TEILEN
Länder

Weltsozialforum 2005

Von Avanti | 01.03.2005

Vom 26.–31. Januar fand in Porto Alegre (Brasilien) das Weltsozialforum (WSF) statt. Avanti interviewte Theodor, Gewerkschafter aus Baden Württemberg, über seine Eindrücke und Bewertungen.

Frage: Auch dieses Mal hat die Anzahl der Besucher auf dem Weltsozialforum überrascht. Aber die Berichterstattung durch die Medien in Deutschland war eher mager und meist unpolitisch. Was war Dein Gesamteindruck?

Theodor: 2003 ging es in Porto Alegre darum, eine weltweite Bewegung gegen den drohenden Golfkrieg zu initiieren. Deshalb war die Stimmung aktionsbezogener und kämpferischer. Natürlich war die damalige Situation auch für die internationalen Medien politisch spannender. Zwei Jahre später muss diese Bewegung wohl eine Niederlage konstatieren, die Welt hat sich nicht verbessert, deshalb fehlte 2005 das große einigende Thema. Die Vielfalt der Themen, Bewegungen, Organisationen und Grüppchen wurde deutlicher sichtbar. Für die Medien ist das ein undurchschaubares Durcheinander. Mein Eindruck war trotzdem sehr positiv, da mir das Forum wesentlich besser organisiert schien und trotz des großen Interesses gerade an komplizierteren politischen Diskussionen alle mehr Ruhe und Gelassenheit ausstrahlten.

F.: Welche Bedeutung hat das WSF für Brasilien und für Lateinamerika?

T.: Überragende Bedeutung hat das WSF zweifellos für Brasilien. Ich schätze, dass weit mehr als 75% der Teilnehmer/innen aus Brasilien kamen. Die Medien dort berichteten täglich und sehr ausführlich. Alle sozialen Bewegungen und linken politischen Parteien waren hochrangig aber auch mit vielen Mitgliedern vertreten. In diesem Riesenland (36 x BRD) mit hohen Transportkosten wird das große Zusammenkommen meist auch für eigene Versammlungen und Kongresse neben dem offiziellen Programm des WSF genutzt. So veranstaltete die neue linke Partei PSOL ihre 2. nationale Versammlung mit über 1000 Menschen an diesem Wochenende in Porto Alegre. Für die Brasilianer/innen war natürlich die Einschätzung der Regierung Lula das beherrschende Thema. Die unterschiedlichen Meinungen der internationalen Linken zu Lula wurden auch in der bürgerlichen Presse ausführlich wiedergegeben, ob Chávez ihn als Freund und Genossen bezeichnete oder Tariq Ali als „Tony Blair Brasiliens“. Für linke und besonders jüngere Brasilianerinnen ist das WSF in Porto Alegre das Portal zur Linken in der Welt, da die Berichterstattung und die Diskussionen in Brasilien normalerweise sehr nach innen gerichtet sind. Sogar Lateinamerika spielt in Europa eine größere Rolle als in Brasilien.
Der Besuch aus Lateinamerika scheint zurückgegangen. Besonders die Massenbewegungen aus Argentinien, die vor 2 Jahren noch einen tausendköpfigen kämpferischen Block stellten, waren erheblich schwächer vertreten. Was sicher mit der veränderten Stimmung in Argentinien zu tun hat. Ich war enttäuscht, dass mir keine größere Gruppe aus Uruguay aufgefallen ist. Einzig Venezuela war stärker präsent. Am interessantesten schien die Diskussionsmöglichkeit auf dem Forum für progressive Kräfte aus Haiti zu werden: Auf dem Podium saßen das erste Mal Verteidiger und Gegner des gestürzten Präsidenten Aristide zusammen. Leider endete der Versuch in Handgreiflichkeiten.
Ingesamt waren trotzdem viele tausend jüngere Aktivisten und Aktivistinnen aus dem spanisch sprechenden Amerika da, die leider ebenso wie diejenigen aus Brasilien kaum auf die revolutionäre Linke aus Europa trafen, sondern die Situation in der 1. Welt von sozialdemokratischen Funktionären oder alternden Professoren erklärt bekamen.

F.: Hugo Chávez, der Präsident Venezuelas war da. Wie wurde er aufgenommen? Was hatte er zu sagen?

