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Julija Kischtschuk zum Solidaritätsbrief mit dem palästinensischen Volk:

Interview zur Solidarität von Unterdrückten

Von Julija Kischtschuk im Gespräch mit Ashley Smith | 22.11.2023

Ukrainische Aktivist:innen haben sich in einem offenen Brief mit Palästina solidarisch erklärt.

Unsere Welt wird von zwei entsetzlichen Kriegen auseinandergerissen. Israel führt einen völkermörderischen Krieg gegen Palästina, in dem es zehntausende Menschen in Gaza massakriert oder verwundet. Gleichzeitig setzt Russland seinen imperialistischen Krieg zur Annexion der Ukraine fort, wobei es eine unbekannte Anzahl von Personen tötet oder verstümmelt.

Statt Solidarität zwischen dem palästinischen und ukrainischen Kampf um Selbstbestimmung herzustellen, praktizieren verschiedene imperialistische Mächte, aber auch einige auf der Linken eine selektive Solidarität, indem sie den einen, aber nicht den anderen unterstützen. Ukrainische Aktivist:innen haben dieses Vorgehen infrage gestellt, indem sie einen „Ukrainischen Solidaritätsbrief mit dem palästinischen Volk“ veröffentlicht haben.

Ashley Smith, Mitarbeiter von Truthout, interviewt Julija Kischtschuk zu beiden Kämpfen, ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden und zu der dringenden Notwendigkeit, Solidarität ohne Ausnahmen zwischen ausgebeuteten und unterdrückten Völkern herzustellen.

Julija Kischtschuk ist eine fachübergreifende Forscherin und Aktivistin. Zu ihren Forschungsgebieten gehören ukrainische bildende Kunst in der späten sozialistischen Periode, dekoloniale und postkoloniale Methoden, Environmental Humanities und feministische Theorie.

Ashley Smith: Die Biden-Administration und andere Regierungen einschließlich der Regierung von Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine haben eine Gleichsetzung von Ukraine und Israel vorgenommen. Was ist daran falsch und was sind die Auswirkungen? Ist die Parallele zwischen der Ukraine und Palästina nicht besser?

Julija Kischtschuk: Die Ukraine hat weder jemand Land weggenommen noch zivile Infrastruktur bombardiert, daraus folgt, dass dem Vergleich der Ukraine mit Israel analytische Exaktheit fehlt. Leute, die die Ukraine mit Israel vergleichen, denken für gewöhnlich nicht, dass es sich bei Israel um einen kolonialen Siedlerstaat handelt. In ihrer Vorstellung handelt es sich bei Israel um einen erfolgreichen Staat, der es schafft zu überleben, während er von „Feinden umgeben ist“.

Sie behaupten außerdem, Israel sei „die einzige Demokratie im Mittleren Osten“. Das übersieht die Tatsache, dass Israel, während es liberale Werte verkündet, palästinisches Land besetzt und die Rechte der Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten missachtet.

In Wirklichkeit haben Israel und Russland mehr gemeinsam. Sie verwenden die gleiche Rechtfertigung: „Recht auf Selbstverteidigung“, um in ein Land, das ihnen nicht rechtmäßig gehört, einzufallen und es zu besetzen.

Ihre politischen Regime sind auch ähnlich; beide stehen politisch weit rechts, sind autoritär und überschütten ihre Bevölkerung mit Hass und sogar völkermörderischer Propaganda in Bezug auf Ukrainer:innen und Palästinenser:innen. Beide sind Unterdrücker-Staaten.

In dieser Situation sind die unterdrückten Nationen die Ukraine und Palästina. Beide erfahren Besatzung, Landraub und ethnische Säuberung. Sowohl die Ukrainer:innen als auch die Palästinenser:innen haben das Gefühl, dass die Vereinten Nationen weitgehend ineffektiv gewesen sind und weiter sein werden, solange Russland und die Vereinigten Staaten ein Veto-Recht im Sicherheitsrat haben.

Um Druck auf Israel und Russland auszuüben, verwenden wir Sanktionen und boykottieren Firmen, die weitermachen „wie gewohnt“. Starke Bezüge zum Land halten sowohl Ukrainer:innen als auch Palästinenser:innen davon ab, als Lösung ihre besetzten Gebiete aufzugeben.

