Warum es keinen “Verrat” an den Kurden gab

Einheiten der YPG patroullieren durch die Straßen einer Stadt in Rojava. Foto: Kurdishstruggle, Kurdish YPG Fighters, CC BY 2.0

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Krieg der Türkei gegen Kurd*innen

Warum es keinen “Verrat” an den Kurden gab

Von Horst Hilse | 03.11.2019

Angesichts des Angriffs der türkischen Armee auf Nordsyrien reagieren momentan die meisten Menschen zu Recht mit Empörung. In den wichtigsten Nato-Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks ist die Empörung besonders groß, weil die dominante Militärmacht der Nato USA mit ihrem Truppenabzug erst die Möglichkeit für den „Nato-Bündnispartner“ Türkei geschaffen hatte, einen Angriff auf Syrien zu unternehmen.

Nach den Verlusten der AKP bei den Kommunalwahlen in der Türkei und dem Wiedererstarken der Opposition bedurfte das Regime Erdoğan mit einiger Vorhersehbarkeit eines außen- wie innenpolitischen Konflikts, um das Land auf Frontlinie zu bringen. Und was wunder, außer der HDP stehen alle Parteien, die „sozialdemokratische“ CHP, die faschistische MHP und die rechtskonservative İYİ geschlossen hinter den ethnischen Säuberungen, die sich als Terrorbekämpfung unter dem zynischen Namen „Quelle des Friedens“ tarnen. Die Invasion in Nordsyrien mit den wahrscheinlichen Massakern und Vertreibungen wird auch ein Aufflammen des kurdischen Widerstandes in Ostanatolien provozieren.

Allenthalben wird nun von den westlichen bürgerlichen Medienkonzernen der Verratsvorwurf gegenüber US-Präsidenten Trump erhoben, da er den Abzugsbefehl gab. Mit dem Abzug habe er „die Kurden verraten“.

Die Verwendung des Begriffs „Verrat“ in diesem Zusammenhang setzt jedoch voraus, dass es etwas Gemeinsames gibt, auf das sich die kurdische Selbstverwaltung und die US-Militärmacht vor dem Verrat bezogen hatten. Aber was sollte das sein?

Verraten und verkauft?

Die Rede von der Verteidigung der „Demokratie“ durch die USA ist reinste Mystik. Die USA verfolgten mit ihrer Verbindung zu den Kurden sehr eigennützige Kriegsziele. Und die kurdische YPG erklärte von Beginn der Verbindung an, dass es ein rein militärisch-taktisches Bündnis sei, das man benötige, um das eigene Überleben zu sichern.

Der Verratsvorwurf dient aktuell in der USA auch dazu, eine Debatte über das krachende Scheitern der Nahostpolitik der USA zu verhindern. Das Ziel der US-Politik war der Sturz des Präsidenten Assad und die Aufteilung des Landes in Einflusszonen. Zu diesem Zweck forcierten die USA die Politik der „militärischen Abnutzung“ der syrischen Armee durch Waffenlieferungen an Salafisten und Al Quida Einheiten. Diese Politik aus dem Bühnenhintergrund hatte bereits in Afghanistan und im Bosnienkrieg ihre Wirkung entfaltet und sie wurde in Syrien erneut angewendet.

Die kurdischen Volkseinheiten waren zur Enttäuschung der USA nicht bereit gewesen, gegen Assad vorzugehen.

Die kurdischen Volkseinheiten waren zur Enttäuschung der USA nicht bereit gewesen, gegen Assad vorzugehen.

Als 2016/2017 der Kampf gegen die vorrückenden Daesh Verbände (bei uns „IS“ genannt) tobte und ein grausiges Kalifatregime verhindert werden musste, war das Gegenteil der Fall. Entscheidend war das massive Eingreifen Russlands auf militärischer und diplomatischer Ebene gewesen. Es wurde im Kampf gegen Daesh ein Waffenstillstand zwischen der syrischen Armee (SAA) und den Verbänden der Volksbefreiungskräfte (YPG) geschlossen, der bis heute anhält.

