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Die Gewerkschaften der Bundesrepublik

01.08.2003

Von der vorsichtigen Gegenmacht zur Standort-Koalition im Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit

Die Gewerkschaften sind heute einer massiven Kampagne der Unternehmer und der Öffentlichkeit ausgesetzt, die sie als Fortschrittsbremse und Blockierer verteufelt. Diese Kampagne trägt gewerkschaftsfeindliche Züge und suggeriert zum ersten Mal seit dem Bestehen der Bundesrepublik, dass sie als Vertretungsmacht der abhängig Beschäftigten beiseite geschoben werden sollen, wenn sie nicht bereit sind, sich dem Diktat der Unternehmer zu beugen. Hier wiederholt sich auf höherem Niveau und in aggressiverer Tonart, was Bundeskanzler Schröder bereits mit der Agenda 2010 zum Ausdruck gebracht hat: Die Kapitalseite sucht nicht mehr unbedingt den Konsens mit den Gewerkschaften – ist sogar bereit, diese frontal anzugreifen –, und die SPD an der Regierung vermittelt nicht mehr notwendig zwischen den gegensätzlichen Klasseninteressen. Dies bedeutet eine Aufkündigung der alten Sozialpartnerschaft seitens des Kapitals und ist zugleich Ausdruck der Verschlechterung der Klassenposition der Arbeiterbewegung. Die schleichende Übernahme neoliberaler Argumentationsmuster durch die Gewerkschaftsführungen und die katastrophalen Folgen der ungehemmten Privatisierungspolitik in Ostdeutschland, die die Gewerkschaften über weite Strecken mitgetragen haben, haben ihre institutionelle Position erheblich geschwächt. Dass die sozialen Errungenschaften seit Jahren durch die sozialpartnerschaftliche Kompromisspolitik ausgehöhlt werden, geht an der Stärke der Gewerkschaften nicht spurlos vorbei. Insofern tragen diese einen eigenen Teil Verantwortung für ihre jetzige Lage.

In den 80er Jahren, nach dem endgültigen Ende der Illusion vom grenzenlosen Aufschwung des Kapitalismus und dem Scheitern der keynesianischen Krisenlösung durch die damalige sozialliberale Bundesregierung, gab es in den damals noch rein westdeutschen Gewerkschaften einen Richtungswechsel. Zum Ende der Regierung Schmidt sank deren Bereitschaft, auf die SPD-”GenossInnen” in der Regierung Rücksicht zu nehmen, immer mehr. Zu deutlich war die Dominanz der kleinen Regierungspartei FDP, die die SPD mit ihren wirtschaftsliberalen Positionen (siehe Lambsdorff-Papier) immer mehr in die Bredouille brachte. Die Unzufriedenheit mit der Bundesregierung war nicht mehr zu kanalisieren, und Ende ’81, Anfang ’82 kam es zu breiten Mobilisierungen gegen die unsoziale Politik der Bundesregierung. Deren Träger waren in der Hauptsache linkssozialdemokratische Kräfte (Falken, Jusos, GewerkschaftsfunktionärInnen), aber auch sozialistische oder sich kommunistisch nennende Gruppen und Organisationen.

Die Gewerkschaften besannen sich darauf, eine eigenständige Kraft zu entwickeln. Dies wurde natürlich durch den Antritt der Regierung Kohl wesentlich beschleunigt. Rücksichtnahme auf Parteifreunde war nicht mehr nötig; andererseits sorgte das Regierungsprogramm für klare Fronten, auch wenn es lange nicht so radikal war wie das von Margaret Thatcher in England.

Dem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren begegneten die Gewerkschaften mit der Forderung nach der Einführung der 35-Stunden-Woche. 1984 wagten IG Metall und IG Druck und Papier einen mutigen und letzten Endes auch erfolgreichen Arbeitskampf, an dessen Ende die Vereinbarung über die Einführung der 35-Stunden-Woche, wenn auch in mehreren Schritten, stand. Andere Gewerkschaften wie die der Öffentlichen Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV) gelang es nicht, die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. Die rechten Gewerkschaften wie IG Chemie und IG Bergbau setzten erst gar nicht auf Arbeitszeitverkürzung. Sie wurde erst viel später als Instrument gegen Entlassungen eingesetzt, mit erheblichen Lohneinbußen für die Beschäftigten.

