatzung ist ein Verbrechen!”.

Dieser Redebeitrag von Daria Saburova wurde zuerst veröffentlicht am 15. März 2024 bei Metdiapart. Auf Englisch wurde der Text von Daria Saburova am 18. März 2024 im International Viewpoint unter dem Titel “Ukraine: War or peace? A false dilemma in the controversy. Die Übersetzung ins Deutsche hat Wolfang Weitz angefertigt.

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