Weil sie Ereignisse wie die Nakba, den Holodomor und Stalins Zwangsvertreibung durchstehen mussten, haben sowohl Ukrainer:innen als auch Palästinenser:innen tiefe Generationstraumata, die durch die andauernden Aggressionen verschlimmert werden. Wir haben eine gemeinsame obwohl unterschiedliche Erfahrung von nationaler Unterdrückung.

Ashley Smith: In beiden Kämpfen wurde die Frage eines Waffenstillstands aufgeworfen. In Bezug auf Gaza befürworten die meisten Linken die Forderung nach einem Waffenstillstand und verbinden sie mit anderen Forderungen wie Beendigung der israelischen Belagerung, der Besatzung und des Apartheid-Staates. In Bezug auf die Ukraine unterstützen diejenigen, die ihren Kampf unterstützen, die Forderung nach einem Waffenstillstand nicht. Was hältst Du von diesem Unterschied? Wie sollten wir über die Waffenstillstandsforderung im Konkreten und nicht im Abstrakten denken?

Julija Kischtschuk: Zwischen den zwei Forderungen gibt es einen wesentlichen Unterschied. Im Falle von Gaza kommt die Forderung nach Waffenstillstand von den Palästinenser:innen; im Falle der Ukraine wird uns die Forderung von Gruppen westlicher Linker, die unsere Stimmen ignorieren, übergestülpt.

In diesen beiden Fällen stecken hinter den Rufen nach Waffenstillstand unterschiedliche Ziele und Politiken. Die Forderung der westlichen Linken „den Krieg in der Ukraine beenden“ richtet sich hauptsächlich an die Ukrainer:innen und ihre Verbündeten, nicht jedoch an Russland, die überfallende Macht. Es handelt sich also um eine Aufforderung an das unterdrückte Volk, seinen Befreiungskampf einzustellen und ist daher reaktionär.

Im Fall von Gaza richten sich die Proteste direkt gegen Israel und die westlichen Regierungen, sie werden aufgefordert, konkrete Schritte zu unternehmen, um die ethnischen Massentötungen von Palästinenser:innen zu stoppen. Es handelt sich also um eine Forderung, die sich an den westlichen Imperialismus und Israel, die Unterdrückernation, richtet und ist daher fortschrittlich.

Im palästinensischen Kontext würde ein sofortiger Waffenstillstand das Leben von Zivilist:innen retten. Im Fall der Ukraine würden ein Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen die Besetzung ukrainischen Landes bestätigen und die Zivilist:innen in diesen Gebieten Repression, Folter und Mord unterwerfen.

Sowohl Ukrainer:innen als auch Palästinenser:innen verstehen, dass für einen dauerhaften Frieden Gerechtigkeit und konkrete Sicherheitsgarantien benötig werden. Daher ist in beiden Fällen ein Waffenstillstand allein nicht die ultimative Forderung.

Ashley Smith: Wie sieht die Geschichte der ukrainischen Beziehungen zu Palästina aus? Welche formalen politischen Positionen hat die Ukraine in der UN und auf diplomatischer Ebene eingenommen?

Julija Kischtschuk: Die Ukraine hat sich auf die Zwei-Staaten-Lösung festgelegt. Diplomatische Verbindungen zwischen den zwei Nationen wurden offiziell am 2. November 2001 aufgenommen, verbunden mit der Eröffnung der Palästinensischen Botschaft in Kiew. Die Ukraine hat konsequent die UN-Resolutionen unterstützt, in denen die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete verurteilt wurde.

In der bisher letzten UN-Abstimmung am 12. November stimmte die Ukraine für die Beendigung der israelischen Besetzung Palästinas. Diese Resolution forderte eine internationale Untersuchung der israelischen Besetzung der palästinischen Gebiete in der West Bank. Es ist auch äußerst wichtig festzuhalten, dass Palästina 2014 die Annexion der Krim nicht unterstützte und die territoriale Integrität der Ukraine vollständig unterstützte.