Der Tarifabschluss, der den letzten bedeutenden tarifpolitischen Erfolg der Gewerkschaften gegen die Unternehmer markierte, hatte zwei Pferdefüße:

* Er sah eine schrittweise Einführung der Arbeitszeitverkürzung über einen Zeitraum von 10 Jahren vor; dies hat es Unternehmern erleichtert, die Arbeitszeitverkürzung durch Rationalisierungen, Flexibilisierung und Arbeitsverdichtung aufzufangen. Der Effekt, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde damit erheblich verringert; er wäre nur durch eine radikale und schnelle Umsetzung erreicht worden.

* Die Gewerkschaften haben sich auf ihrem Erfolg ausgeruht und zugelassen, dass keine Kontrollmechanismen zur Überprüfung der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung eingerichtet wurden; sie haben auch keine konkret definierten Arbeitsbedingungen ausgehandelt. Im Gegenteil, sie haben in den Betrieben Härteklauseln zugestimmt und somit einer Verbetrieblichung der Tarifpolitik den Boden bereitet.

In den Monaten des Anschlusses der DDR an die BRD und der Einverleibung der FDGB-Gewerkschaften durch die DGB-Gewerkschaften wuchs der Einfluss der westdeutschen Gewerkschaften, die ja auch gefragt waren, diesen Anschluss mitzugestalten. Diesem Ansinnen kamen sie voll und ganz nach. Oft spielten die entsandten Westbürokraten die Türöffner für das Kapital. Gleichzeitig wurden die Mitgliederlisten der DDR-Gewerkschaften 1:1 übertragen. Die Mitglieder wurden nicht gefragt. Erzogen im Geiste des Antikommunismus haben die westdeutschen Gewerkschaftsführungen weder den Eroberungs- und Plünderungsfeldzug des westdeutschen Kapitals in der DDR kritisiert, noch dem Programm für die Demontage des Industriestandorts Ostdeutschland durch Privatisierung und Deindustrialisierung etwas entgegengesetzt. In diesem Zusammenhang wurden auch die letzten Vergesellschaftungsforderungen aus dem Grundsatzprogramm des DGB gestrichen. In ihren Reihen wuchs wieder die Tendenz, mehr auf gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Mitreden beim Regieren zu setzen.

Der Vereinigungsboom tat sein übriges, die Tendenzen der nationalen ”Euphorie” auch in der Arbeiterbewegung zu stärken. Anfang der 90er Jahre gab es wieder Tarifabschlüsse, die eine wirkliche Erhöhung der Einkommen bedeuteten.

Aber wie es im Kapitalismus so ist: nach jedem Boom kommt die Krise. Und diese wurde von Kapital und Regierung – nunmehr gestützt auf eine tiefgehende Spaltung der deutschen Arbeiterklasse in Ost und West und eine erste flächendeckende Aussetzung des Flächentarifs – dazu genutzt, zum umfassenden Angriff auf die sozialen Er
rungenschaften zu blasen. Dem hatten die Gewerkschaftsführungen nichts entgegenzusetzen.

1994 propagierte der IG Metall Vorsitzende Zwickel – am Ende eines Gewerkschaftstags und ohne Diskussion mit den Delegierten – seine Vorstellungen von einem Bündnis für Arbeit. Die wesentliche Botschaft war, die Gewerkschaften wären zu einer moderaten Tarifpolitik bereit, wenn die Unternehmer dafür neue Arbeitsplätze schaffen würden.

Die Unternehmer und Regierung nahmen diese Einladung gerne an. Aber sie verstanden unter dem Bündnis etwas anderes. Sie setzten ihre komplette Liste mit den Forderungen zum Sozialabbau, zur Deregulierung und Abschaffung von tarifvertraglichen und gesetzlichen Schutzbestimmungen auf die Tagesordnung. Eine Verpflichtung zur Einrichtung neuer Arbeitsplätze wollten sie natürlich nicht eingehen. Als die Regierung Kohl 1996 daranging, die Vorstellungen der Unternehmer in Gesetzesform zu gießen, verließen die Gewerkschaften das Bündnis und mobilisierten gegen den Sozialabbau der Bundesregierung – das war der Anfang vom Ende der Regierung Kohl.