T.: Dass Chávez kommt war bereits Tage vor dem Forum das wichtigste Thema. Darüber kam es zu heftigen Diskussionen in der Leitung der PT. Lula musste deswegen kurzfristig einen Zwischentermin auf dem Weg nach Davos in Porto Alegre einlegen. Es sollte verhindert werden, dass Chávez als alleiniger Champion der lateinamerikanischen Linken gefeiert wird. Leider fasste die Sportarena für Chávez nur ca. 6000 Menschen so dass ca. 20000 bei 37° im Freien die Veranstaltung nicht lange verfolgten. Die Stimmung war begeistert, und Chávez ist ein begeisternder Redner.
Er nahm positiv Bezug auf die ganze Geschichte von Revolutionären, von Jesus über Bolivar, Marx, Trotzki, Mao, Che bis Fidel. Es gebe keine Veränderung des Kapitalismus mit kapitalistischen Mitteln. Es gebe nur die Alternative Sozialismus. Gegen jegliche Privatisierung. Der Hauptfeind der Menschheit sei der US-Imperialismus, der aber nicht unbesiegbar sei wie Vietnam und Kuba bewiesen. Aber eines Tages werde das große US-amerikanische Volk Schluss mit seinen eigenen Unterdrückern und mit dem Imperialismus machen. Doch heute liege der Schwerpunkt des Kampfes bei den Völkern des Südens. Immer wieder ging er auf die unzerbrechliche Freundschaft mit Cuba und Fidel ein. „Wer ein Land angreift muss mit beiden kämpfen.“ Auch wenn westliche Experten von Verschwendung sprächen, das Öl Venezuelas käme jetzt den Ärmsten zugute. Allein 2004 seien es 4 Milliarden $. Weltpolitisch legte er große Hoffnungen in die Wirtschaft Chinas und in ein Wiedererstarken Russlands.
Viele Unterstützer hätten Lula nach 2 Jahren Amtszeit kritisiert weil er zu zaghaft und wenig radikal gewesen sei, aber nach seiner Meinung war es nicht der richtige Moment, denn verschiedene Prozesse hätten unterschiedliche Phasen und Rhythmen, sowohl national als auch international, deshalb sage er jetzt auch wenn man ihn auspfeifen sollte, er möge Lula, er verere ihn, das sei ein guter Mann mit einem großen Herzen.
Immer wieder zitierte Chávez Simon Bolivar: „Geduld und noch mal Geduld, Arbeit und noch mal Arbeit – um zu siegen.“ Es war sehr überzeugend. Laut Presse traf sich Chávez auf Anregung des Führers der Landlosenbewegung MST, Joao Stedile, mit der neuen linken Bürgermeisterin von Fortaleza, Luizianne Lins (PT) um eine „strategische“ Partnerschaft Caracas – Fortaleza und einen Besuch dort zu besprechen. Mit Agrarminister Miguel Rosseto traf sich Chávez, um über eine Lösung der Krise mit Kolumbien zu beraten.

F.: In unsrer Presse wurde etwas widersprüchlich über den Auftritt des brasilianischen Präsidenten berichtet. Seine Veranstaltung wurde wohl hauptsächlich von seinen Anhängern gefüllt. Wie unterscheidet sich seine Botschaft von der des venezolanischen Präsidenten?

T.: Lula hielt morgens um 9 eine 35-minütige improvisierte Rede am gleichen Ort wie später Chávez. Das Stadion war auch voll. Ich war nicht dort, denn nach diesen anstrengenden Nächten im Zeltlager steht doch fast niemand um 7 Uhr auf, um Lula zu hören. Chilenische Freunde waren dort und erzählten, dass die PT alles sehr gut organisiert hatte und aus der ganzen Region Anhänger gekommen wären, die vorher zur besseren Identifizierung ein rotes T-Shirt „100% Lula“ bekommen hatten. So gelang nur einigen dutzend Gegnern der Zutritt. Sie machten sich zwar lautstark bemerkbar, wurden aber von Lula gönnerhaft abgefertigt: „Meine heißblütigen jungen Genossen, wenn ihr einmal wieder in die PT zurückkommt, werde ich euch mit offenen Armen empfangen.“ Er sagt
e um den Hunger zu bekämpfen sei eine Vermittlung zwischen den Kräften in Davos und Porto Alegre nötig. Er wolle das leisten. Er habe 3 Wahlen verloren um eine zu gewinnen und müsse sich jeden Tag erinnern, dass nichts sicher sei und man sehr umsichtig agieren müsse. Außenpolitisch beschwor er die Freundschaft mit Venezuela.
Draußen verhinderte die Polizei dass es zu Prügeleien von wenigen hundert Anhängern der PSOL und der PSTU mit den Anhängern Lulas kam.

