Brauchen wir die Polizei?

Angriff auf die Demontsration Blockupy 2012 in Franfurt am Main. Foto: strassenstriche.net, Blockupy 2.0, CC-BY-NC-ND 2.0

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Polizeigewalt und Rassismus, eine mögliche Perspektive

Brauchen wir die Polizei?

Von Julian Salingue | 23.09.2020

Dass Rassismus und Gewalttätigkeit der Polizei nicht nur in den USA grassieren, zeigen die fortlaufenden Enthüllungen über rechtsradikale Strukturen in den Reihen des hiesigen Polizeiapparats. Dass dieser Apparat nicht reformierbar ist, sondern nur abgeschafft werden kann, versteht sich. Bloß, wie lässt sich dies erreichen?

Auch wenn die Forderung nach der Abschaffung der Polizei in den französischen „Massenmedien” kaum thematisiert wird, findet sie dank der historischen Mobilisierungen gegen Rassismus und Polizeigewalt doch ihren Weg über den Atlantik bis zu uns. Diese Losung, die bisher lediglich von einigen kleinen Gruppen propagiert wurde, die darüber hinaus auch für die Abschaffung des Gefängnisses eintreten, wird nun immer breiter diskutiert und ist inzwischen Gegenstand einer nationalen Kampagne: #8toAbolition. Auch wenn natürlich nach wie vor bloß eine Minderheit dahinter steht, nimmt es mittlerweile ein Ausmaß an, das noch vor wenigen Wochen niemand vermutet hätte, und hat eine Frage öffentlich aufgeworfen, deren Radikalität nur durch ihre Einfachheit übertroffen wird: Sollen wir die Polizei abschaffen?

Die „offensive” Losung, die Finanzmittel für die Polizei zu reduzieren („Defund the Police”) wird bei den Demonstrationen zunehmend häufig aufgegriffen, ebenso wie die Forderung nach Ausschluss der Polizeigewerkschaften aus dem Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, der seinerseits in die Protestbewegung eingebunden werden sollte.

Mit dieser Frage sollten sich alle auseinandersetzen, die sich fragen, wie eine „andere Welt“ aussehen könnte, ohne sich dabei den ewigen Wahrheiten zu unterwerfen, die allzu oft die Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaftsformen dominieren. Damit wollen wir uns in diesem Artikel beschäftigen – ohne den Anspruch zu erheben, die Problematik erschöpfend zu behandeln – und uns dabei bewusst auf die Polizei konzentrieren und nicht auf die übrigen Strukturen des Repressionsapparats (Strafjustiz, Gefängnis) eingehen, deren Funktion mit den „Ordnungskräften“ zusammenhängt. Als Ausgangspunkt dient uns dabei die Lage in den USA, wo die Diskussion darüber derzeit hohe Wellen schlägt, um uns von da aus dem Thema weitergehend anzunähern.

„Entmachten, entwaffnen, abschaffen“ …

… so lautet derzeit im Alltag die Losung, die sich in den USA breitmacht. Dabei handelt es sich um eine bewusste Strategie, die sich besonders die Initiative „A World Without Police“ (Eine Welt ohne Polizei)[1] zu eigen gemacht und um ein Aktionsprogramm und einen Forderungskatalog erweitert hat, der den Gegensätzen Rechnung tragen soll, die sich aus der Forderung nach Abschaffung der Polizei und den wesentlichen potentiellen Einwänden dagegen ergeben.

Die Entmachtung der Polizei bedeutet, gegen den Bau neuer Polizeistationen, die Schaffung neuer Einheiten, die Ausweitung der polizeilichen Vorrechte und Einsatzbereiche, Rekrutierungskampagnen usw. vorzugehen. Die „offensive” Losung, die Finanzmittel für die Polizei zu reduzieren („Defund the Police”) wird bei den Demonstrationen zunehmend häufig aufgegriffen, ebenso wie die Forderung nach Ausschluss der Polizeigewerkschaften aus dem Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, der seinerseits in die Protestbewegung eingebunden werden sollte. Erste Erfolge konnten erzielt werden, da mehrere amerikanische Städte beschlossen haben, die Polizeibudgets zu kürzen, namentlich New York, wo das gesamte Budget von sechs Milliarden um eine Milliarde Dollar gekürzt werden soll, und Los Angeles, wo die Zahl der Polizist*innen bis zum nächsten Sommer auf unter 10 000 reduziert werden soll (der niedrigste Stand seit 2008).