Nach dem Regierungswechsel 1998 versuchten die Gewerkschaften, in der Tarifrunde ’99 endlich wieder eine Steigerung der Einkommen für die Beschäftigten durchzusetzen. Verglichen mit den Abschlüssen Mitte der 90er Jahre waren die Ergebnisse auch nicht so schlecht. Wenige Monate später einigten sich Regierung, Unternehmer und Gewerkschaftsführungen erneut auf eine Neuauflage des Bündnisses, diesmal unter dem Namen ”Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit”. Das führte schnell zur Propagierung einer moderaten Tarifpolitik; nur in wenigen Bereichen, übrigens alle im Organisationsbereich der HBV befanden (Banken, Versicherungen, Einzelhandel), gab es bestenfalls einen Ausgleich für die Erhöhung der Lebenshaltungskosten. Zeitgleich führte die Regierung Schröder einen ersten Angriff auf die Rentenversicherung und öffnete mit der ”Riesterrente” den Weg zur Teilprivatisierung der Altersvorsorge.

Die Regierung Schröder führte noch vor ihrer Wiederwahl unter dem Druck der Lohnnebenkostenkampagne der Unternehmer und einer undurchsichtigen Kampagne gegen die Bundesanstalt für Arbeit einen Frontalangriff auf das System der Arbeitslosenversicherung und die Bundesanstalt selbst. Sie verband dies mit einem Konzept für erste Schritte in der Privatisierung der Gesundheitsversorgung. Nach der Wahl wurden diese Angriffe allesamt mit der Agenda 2010 noch weitaus verschärft: Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, Herausnahme des Krankengelds aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung und Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Gerade der letzte Punkt hat auch den Charakter einer politischen Schlacht um die Macht der Gewerkschaften angenommen. Das hat die Gewerkschaften aus dem Bündnis für Arbeit wieder herausgetrieben und dazu gedrängt, erneut gegen ”die eigene” Regierung zu mobilisieren.

Die anhaltende Neigung der deutschen Gewerkschaften, an der Sozialpartnerschaft festzuhalten, obwohl die Unternehmer sie längst aufgekündigt haben und mittlerweile verbal die Gewerkschaften sogar in Frage stellen, ihre Unfähigkeit, sich aus der Nibelungentreue zur SPD zu lösen und aus der unheilvollen ”Arbeitsteilung” zwischen gewerkschaftlichen (Tarif-) und politischen (Regierungs-)Aufgaben herauszutreten, hat sie massiv in die Defensive gedrückt und dazu verleitet, wichtige Positionen aufzugeben. Letztes unrühmliches Beispiel dafür ist die Leiharbeit: Noch vor 20 Jahren forderte der DGB ihr Verbot; inzwischen haben die Gewerkschaften einen Tarifvertrag mit der Leiharbeitsbranche abgeschlossen, der Erwerbslosen und beruflichen Neueinsteigern keinen gleichen Lohn mehr sichert. Die Gewerkschaften haben damit ihren Teil dazu beigetragen, den Niedriglohnsektor zu schaffen und die Konkurrenz zwischen der abhängig Beschäftigten erheblich zu verschärfen. Hinzu kommen die Positionen, die sie aus blindem Antikommunismus in Ostdeutschland aufgegeben haben.

Die Folgen bleiben nicht aus: Hatten die Gewerkschaften zu Beginn der 90er Jahre noch gut 11 Millionen Mitglieder, sind es 2003 noch etwas über 8 Millionen. In 10 Jahren haben sie gut ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Dies hat massive Auswirkungen auf die Präsenz der Gewerkschaften in den Betrieben, aber auch in den Stadtteilen.

Während der DGB in der Fläche und in seinen Aufgabenbereichen schrumpft, haben die Einzelgewerkschaften versucht, ihr Überleben durch Zusammenschlüsse zu sichern – in vielen Fällen ohne Beteiligung der gewählten FunktionärInnen, geschweige denn der einfachen Mitglieder. Die IG Chemie Papier Keramik fusionierte mit der IG Bergbau und schluckte die IG Leder; die IG Bergbau Chemie Energie ist heute eine rechte Richtungsgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Der IG Metall haben sich die IG Textil und die Gewerkschaft Holz und Kunststoff angeschlossen. Den krönenden Abschluss bildete die Fusion der fünf Gewerkschaften Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), Handel Banken und Versicherungen (HBV), IG Medien und Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) zur Megagewerkschaft ver.di mit fast 3 Millionen Mitgliedern.