Darüber hinaus gibt es konkrete Verbindungen zwischen unseren Völkern. Vor der umfassenden Invasion lebten mehr als 4000 Palästinenser:innen in der Ukraine. Viele von ihnen kamen zu Studienzwecken, gründeten Familien und Geschäfte. Andererseits wohnten tausende von Ukrainer:innen, meist Frauen und Kinder im besetzten und belagerten Palästina, davon 830 in Gaza. Die exakte Anzahl von Kindern ukrainischer-palästinensischer Haushalte ist nicht bekannt, aber tragischerweise erdulden sie jetzt das kumulierte Trauma von Krieg, Vertreibung und Besatzung.

Ashley Smith: Eine Herausforderung für die Ukraine und ihren Befreiungskampf gegen den russischen Imperialismus ist die Gewinnung von Unterstützung durch den Globalen Süden. Im Gegensatz dazu hat Palästina die überwältigende Unterstützung des Globalen Südens, weil er in ihm ein Echo seiner eigenen Befreiungskämpfe sieht. Welche Auswirkungen hatte die Gleichsetzung der Ukraine mit Israel durch die Biden-Administration und die Selenskyj-Regierung auf diese Dynamik? Wie kann das geändert werden?

Julija Kischtschuk: Die Erklärung, die Wolodymyr Selenskyj vor kurzem abgegeben hat, hat die ukrainischen diplomatischen Beziehungen mit dem Globalen Süden erheblich beschädigt. Parallelen zwischen der Ukraine, einer Nation, die gegen eine imperialistische Invasion kämpft, und Israel, einem Land, das eine illegale Besatzung unterhält und Schulen und Hospitäler bombardiert, zu ziehen, ist moralisch falsch, verwechselt Unterdrückte und Unterdrücker und zerstört die Solidarität zwischen unterdrückten Völkern.

Ich glaube, dass der wesentlichste Fehler des ukrainischen politischen Establishments, westlicher Journalist:innen und Politiker:innen darin besteht, den Widerstand gegen die russische imperialistische Invasion unter Verwendung von Zivilisations-Rhetorik zu beschreiben, einer Rhetorik, die an Samuel Huntingtons rassistischen Diskurs vom „Zusammenstoß der Zivilisationen“ erinnert. Es ist nicht überraschend, dass eine solche Rhetorik im Globalen Süden keinen Anklang findet.

Indem wir den Kampf als Verteidigung europäischer Zivilisation darstellen, übersehen wir und begreifen wir nicht die koloniale Vergangenheit des westlichen Imperialismus und die Gräueltaten, die er nach wie vor an unterdrückten Völkern auf der ganzen Welt begeht. Daher sind das Verstehen der kolonialen Erfahrungen des Globalen Südens und ein empfindsamerer Umgang damit äußerst wichtig für das Herstellen von Solidarität. Die Verfolgung dieser Perspektive, ohne eurozentrisch zu klingen, erfordert sorgfältiges Nachdenken, Dialog und Kommunikation.

Gleichzeitig stellt sich Russland als dekolonisierende Kraft dar, die dem westlichen Imperialismus entgegenstellt. Es verpasst keine Gelegenheit, um Kriegsverbrechen seiner Rivalen zu verurteilen, wie im Falle von Wladimir Putins Aussagen zur Unterstützung von Palästina vor kurzem. Aber im Angesicht fortdauernder Kriegsverbrechen seines Regimes in der Ukraine stinkt das natürlich nach Scheinheiligkeit.

Wir müssen erkennen, dass die westlichen und nicht-westlichen Imperialismen ähnlich vorgehen; und wir müssen uns beiden widersetzen. Nur ein solcher Widerstand kann wirkliche Solidarität zwischen dekolonialen Kämpfen überall auf der Welt fördern.

Ashley Smith: Russland hat eine Invasion der Ukraine mit stillschweigender Unterstützung durch China durchgeführt. Gleichzeitig haben sowohl Russland als auch China einen Waffenstillstand gefordert und sich als Freunde Palästinas dargestellt, obwohl beide enge diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Israel unterhalten. Die USA ihrerseits haben die Ukraine bei ihrem Befreiungskampf unterstützt, aber Israel, sein Apartheid-Regime, die Besatzung und seinen aktuellen genozidalen Krieg unterstützt. Was bedeutet das für die Beziehung der beiden nationalen Befreiungskämpfe zu diesen unterschiedlichen imperialistischen Mächten?