Die Entwaffnung der Polizei bedeutet konkret und analog zur Losung der Entmachtung, die Aufrüstung der Polizei und die Militarisierung der Ordnungssicherung zu hinterfragen und darüber hinaus, inwieweit die Polizei für die zunehmende Gewalt in den sozialen Verhältnissen verantwortlich ist. Dazu gehört, dass entgegen der Legende, die von den Hütern der herrschenden Ordnung geschickt verfochten wird, Polizeiwaffen nicht dazu dienen, die sozialen Verhältnisse zu befrieden, sondern im Gegenteil dazu beitragen, immer mehr Gewalt zu erzeugen. Ein kürzlich erschienener Artikel in der Huffington Post verwies darauf, dass Ende 2014 „die New Yorker Polizei beschlossen hatte, ihre Präsenz erheblich zu reduzieren, um so angeblich beweisen zu können, dass dadurch die Kriminalitätsrate in die Höhe schießen würde. Und genau das Gegenteil war eingetreten, was Wissenschaftler zu der Erklärung veranlasste, dass die Polizeipräsenz auf den Straßen zu sozialen Spannungen und letztlich zu mehr Kriminalität führt.“[2]

Wenn wir die Polizei abschaffen wollen, müssen wir für die Auflösung des Polizeiapparats eintreten, da dieser die Bevölkerung unterdrückt, die er doch angeblich „schützen“ will. In den USA wird diese Forderung nicht als Endpunkt eines Prozesses begriffen, dem zunächst die Entmachtung und Entwaffnung vorauszugehen haben, sondern der damit unmittelbar verknüpft ist. Damit soll der Zwietracht säenden Frage schlechthin entgegen getreten werden, die da lautet: Wer oder was soll die Polizei ersetzen? – oder anders formuliert: Die Polizei mag Probleme erzeugen, aber wären die nicht größer, wenn man die Polizei ganz abschafft?

Können wir auf die Polizei verzichten?

Diese Fragen und die „klassischen” Antworten, die darauf gegeben werden (d. h. eine Gesellschaft kommt ohne Polizei nicht aus), werden von Vorurteilen überlagert, die in unserer Denkungsart tief verwurzelt sind. Damit ist besonders das gemeint, was Engels „eine abergläubische Verehrung des Staates und alles dessen, was damit zusammenhängt” nannte, „und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nicht anders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden.“[3] Jede Ähnlichkeit mit Jean-Luc Mélenchons Äußerungen vor der Demonstration am 13. Juni, zu der das Adama-Komitee auf dem Place de la République in Paris aufgerufen hatte („Wir haben das Recht, von einer Gesellschaft ohne Polizei zu träumen, es ist ein schöner Traum, aber es ist nur ein Traum. Wir brauchen eine Polizei, die durchdacht, organisiert, dem republikanischen Staat gehorsam und so unbewaffnet wie möglich ist”) ist rein zufällig.

Eines dieser festgefügten Urteile ist, dass die Polizei in ihrem (vermeintlichen) Auftrag, die Bevölkerung zu „schützen”, unersetzlich und ein unverzichtbares Element der Konfliktbearbeitung ist. Sind es nicht die Polizeibehörden, an die wir uns wenden, wenn wir Aggressionen, Einbrüchen, Drohungen etc. ausgesetzt sind? Dieser Zustand, auch wenn er unbestreitbar scheint, sollte jedoch nicht als zeitlose soziale Gegebenheit betrachtet werden. Zu anderen Zeiten und/oder in anderen Ländern konnten und können diese Funktionen von anderen Strukturen ausgeübt werden, die direkt aus der Bevölkerung heraus entstanden sind und/oder die nicht dem Staat untergeordnet sind. Da dieser Artikel nur eine Zusammenfassung liefern will, werden wir nicht im Detail auf solche Beispiele eingehen, sondern lediglich darauf beharren, dass es notwendig ist, den Blickwinkel zu verlagern und zu bedenken, dass „ die Polizei”, wie wir sie in kapitalistisch geprägten Gesellschaften (leidvoll) erleben, eine soziale Konstruktion ist, die wie jede Konstruktion zerstört werden kann.

Mit anderen Worten: Können wir uns die Polizei vom Halse schaffen, ohne den Kapitalismus loszuwerden?