Diese Fusionen waren allesamt eine organisatorische Antwort des Apparates auf die Krise der Gewerkschaften. Eine politische Debatte über die Herausforderungen der neoliberalen Politik für die Gewerkschaften und ihre notwendige Neuausrichtung war nicht gewollt und wurde von der Basis auch nur ansatzweise gefordert.

So werden die ausgetretenen Pfade immer neu begangen: hauptsächliche Ausrichtung auf die Kernbelegschaften in den Großbetrieben; der Versuch, neue Mitglieder vorwiegend unter den Besserverdienenden, Angestellte oder Beschäftigte der New Economy zu gewinnen – die sich subjektiv oft dem Kapital näher fühlen als der Arbeiterbewegung, was natürlich mit ihrer privilegierten Stellung in den Betrieben zu tun hat. Konservative Apparatschiks führen diese Leute ganz gerne in ihren Mitgliederlisten als Gegengewicht gegen allzu aufmüpfige Vertrauensleute oder Betriebsräte.

Andererseits kümmern die Gewerkschaften sich kaum um die immer stärker wachsende Zahl von prekär Beschäftigten. Die Kampagne der HBV bei der Firma Schlecker mit sehr guten Erfolgen oder die Arbeit gegen das Tarifdumping bei der City Bank oder die gute Arbeit der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten (NGG) bei McDonald’s sind eher rühmliche Ausnahmen. Aber die große Anzahl von Beschäftigten
in den kleinen Buden der Gewerbeparks, die unter Bedingungen der Illegalität arbeitenden Flüchtlinge in Gaststätten, Baustellen, auf den Feldern bleiben außen vor. Auf den Riesenbaustellen der neu-alten Hauptstadt tummeln sich viele Arbeiter aus den ehemaligen RGW-Staaten*, die weder von einer Gewerkschaft aus ihrem Herkunftsland noch von der hiesigen jemals etwas gehört haben.

Dem entspricht leider auch die Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften auf europäischer oder internationaler Ebene. Selten gibt es Solidaritäts-Aktionen oder auch nur Informationen über Arbeitskämpfe in anderen Ländern. Die 1300 Beschäftigten bei VW-Südafrika wurden im Februar 2000 praktisch mit Unterstützung des Gesamtbetriebsrats und der IG Metall entlassen. Die deutschen Gewerkschaften halten sich nicht einmal an Absprachen mit befreundeten Gewerkschaften in EU-Nachbarländern, z. B. zur Tarifpolitik. Die Abschlüsse 2000 widersprachen den gewerkschaftlichen Übereinkünften über die Höhe der angestrebten Tarifabschlüsse. Demnach hätten die Abschlüsse in der Bundesrepublik mindestens 4% betragen müssen, tatsächlich wurden maximal 3% erreicht. So setzen Abschlüsse in der Bundesrepublik die Gewerkschaften in den Nachbarländern unter Druck.

Die deutschen Gewerkschaften im DGB sind bürokratisch deformiert und politisch faktisch Richtungsgewerkschaften der Sozialdemokratie. Sie sind nationalistisch, patriarchalisch und fast bis zur Selbstaufgabe loyal mit den deutschen Unternehmern. Aber sie sind letztlich nur organisatorischer Ausdruck des allgemeinen Niveaus der Klassenkämpfe. Die Ergebnisse ihrer Politik bei der Verteidigung ihrer Errungenschaften seit Mitte der 80er Jahre sind sehr bescheiden. Sie haben ein Konzept für den Kampf gegen die liberale Offensive vermissen lassen und ihrer eigenen bürokratischen Rolle als Verhandlungspartner wichtige Errungenschaften geopfert: Härtefallklauseln in Tarifverträgen, untertarifliche Einstiegslöhne, ertragsabhängige Tarifabschlüsse sind nur einige Beispiele dafür.