Demokratie ist nicht immer die westliche Form

Der Begriff „Verrat“ wird jedoch auch in dem Sinne benutzt, dass vorausgesetzt wird, die kurdischen Volkskräfte hätten ebenso wie der Westen die Schaffung einer demokratischen Nation zum Ziel.

Dass die bürgerlichen Gedankenwelten völlig durchtränkt sind von der unlöslichen Verbindung von Nationalstaat und Demokratie, ist verständlich. Auch wenn dies dem aktuellen historischen Stand bürgerlicher Systeme immer weniger entspricht und dabei Emanzipationsbewegungen in einen falschen Zusammenhang stellt.

Wie stark dieses bürgerliche Vorurteil in der Atlantiker*innen-Kultur an beiden Küsten verankert ist, zeigt sich auch daran, dass es von vielen Sozialist*innen unreflektiert übernommen wird. Gilbert Achcar z. B. spricht sogar von einer „kurdischen Nationalbewegung“, was in völligem Gegensatz zu ihrer Selbstdefinition steht. Auch viele solidarische Menschen sind verzweifelt, weil die Kurden noch immer kein eigenes Land haben, als wäre dieses zutiefst völkische Konzept, demzufolge jeder Sprachgruppe ein Nationalstaat zustünde der Weisheit letzter Schluss.

Zu diesem Denken, als sei der Nationalstaat kulturell hegemonialisierter Ethnien ein politisches Naturgesetz, sagt diese neue Welle der kurdischen Emanzipation ein sehr deutliches ” Nein!”

Zu diesem Denken, als sei der Nationalstaat kulturell hegemonialisierter Ethnien ein politisches Naturgesetz, sagt diese neue Welle der kurdischen Emanzipation ein sehr deutliches ” Nein!

„Demokratischer Konföderalismus ist offen gegenüber anderen politischen Gruppen und Fraktionen. Er ist flexibel, multikulturell, antimonopolistisch und konsensorientiert. Ökologie und Feminismus sind zentrale Pfeiler. Im Rahmen dieser Art von Selbstverwaltung wird ein alternatives Wirtschaftssystem erforderlich, das die Ressourcen der Gesellschaft vermehrt, anstatt sie auszubeuten, und so den mannigfaltigen Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird. (…) Der Demokratische Konföderalismus in Kurdistan ist gleichzeitig eine anti-nationalistische Bewegung. Sie beabsichtigt die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage zu stellen. Ihr Ziel ist keineswegs die Gründung eines kurdischen Nationalstaates“ schreibt Abdullah Öcalan 2012 in seiner Schrift „Demokratischer Konföderalismus“.

Als Sozialist mag man seine Konzeption verwerfen oder auch nicht, dass aber die Verwendung seines Portraits hierzulande kriminalisiert ist, sagt sehr viel über die demokratische Substanz Deutschlands aus.

Die kurdische Befreiungsbewegung ist ethnisch vielfältig

Wenn hierzulande von „den Kurden“ gesprochen wird, so ist das richtig und falsch zugleich: richtig, weil die syrischen Kurd*innen den dominanten und politisch klarsten Teil der kurdischen Befreiung ausmachen und falsch, weil dabei die beträchtliche Zahl an Araber*innen, Assyrer*innen, Chaldäer*innen, Aramäer*innen, Armenier*innen, Tscherkesse*innen, Turkmene*innen und kurdophonen Jesid*innen unter den Tisch fällt. Deren Diskriminierung ist per Verfassung der Föderation strikt untersagt, ihre Einheiten sind in das Armeebündnis der Konföderation (SDF) völlig gleichberechtigt integriert und zu einem beträchtlichen Teil wirken sie am demokratischen und feministischen Umbau der lokalen Gesellschaft mit. Einen verstärkenden Schub erfuhr der beträchtliche Frauenanteil an diesen Kampfeinheiten durch den starken Zulauf arabischer Frauen, die man schwerlich den Kurdinnen wird zurechnen können.