Julija Kischtschuk: Was das angeht, bin ich im Moment leider ziemlich pessimistisch. Pragmatische Allianzen machen es schwierig, eine Politik dauerhafter Solidarität zwischen der Ukraine und Palästina zu verfolgen.

Für Ukrainer:innen ist es schwer mit Palästina zu sympathisieren, weil es oft mit Hamas gleichgesetzt wird, die vielfach als Stellvertreter von Russland und Iran betrachtet werden. Es ist ein übliches Missverständnis in der Ukraine und im Westen, dass die Palästinenser:innen Russland unterstützen, während in Wirklichkeit 71 Prozent der Palästinenser:innen die Invasion der Ukraine ablehnten.

Das ist also schwierig, aber wir sollten Brücken der Solidarität bauen.

Ashley Smith: Viele auf der Linken sind in den verschiedensten Formen in die Falle selektiver Solidarität gegangen. Viele haben die Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland nicht unterstützt. Andere haben Palästina in seinem Kampf für die Befreiung von israelischer Besatzung nicht unterstützt. Was hältst Du von diesem Muster? Was ist die Alternative zu solch selektiver Solidarität?

Julija Kischtschuk: Wir müssen Solidarität fördern, die die grob vereinfachende Politik aus Zeiten des Kalten Krieges überwindet. Das bedeutet Unterstützung für alle ausgebeuteten und unterdrückten Völker ungeachtet der politischen Haltung ihrer Regierungen.

Während eine bloß pragmatische Herangehensweise es so erscheinen lässt, als gebe es nur wenig Raum für Solidarität zwischen den Ukrainer:innen und den Palästinenser:innen, glaube ich fest, dass da mehr existiert als bloßer Pragmatismus und die Weisheit „der Feind meines Feindes ist mein Freund“.

Solidarität bedeutet harte Arbeit und es ist oft zum Verzweifeln, wenn unangenehme Fragen zu der existierenden geopolitischen Ordnung und problematischen Allianzen angesprochen werden. Erforderlich ist aber auch, einen Raum gegenseitiger Empathie und gegenseitigen Verständnisses zu schaffen.

Letztes Jahr habe ich in Hebron einen palästinensischen Aktivisten getroffen, dessen Bruder in den Territorialverteidigungseinheiten in Charkiw dem russischen Imperialismus Widerstand leistet. Ich habe auch mit vielen Leuten gesprochen, die wirkliche Empathie für die Ukrainer:innen fühlten.

Ich denke, dass es nur dann möglich wird, über selektive Solidarität hinauszugehen, wenn ein gegenseitiges Verständnis gemeinsamer Erfahrungen von Gräueltaten und Besatzung entwickelt wird. Die Ukraine ist ein realer Ort mit realer Zerstörung und realem Krieg, genauso wie Palästina. Nur wenn wir uneingeschränkte Solidarität von unten aufbauen, können wir unseren gemeinsamen Kampf für eine bessere Welt gewinnen.

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Weitz. Quelle: https://truthout.org/articles/in-newly-released-letter-ukrainian-activists-declare-solidarity-with-palestine/; Französische Version unter https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article68738

Ashley Smith ist ein sozialistischer Autor und Aktivist aus in Burlington, Vermont. Er hat in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, darunter Truthout, International Socialist Review, Socialist Worker, ZNet, Jacobin, New Politics. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch mit dem title Socialism and Anti-Imperialism, das bei Haymarket Books erscheinen wird.

Julija Kischtschuk (anglisiert: Yuliia Kishchuk) hat am Slavic Studies Department der New York University studiert. Sie gehörte zu den Unterzeichner:innen des Manifests „Das Recht auf Widerstand“ von ukrainischen Feministinnen, das im Juli 2022 auf der Webseite der ukrainischen Zeitschrift Spilne/Commons und auf Deutsch auf Emanzipation veröffentlicht worden ist.

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