F.: Wie sah die Beteiligung aus Europa und speziell aus der Bundesrepublik aus?

T.: Ich war fast nur auf Veranstaltungen zu Brasilien, da sind mir keine Deutschen über den Weg gelaufen. Allgemein scheinen weniger Europäer/innen von Basisbewegungen da gewesen zu sein. Da fiel sogar die 20-köpfige Delegation aus Vietnam mehr auf. Sie zog auch mehr Interesse auf sich. Die Deutschen verteilten ein umfangreiches eigenes Programm mit weit über 100 Veranstaltungen, das vom DGB und der Rosa Luxemburg Stiftung dominiert war. Allein das DGB Bildungswerk hatte bestimmt 10 Leute hingeschickt. Zum Abschluss trafen sich ca. 300 Deutsche im Goetheinstitut. Die allermeisten waren bezahlte Kongressreisende. Das Ganze hat schon halbstaatlichen Charakter. Unter brasilianischen Organisatoren des Forums wurden die verstärkten Einflussversuche der europäischen sozialdemokratischen Gewerkschaften und Parteien kritisch vermerkt. Der SPD Abgeordnete Weizäcker erklärte auf einer Veranstaltung der CUT, 90% der Deutschen sähen die Notwendigkeit des Umbaus des Sozialstaats ein, weil das eine Folge des Bankrots des DDR-Sozialismus sei. In der Presse wurde der „Philosoph“ Robert Kurz als Vertreter der deutschen Linken vorgestellt.
Das Bild vieler brasilianischer Aktivistinnen von der BRD ist immer noch geprägt vom Sozialstaat, mächtigen Gewerkschaften und einer sozialdemokratisch-grünen Regierung die den USA bezüglich des Irakkriegs die Stirn bietet. Wenn die radikale Linke aus der BRD kein Interesse zeigt, die Wirklichkeit besser zu erklären, fällt es ihr natürlich schwer, mit dezidierten Meinungen zur Lula Regierung in Brasilien ernst genommen zu werden.

F.: Du hast in dieser Zeit im Jugendcamp gewohnt bzw. gezeltet. Wie viele Jugendliche haben am WSF teilgenommen? Was hat sie interessiert? Was hat sie bewegt bzw. was bewegt sie.

T.: Im Zeltlager lebten mindestens 30 000 Menschen, bestimmt die Hälfte Frauen. Überhaupt spiegelten die allermeisten Podien auf dem Forum in keiner Weise den überaus hohen Frauenanteil der anwesenden Bewegungen wieder. Ich hab im Camp keine anderen Europäer/innen getroffen, die dort geschlafen haben, was etwas über das soziale Gefälle aussagt. Es waren Jugendliche, mittellose Künstler/innen und all die KämpferInnen, die trotz zum Teil fortgeschrittenen Alters keine zahlungsfähige Organisation im Rücken haben, um Komfortunterkünfte zu nehmen. Andererseits ist es sicher der lebendigste Ort in Porto Alegre. Eine Mischung aus Kaderschmiede und Woodstock. Tagsüber bis in den Abend finden viele radikale politische Veranstaltungen statt, hauptsächlich zu Brasilien und Lateinamerika. Es wird überall diskutiert. Nachts wird Musik gemacht, getrunken, gekifft und geliebt. Wegen der Hitze ab 8 Uhr morgens findet mensch kaum Schlaf.
Im Camp wird am meisten über die Lebensbedingungen und politischen Probleme in den unterschiedlichen Teilen Brasiliens und des Kontinents diskutiert und werden Kontakte an der Basis geknüpft. Für Brasilianerinnen spielt die angekündigte Universitätsreform eine große Rolle. Doch die Idole waren Chávez und die Landlosenbewegung. Auch die linksradikalen Parteien sind im Camp stark und offen vertreten. Es ist mit Händen zu greifen, wie die Probleme mit Lula und in der PT, die noch immer den größten Teil der organisierten Jugendlichen stellt, die Herzen zerreißen.

 

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite