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Zu den Bombenanschlägen in London

Von joe hill | 01.09.2005

Am 7. und am 21. Juli detonierten im morgendlichen Berufsverkehr jeweils vier von islamistischen Selbstmordattentätern gezündete Bomben in öffentlichen Verkehrsmitteln in der Londoner Innenstadt. Bei den ersten Anschlägen wurden 52 Menschen ermordet und über 700 verletzt. Als eine erste Folge kann eine auf schärfere Repression und mehr Überwachung zielende Entwicklung beobachtet werden.

Bei den Tätern handelte es sich um acht junge Islamisten, mehrheitlich britische Staatsbürger mit einem pakistanischen, afrikanischen oder afro-karibischen Migrationshintergrund, darunter mindestens ein erst vor einigen Jahren zum Islam konvertierter Mensch. Alle acht hatten sich, ohne dass es ihrem Umfeld aufgefallen war, in den letzten Jahren in Richtung von Al Qaida-Positionen entwickelt. Ob die beiden an den Anschlägen beteiligten Zellen voneinander wussten oder Verbindungen zu Al Qaida-Strukturen oder ähnlichen Organisationen hatten, ist möglich, aber bisher nicht geklärt. Die Opfer waren im wesentlichen Lohnabhängige, welche sich auf dem Weg zur Arbeit befanden, darunter viele, die ebenfalls Einwanderer oder Kinder von Einwanderern waren. Manche der Ermordeten hatten am 15. Februar 2003 an der großen Demonstration gegen den Irakkrieg teilgenommen, darunter der 55 jährige Giles Hart, der in den 1980er Jahren ein führender Aktivist der Solidaritätsarbeit mit Solidarnosc gewesen war.
Polizei ermordete Einwanderer
Am 22. Juli wurde der brasilianische Einwanderer Jean-Charles de Menezes daraufhin von der Londoner Polizei ermordet, weil er angeblich einem der Täter vom Vortag ähnelte und sich verdächtig verhielt. Wie sich inzwischen herausstellte, handelte es sich bei der Aktion um eine extralegale Hinrichtung eines Unschuldigen, welche an die Praxis der shoot to kill policy der achtziger Jahre erinnert, als mutmaßliche oder tatsächliche Mitglieder der IRA durch britischer Sicherheitskräfte ermordet wurden.
Die britische Regierung unter Premierminister Blair und Innenminister Clarke scheinen jedenfalls die Gelegenheit zu nutzen, die real bestehende Angst und Empörung über die Anschläge für Gesetzesverschärfungen nutzen zu wollen. Diese Maßnahmen, welche u.a. Sympathiebekundungen mit Terroranschlägen unter Strafe stellen oder eingebürgerten Terrorverdächtigen den Verlust der Staatsbürgerschaft androhen, richten sich vordergründig und zunächst gegen Islamisten a la Al Qaida. Sie können aber, so ist zu befürchten, auch gegen linke RevolutionärInnen oder (trotz der Einstellung des bewaffneten Kampfes seitens der IRA) irische RepublikanerInnen angewandt werden und stellen so mittelbar zum Beispiel für politische Flüchtlinge aus mit Großbritannien verbündeten Staaten eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar.

Ausgrenzungsdebatten
Gleichzeitig ist in der britischen Öffentlichkeit eine Debatte in Gang bekommen, welche – da es sich bei den Tätern um britische Muslime handelte – beginnt, die Integration von Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern in Frage zu stellen und von diesen Loyalitätsbeweise zu verlangen. Auch werden, nicht nur von konservativer Seite, staatsbürgerschaftliche Unterweisung zukünftiger KandidatInnen für die britische Staatsbürgerschaft gefordert; “weiße” RückkehrerInnen aus den ehemaligen Kolonien des British Empires werden hiervon ausgenommen sein, da sie ohnehin in aller Regel über die britische Staatsangehörigkeit verfügen.
Reaktionäre und faschistische Gruppen wie die British National Party (BNP) fühlen sich durch derartige Debatten bestätigt und finden für ihre rassistische Propaganda einen fruchtbaren Boden. In den Tagen nach den Anschlägen häuften sich Angriffe auf Muslime oder Menschen, welche dafür gehalten wurden. Islamische Vereine und Institutionen verzeichneten einen steilen Anstieg von Drohanrufen und -briefen.
Es besteht in der Tat das Problem, dass eine (kleine, aber wachsende) Minderheit der Muslime in Britannien islamistische oder erzkonservative Positionen vertritt, welche sich zum Beispiel durch  die Ablehnung der Gleichberechtigung von Frauen, eine aggressive Homophobie oder Antisemitismus auszeichnet und über islamische Privatschulen und andere Institutionen eine Art Parallelgesellschaft aufzubauen versucht. Nun ist derartiges für die Regierung oder die Londoner Stadtverwaltung solange kein Problem, wie Vereinigungen wie der Muslim Council of Britain (MCB)1 zur Wahl der Labour Party aufruft. Um sich diese Stimmen zu sichern, versprach Blair dem MCB vor den Unterhauswahlen im Frühjahr sogar ein dem bundesdeutschen § 166 StGB vergleichbares Gesetz, welches religiöse Bekenntnisse gegen Beschimpfungen schützen soll. KritikerInnen befürchten die Etablierung eines neuen Zensurparagraphen.

Die Antwort der Linken
Die britische radikale Linke verurteilte die Anschläge einhellig, griff aber in der Analyse der Ursachen zu vereinfachenden Argumentationen. Sicher handelt es sich bei dem Irakkrieg und der Besetzung des Iraks, auch durch britische Truppen um einen Katalysator, welcher die Entwicklung mancher junger britischer Muslime zu Al Qaida-Anhängern erklären kann. Dabei vergisst die Mehrheit der Linken aber allzu schnell, dass die Agenda derartiger Gruppen sehr viel weitreichender ist und dass es sich nicht nur um verwirrte Anti-Imperialisten handelt, die letztendlich das gleiche wie mensch selbst wollen.
Ein Rückzug Britanniens aus dem Irak würde die Gefahr zwar verkleinern, aber nicht beseitigen. Die Programmatik dieser “Radikal”-Islamisten ähnelt allzu sehr faschistischen Ideologien und ist durch tiefen Hass vor allem auf Schwule und Lesben (selbst so genannte gemäßigte Islamisten halten in aller Regel die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Liebe für angebracht), Feministinnen, Linke, Jüdinnen und Juden, liberale oder schiitische Muslime und alle anderen, welche nicht in dieses reaktionär-spießige Weltbild passen, gekennzeichnet. Staatlicher und gesellschaftlicher Rassismus, eine Identitätskrise junger britischer Muslime und die Propagandaarbeit durch vor allem von Saudi-Arabien unterstützte Institutionen sind aber ebenso Gründe für den “Radikalisierungsprozess”.
Die Aufgabe der Revolutionäre in dieser Situation ist nicht einfach. Zum einen gilt es, dem Trend zum starken Staat, den drohenden Gesetzesverschärfungen entgegen zu treten und die rassistisch Angegriffenen (seien sie nun Muslime, Sikhs, etc.) aktiv zu verteidigen. Zum anderen muss aber auch, gemeinsam mit fortschrittlichen Gruppen in den muslimischen Communities den Islamisten (auch in ihren “moderaten” Varianten) entschieden entgegen getreten werden.   

1 Größter (aber dennoch nur eine Minderheit vertretender) Dachverband britischer Muslime, vertritt im Wesentlichen konservative und islamistische Moscheen und Vereine, deren Mitglieder MigrantInnen vom indischen Subkontinent oder deren Nachkommen sind. Die Mehrzahl der Muslime in Britannien wird durch keinen Dachverband vertreten.

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