Letztlich kommt es darauf an, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass mögliche Konflikte innerhalb einer bestimmten Gesellschaft oder Gemeinschaft nur von außen durch das Eingreifen eines autonomen Organs gelöst werden können. Genau darum geht es bei den verschiedenen Initiativen (Schulungen zur Konfliktbewältigung oder zur Unterstützung von Gewaltopfern, Gründung von Nachbarschaftskollektiven in Wohnvierteln oder Mietshäusern etc.), deren Aufgabe ist, die sozialen Bindungen zu stärken, damit die Menschen den Großteil der Probleme gemeinsam bewältigen können, ohne nach der Polizei „rufen” zu müssen. Wir sprechen hier natürlich nicht von „Bürgerwehren” und anderen Milizen, die sich für Hilfspolizisten halten und sich oft noch schlimmer als die Polizei benehmen, sondern von selbstorganisierten Gruppen, deren Ziel es ist, Konflikte niedriger und mittlerer Intensität zu lösen, die realiter den Großteil der Polizeieinsätze ausmachen.

In einem anderen System ja!

Wirft man die Frage nach der Verzichtbarkeit der Polizei auf, stößt man zunächst auf eine gewisse Konfusion, weil jeder damit etwas anderes verbindet. Die Polizei ist sowohl das Organ, an das sich die Bürger*innen in vielen Problemsituationen normalerweise wenden, als auch das Organ, auf das der Staat zurückgreift, um soziale Proteste zu unterdrücken. Aber nicht die letztgenannte Funktion verleiht der Polizei in den Augen der Mehrheit ihre Legitimität, sondern erstere. Diese Ambivalenz machen sich die Herrschenden zunutze, um die grundlegend repressive Funktion der Polizei zu kaschieren und sie stattdessen als „öffentliche Dienstleistung“ zu präsentieren.

Bedeutet das, dass wir die Polizei als Hüterin eines ungerechten Systems abschaffen könnten, ohne dieses System selbst abzuschaffen? Mit anderen Worten: Können wir uns die Polizei vom Halse schaffen, ohne den Kapitalismus loszuwerden? Die Antwort lautet natürlich nein, da sie eine strategische Funktion bei der Aufrechterhaltung des Kapitalismus innehat. In diesem Sinne ist die Forderung nach der Abschaffung der Polizei als strategische Perspektive und Richtschnur zu sehen und nicht als Losung, die hic et nunc umgesetzt werden kann. Im Jahr 2016 veröffentlichte die Journalistin Maya Duksamova im Chicago Reader eine Studie[4] über Initiativen in Chicago, die sich für die Abschaffung der Polizei aktiv engagieren. Einer der Beteiligten erklärte: „Ich denke, man muss diesen Begriff [der Abschaffung] als eine Strategie und ein Ziel betrachten, und weniger als etwas, das man heute in die Tat umsetzen könnte. Wenn ich die Argumente für die Abschaffung höre, begreife ich, dass es möglich ist, eine Welt ohne Gefängnisse und ohne Polizeikräfte aufzubauen.“

Kampagnen gegen die Polizei und die Schaffung von „Gegeninstitutionen”, die deren Eingreifen überflüssig machen, treffen in der Tat auf ein wesentliches Hindernis: Die zentrale Stellung der Polizei im kapitalistischen Herrschaftssystem verleiht ihr eine Position, an der besonders diejenigen nicht vorbeikommen, die mit stark gewalttätigen Situationen konfrontiert sind. Wenn man für die Abschaffung der Polizei „hier und jetzt” eintritt, ignoriert man bloß dieses Problem und bekämpft damit am allerwenigsten die Illusion, dass eine globale Alternative zur Polizei errichtet werden könnte, ohne zugleich die Frage nach der Abschaffung des Staates aufzuwerfen. Insofern ist es wichtig, Sofortforderungen, die die Polizei schwächen und ihre Gewalttätigkeit bekämpfen sollen, mit alternativen Praktiken zu verbinden, die aufzeigen sollen, dass die Polizei kein „notwendiges Übel” ist. Zugleich jedoch muss die Diskussion über den wesentlichen Unterschied zwischen der Funktion der Polizei und dem Polizeiapparat angestoßen und das globale politische Ziel vorangetrieben werden, den Kapitalismus zu stürzen.

Aus: l’anticapitaliste la Revue Nr. 117, Juli 2020. Erscheint in der Nummer 6/2020 (November/Dezember) der internationale.

Übersetzung: MiWe


[1] https://aworldwithoutpolice.org/

[2] Paul Guyonnet, « Contre les violences policières, le concept “Defund the Police” monte aux États-Unis », Huffington Post, 8. Juni 2020.

[3] Friedrich Engels, Einleitung zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich” von Karl Marx (Ausgabe 1891) MEW Bd. 22, S. 199

[4] Abolish the police? Organizers say it’s less crazy than it sounds, 25. August 2016,  https://www.chicagoreader.com/chicago/po….

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