Andererseits gibt es auch jene Kurd*innen, die für das traditionelle Nationalstaatskonzept eintreten und auf diesem Wege sehr weit gekommen sind. Dies trifft auf die irakischen Kurd*innen, die „Barsani-Leute“ zu, die jedoch durch die dort herrschende Korruption verrufen sind.

Andererseits gibt es auch jene Kurd*innen, die für das traditionelle Nationalstaatskonzept eintreten und auf diesem Wege sehr weit gekommen sind.

Um Geld einzunehmen, gestatteten sie sogar dem türkischen Militär eigene Stützpunkte. Als bei dem türkischen Angriff auf die Selbstverwaltungsgebiete Syriens der Ruf nach Solidarität immer stärker wurde, flehte Barsani Russland an, militärisch gegen die Türkei vorzugehen. Irakischen Kurden, denen Solidarität mehr bedeutet als um Hilfe bitten, gingen ins Nachbarland und schlossen sich der YPG an.

Die iranischen Kurden sind in ihrer kulturellen Selbstverwaltung im politischen Rahmen der iranischen Republik heute wohl am weitesten vorangekommen (eigene Schulen, Verlage, Filmstudios, die zum großen Teil von der Zentralregierung finanziert werden.)

Kurden sind mit ca. 35 Millionen Menschen weltweit die größte Minderheit ohne eigenem Nationalstaat. Zum Vergleich: Belgien hat ca. 11 Millionen Einwohner*innen.

Die internationalistische Kommune von Rojava

Es lohnt sich für Sozialist*innen, einmal genauer hinzuschauen. Die Erklärungen und Reden der internationalistischen Kommune von Rojava enthalten keinen Verratsvorwurf gegenüber der USA, sondern sie sprechen davon, „allein gelassen“ worden zu sein. Auch ist nirgendwo von einer „nationalen Bewegung“ oder einer Zukunft in einem Nationalstaat die Rede.

Sie bezeichnen ihr System als „Konföderation“, „autonome Region“ oder einfach „Selbstverwaltungsgebiete“. Ihre Vorstellungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben decken sich in vielem mit Kräften in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, der Kors*innen, der Zapatist*innen oder der FARC. Letztere hat ihre volle Unterstützung für den Kampf der YPG bekundet.

Anlässlich der „Konföderalismus-Konferenz“ in Rom Anfang Oktober 2019 erläuterte das kurdische Narichtenportal anfdeutsch.com das Föderalismuskonzept wie folgt:

„Ein gleichberechtigtes Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen in gegenseitigem Respekt, das auf Prinzipien wie Geschlechterbefreiung, demokratischem Pluralismus, direkter Demokratie und einer ökologischen und kommunalen Ökonomie unter Kontrolle der Bevölkerung beruht. Dieses Konzept – der Demokratische Konföderalismus – zeigt auf, dass es sogar innerhalb eines bewaffneten Konflikts möglich ist, ein neues Projekt zu verwirklichen, das den Willen der lokalen Bevölkerung widerspiegelt.

Diese Form der demokratischen Perspektive, die mit der Überwindung des Nationalstaats und direkter Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen ein friedliches und harmonisches Lösungsmodell für den gesamten Mittleren Osten darstellt, wird in einem sich ständig verändernden globalen Kontext gelebt.“

Die Großmächte mitsamt dem EU-Anhang werden einen Teufel tun, solch ein Konzept zu unterstützen oder zu fördern. Die Ansteckungsgefahr ist viel zu groß.

Ein Frauen steinigender und Männern mit stumpfen Messern köpfender Gottesstaat ist für diese Mächte noch eher hinnehmbar als ein erneuerter revolutionärer Bazillus. Einer, der nicht in einem autoritären autokratischen, totalitärem Regime endet, sondern in einen demokratischen Selbstverwaltungssozialismus mündet. Möge Allah die USA, die EU und die restliche Welt vor solch einer Epidemie bewahren, die wohl das Ende der bisherigen Weltmachtzentren bedeuten würde!

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