Diese Politik fällt ihnen heute auf die Füße. Die Unternehmer versuchen die Gewerkschaften als Tarifpartner aus zu bremsen wo sie nur können. Und die SPD entpuppt sich als das zuverlässigste Instrument für die Umsetzung der neoliberalen Agenda. Nach zweimaligem Scheitern des Bündnisses für Arbeit und nach der Offensive der Agenda 2010, die unverhohlen Kernbestandteile des Sozialstaats in Frage stellt, stehen die Gewerkschaften vor einer neuen Situation. Ihnen ist der Partner an der Regierung abhanden gekommen, den sie sonst dafür gebraucht haben, wenigstens einen Teil ihrer Forderungen umzusetzen. Weder tariflich noch gesetzlich können die Gewerkschaften heute irgend etwas erreichen, ohne einen massiven Arbeitskampf zu führen. Nicht alle Teile der Gewerkschaften werden diese Schlußfolgerung ziehen, aber jedenfalls sind sie gezwungen, sich neu zu positionieren und ihre gewerkschaftliche Strategie von Grund auf zu überdenken. Das eröffnet in den Gewerkschaften neuen Raum für strategische Auseinandersetzungen, wie Gewerkschaften künftig agieren müssen, um Erfolg haben zu können.

Die Politik der Sozialpartnerschaft stößt viele Aktive innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften ab. Es gibt nicht wenige Linke, die die Gewerkschaften dafür in Bausch und Bogen verdammen und als Organisationen der elementaren Interessenvertretung der Arbeiterklasse abschreiben. Wir halten es demgegenüber für notwendig, die Gewerkschaften gegen alle Bestrebungen zu verteidigen, sie in ihren Rechten und in ihrem Wirkungskreis zu beschneiden. Wir brauchen nicht weniger Gewerkschaften, wir brauchen andere! Das wird besonders augenfällig im Bereich der prekären Beschäftigung, wo Unternehmer die Löhne nur deshalb so massiv senken können, weil sie gewerkschaftliche Organisierung auf Schritt und Tritt zu verhindern suchen. Zum Aufbau von Gewerkschaften gibt es deshalb keine Alternative.

Aber auch nicht zu ihrer strategischen Umorientierung hin zum außerparlamentarischen klassenkämpferischen Widerstand, der das gleichberechtigte Bündnis mit anderen sozialen Bewegungen sucht und sich vor der politischen Konfrontation nicht scheut. Letzten Endes wird diese Konfrontation unvermeidlich sein. Dafür ist der Aufbau einer starken Gewerkschaftslinken notwendiger und aktueller denn je. Ihre derzeitigen Schwächen müssen überwunden werden: auch sie blickt manchmal kaum über den Tellerrand der Tagesarbeit hinaus und hat sich, mindestens in der Vergangenheit schwer getan, ein aktives Verhältnis zur globalisierungskritischen Bewegung zu entwickeln. Sie hat große Verdienste, weil sie die gewerkschaftliche Stimme gegen den Jugoslawienkrieg erhoben und einen kritischen Standpunkt in die Diskussionen um die Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktreform eingebracht hat. Ihr größter Mangel ist, dass sie noch wenig und sehr ungleiche Kräfte in den Betrieben hat und sich bisher in den Gewerkschaften noch wenige Gehör verschaffen konnte. Diese Mängel können nur durch die aktive und möglichst breite Mobilisierung der Kolleginnen und Kollegen sowie der Öffentlichkeit überwunden werden.

Wir treten in den Gewerkschaften ein:

* für ihre unbedingte Unabhängigkeit von allen Parteien und Regierungen und einen politischen Pluralismus in ihren Reihen. Zehn Jahre, nachdem die "kommunistischen" Gewerkschaften aufgehört haben, am Gängelband ihrer Partei zu laufen, ist es höchste Zeit, dass die sozialdemokratischen Gewerkschaften das auch tun;

* für die Herstellung europaweiter und internationaler Streik- und Tariffähigkeit; Tarifforderungen müssen im Sinne einer Angleichung nach oben aufeinander abgestimmt werden;

* für eine gezielte gewerkschaftliche Organisierung der schwächsten Teile der lohnabhängigen Klasse (auch solche, die nicht erwerbstätig sind) und für eine Öffnung der Gewerkschaften zu den sozialen Bewegungen;

* für die Politisierung der gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen, d. h. für gewerkschaftliche Aktionen auch dann, wenn es nicht um Tarifrunden geht, sondern um den Schutz sozialer Standards oder den Kampf gegen die Privatisierung;

* für eine umfassende Demokratisierung der Gewerkschaften: keine Forderungen, keine Abschlüsse mehr ohne demokratische Beteiligung aller Beschäftigten;

* das Bündnis für Arbeit muss ein für allemal beerdigt sein.



* Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe oder Comecon war die zwischenstaatliche Wirtschaftsorganisation des Ostblocks; er wurde 1949 gegründet und hatte seinen Sitz in Moskau.

 

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