TEILEN
Innenpolitik

Zur Innenministerkonferenz vom 15. bis 17.11.2006: Russisches Roulette für „geduldete“ Menschen

Von Oskar Kuhn | 01.11.2006

Mensch stelle sich vor: Spät abends stehen schwer bewaffnete Polizeikräfte in der eigenen Wohnung. Sie sammeln die komplette eigene Familie ein und wenden bei Widerstand Handschellen, Würge- und Klammergriff an. Darauf wird die Familie getrennt und per Zwang von verschiedenen Städten und Flughäfen aus in ein Land ausgewiesen, dessen Sprache der Familie fast komplett unbekannt ist.

Mensch stelle sich vor: Spät abends stehen schwer bewaffnete Polizeikräfte in der eigenen Wohnung. Sie sammeln die komplette eigene Familie ein und wenden bei Widerstand Handschellen, Würge- und Klammergriff an. Darauf wird die Familie getrennt und per Zwang von verschiedenen Städten und Flughäfen aus in ein Land ausgewiesen, dessen Sprache der Familie fast komplett unbekannt ist.

Hier ist die Familie im Wortsinn sprachlos und steht ohne die Möglichkeit einer Rückkehr vor dem Nichts. Unvorstellbar? Nun, dies erlebte beispielhaft Ende September eine elfköpfige Familie aus Hessen und gehört zum Alltag in der Bundesrepublik Deutschland.

Vom 15. bis 17. November kommen nun die Innenminister der Länder in Nürnberg zusammen, um über das Schicksal „geduldeter“ Menschen zu beraten. Setzt mensch sich mit den im Vorfeld gemachten Vorschlägen der Verantwortlichen auseinander (siehe Kasten S. 5), so drängt sich der Vergleich mit „russischem Roulette“ auf. Manche hoffen, dass sie nicht „getroffen“ werden und statt dessen ein Bleiberecht erlangen, viele müssen für sich und ihre Angehörigen die baldige Abschiebung in eine bedrohliche und ungewisse Zukunft befürchten.
Kein Asylgrund: Drohende Folter und Todestrafe
Mehr als 200 000 Menschen sind hierzulande mit dem unsicheren Status einer Duldung behaftet, davon etwa 150 000, die bereits länger als acht Jahre hier leben. Sie leben in einem rechtlichen Niemandsland. Es sind Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen und Motiven in dieses Land kamen und denen ein legaler Aufenthalt verwehrt wurde. Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, politisch oder ethnisch Verfolgte, mißhandelte Frauen, Menschen, die dem Elend ihres Herkunftslandes entrinnen wollten oder einfach hier ihr Glück suchten. Die Gründe dafür, dass viele Menschen trotz verweigerten Asylrechts nicht abgeschoben werden, sind vielfältig. An erster Stelle steht drohende Folter oder die Todesstrafe im Herkunftsland. Gründe, die zum Teil nicht als Asylgrund anerkannt werden!

Seit der faktischen Abschaffung des Asylrechtes im Jahr 1993 liegt die Anerkennungsquote für in Deutschland asylsuchende Menschen mittlerweile bei unter 1%! Die zuständigen staatlichen Stellen (Regierungspräsidien, Ausländerbehörden) können bei Menschen mit abgelehntem Asylbescheid jedoch Abschiebungen nicht ohne weiteres durchsetzen. Aus dem Kosovo zum Beispiel vermelden UN-Behörden die Unmöglichkeit einer „Wiederansiedlung“ entflohener und hier nur geduldeter Roma. Die Situation in Afghanistan spitzt sich dermaßen zu, dass Leib und Leben für Flüchtlinge nicht garantiert werden kann. Dies unter anderem nicht trotz sondern wegen der Empfangskomitees von Bundeswehr und NATO-Partner. Andere Regionen, ähnlich dramatische Situation.
Leben auf Abruf
So sind bei 200 000 Menschen die Abschiebungen „ausgesetzt“. Sie werden per Ausweis „geduldet“ und entsprechend gesetzlich katalogisiert. Mit Duldung leben heißt:

  • –    Äußerst eingeschränkter Arbeitsmarktzugang (Nachrangigkeitsprüfung); z.T. behördlich verhängtes komplettes Arbeits- und Ausbildungsverbot
  • –    kein Anspruch auf eine Wohnung, oft Leben im Sammellager
  • –    kein Anspruch auf Sozialhilfe bzw. Leistungen gemäß SGB II, statt dessen Minderversorgung durch das Asylbewerberleistungsgesetz
  • –    mangelnde Krankenversorgung
  • –    kein oder wenig Bargeld, Essen aus Lebensmittelpaketen, Einkaufen mit Gutscheinen
  • –    das Verbot, den zugewiesenen Wohnort zu wechseln
  • –    das Verbot, ohne besondere behördliche Genehmigung das Bundesland oder den Landkreis zu verlassen

Heute sie, morgen wir!
Diese staatlichen Maßnahmen schließen geduldete Menschen von sozialer und kultureller Teilhabe weitgehend aus. Einen eigenen Lebensunterhalt dürfen die Betroffenen nicht verdienen. Der Schulausflug der Kinder wird nicht erlaubt, der Deutschkurs ist viel zu teuer, die Busfahrt in die nächst größere Stadt nicht zu bezahlen.

Nicht wenige Menschen macht ein Leben mit Duldung physisch und psychisch krank. Mit dem Rechtsstatus einer Duldung zu leben, heißt: Leben auf Abruf. Immer gegenwärtig ist die Angst, eines Tages doch abgeschoben zu werden.
Schließen wir die Reihen gegen die kapitalistische Logik der Ungleichbehandlung und Ausbeutung. Unterstützen wir die 200 000 Frauen, Männer und Kinder in ihrem Kampf für ein uneingeschränktes Bleiberecht. Gleiche Rechte für alle!

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite