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Warum eine „andere Wirtschaftspolitik“ nicht greift – Warum wir ein anderes Wirtschaftssystem wollen

Von Daniel Berger | 13.02.2006

Mensch muss keine großen Abhandlungen lesen, um sich ein Bild von der Perspektivlosigkeit und den hervorstechenden Übeln der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu machen. Beispiele extremer Ausbeutung, der Unterdrückung von Frauen oder nationaler Minderheiten, von Kriegen und der Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen sind tagtäglich Inhalt diverser Medienmeldungen. Aber damit werden noch  nicht  die Mechanismen der tagtäglichen, allem anderem zugrunde liegenden Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beleuchtet. Wer davor die Augen verschließt wird nicht begreifen können, warum die Gesellschaft so ist wie sie ist.

Kern des Funktionierens der bürgerlichen, zerstörerischen und lebensbedrohenden Gesellschaftsordnung ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. Wer sich gegen Unterdrückung, Krieg und Umweltzerstörung wendet, sollte sich darum bemühen, die Funktionsweise des bestehenden Systems zu begreifen und sollte sich an der Ausarbeitung von Alternativen beteiligen. Sicher: Die „theoretische“Beschäftigung mit diesen Fragen ist ganz ohne Zweifel nicht ausreichend. Dort wo sich keine materielle Gewalt zu dem Gedanken gesellt, bleibt es bei leeren „Gedankenspielen“. „Theorie“ ist also nicht hinreichend, aber sie ist dennoch unverzichtbar. Denn wenn wir nicht wissen, wohin wir wollen, werden wir nie bei einer brauchbaren Alternative ankommen, sondern wir werden nur die Fehler der Geschichte wiederholen.

Deswegen geht es uns in diesem Beitrag um die Erörterung strategischer Fragen, die um so mehr an Bedeutung gewinnen, als Linkspartei.PDS und WASG mit ihren – wie wir meinen irreführenden – Konzepten eine gewisse Breitenwirkung erzielen und für Verwirrung sorgen.

In Heft I von „Warum wir den Sozialismus wollen“ hat Genosse Bernhard Brosius mit seinem Beitrag „Bedürfnisorientierte Ökonomie – die Wirtschaft der Zukunft“ umrissen, welche Wirtschaftsordnung wir für die einzig vorstellbare rationale Alternative halten. Hier wollen wir nun darlegen, wo wir die Verbindungsglieder von der bestehenden Wirtschaftsordnung hin zu dem neuen System sehen, bzw. wo wir sie gerade nicht sehen, und weshalb wir von der Notwendigkeit eines wirklichen Bruchs ausgehen (mit anderen Worten: warum wir von der Unvermeidbarkeit einer Revolution ausgehen, sollen sich nicht die Tragödien des 20. Jahrhunderts wiederholen).
Das Kapital – ein gesellschaftliches Verhältnis
Für uns als MarxistInnen ist klar, dass nur eine selbsttätige ArbeiterInnenklasse diesen Systembruch durchsetzen und sichern kann. Dazu bedarf es also einer in der Gesellschaft weit verbreiteten Einsicht in den Charakter einer Ware, in die Wirkungen des Konkurrenzmechanismus auf die Wirtschaft (und auf sämtliche sonstigen Lebensbereiche!) und in die Folgen der Marktwirtschaft. Ohne bewusstes Handeln gegen deren Prinzipien kann eine andere, eine rational funktionierende, Ressourcen schonende und menschliche Gesellschaftsordnung nicht aufgebaut werden. Deswegen führen alle Rezepte, die auf eine Nutzung von Marktmechanismen aufbauen, in die Irre. Sie sind nicht nur einfach Umwege, sondern werden unausweichlich zu tiefen Enttäuschungen und zur Abwendung breiterer Schichten von „linken“ Konzepten führen.

Nach Marx sind die Warenbeziehungen (und ist das Kapitalverhältnis) ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen, das als „Beziehung zwischen den Sachen oder zwischen Menschen und Sachen erscheint“ (Mandel, Kontroversen um „Das Kapital“). Wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen nicht gemäß eines gesellschaftlichen Bedürfnisses vonstatten geht und die Ergebnisse der Arbeit nicht gemäß den Bedürfnissen verteilt werden, sondern nur das produziert wird, was dem Kapitalbesitzer Profit verspricht, dann steht dies im grundsätzlichen Widerspruch sowohl zur rationellen Verwendung der Ressourcen wie auch zur Befriedigung der Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen und der Gesellschaften als Ganzes.

Auch ohne Rüstungsproduktion und Krieg, ohne die Produktion all des Schrotts zur Befriedigung von durch Werbung erzeugten „Bedürfnissen“ ist die Warenproduktion eine in dieser Wirtschaftsordnung strukturell angelegte Verschwendung menschlicher Ressourcen. Die gesellschaftliche Natur der Arbeit wird nämlich nur im Nachhinein anerkannt, durch den Verkauf der Ware, also dann wenn der in ihnen angelegte Wert „realisiert“ wird. An den von Marx in „Das Kapital“ dargelegten Mechanismen hat sich, entgegen den Behauptungen so vieler angeblicher „SozialistInnen“ (auch und gerade aus der PDS) nichts geändert. Mit Ernest Mandel möchten wir sagen, im Gegenteil: „Auch ohne Vorliebe für Paradoxa könnte man durchaus behaupten, dass der ‘konkrete’ Kapitalismus des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts vom strukturellen Gesichtspunkt aus dem ‘abstrakten’ Modell des ‘Kapitals’ weit näher kommt als der ‘konkrete’ Kapitalismus von 1867, als Marx die Korrektur des ersten Bandes beendete. Erstens weil die Zwischenklassen kleiner unabhängiger Produzenten, Besitzer ihrer eigenen Produktionsmittel, die vor einem Jahrhundert noch eine bedeutende soziale Schicht bildeten, heute im Westen ihre Existenz fast völlig verloren haben, abhängige Lohn- und Gehaltsempfänger, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, nun mehr als 80 Prozent der ökonomisch aktiven Bevölkerung in den meisten westlichen Ländern ausmachen, in einigen sogar über 90 Prozent. Zweitens weil die Konzentration und Zentralisation des Kapitals zu einer Situation geführt hat, wo nicht nur ein paar Dutzend riesiger Konzerne die Wirtschaft jedes imperialistischen Landes beherrschen, sondern auch einige wenige hundert multinationale Konzerne in ihren Händen ein Drittel des gesamten Reichtums der Weltwirtschaft konzentrieren. Drittens weil die Produktivität und die Vergesellschaftung der Arbeit sich in einem solchen Maß erhöht haben, dass die Wertproduktion für die private Bereicherung weit mehr absurd geworden ist, als Marx vor einem Jahrhundert vorhergesehen hat, und dass die Welt förmlich nach einer geplanten Bewirtschaftung der Ressourcen schreit, um ihre Bedürfnisse auf der Basis bewusst und demokratisch gewählter Prioritäten zu befriedigen, so dass sogar Gegner des Sozialismus nicht umhin können, diese Botschaft zu verstehen.“

Was sich gewandelt hat sind eher Nebensächlichkeiten, die an den Mechanismen nichts ändern. So hat sich z. B. das Schwergewicht nicht verkaufter Waren – also der verausgabten Arbeit, die nicht als gesellschaftlich notwendig anerkannt wurde – auf die Ausrüstungsgüter verlagert, und zwar aufgrund der verringerten Lagerhaltung und der Just-in-time Produktion. Ein wachsender Anteil von Waren wird „auf Bestellung“produziert. Aber zur Kapitalverwertung gehört ja gerade auch – und im Spätkapitalismus in wachsendem Maß – die Verwertung des fixen Kapitals, also gerade der großen (und immer aufwendiger werdenden) Maschinen und Anlagen. Mit andere Worten: Auch dort wo das zirkulierende Kapital (im Wesentlichen Rohstoffe und Arbeitskraft) gering gehalten wird, müssen sich die Maschinen und Gebäude in „angemessener Zeit“ bezahlt machen, amortisieren. Zum Zeitpunkt ihrer Anschaffung ist ihre spätere tatsächliche Auslastung und Verwertung gerade nicht absehbar. Ein Blick auf die seit Jahren aufgebauten Überkapazitäten in der Automobilindustrie (GM muss vor allem in de
n USA ganze Fertigungsstraßen stilllegen) genügt, um diesen Mechanismus zu erkennen.

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Das Konzept der Reformisten
Unter Reformisten verstehen wir hier nicht etwa die Vertreter der heutigen SPD, denn diese hat sich schon vor Jahrzehnten davon verabschiedet, diese Gesellschaftsordnung ändern zu wollen und (ganz gleich mit welchen Mitteln) den Sozialismus anzustreben. Der Begriff „Reformismus“gibt selbstverständlich nur dann einen Sinn, wenn er sich auf Konzeptionen bezieht, die über Reformen eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung anstreben. Die wichtigsten Vertreter des heutigen Reformismus sind vor allem die Linkspartei.PDS, die WASG, die Memorandumgruppe  sowie die Kräfte, die die Zeitschrift Sozialismus herausgeben oder unterstützen. Wir beziehen uns hier also vor allem auf diese vier „Strömungen“, die sich in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen überraschend  ähnlich sind. Auf der Ebene der wirtschaftspolitischen Konzeptionen – einer der zentralen Grundlagen einer Partei – wird es jedenfalls kaum Probleme bei der angestrebten Fusion geben. Wenn es knallen sollte, dann eher wegen der Anzahl der Ministerposten der einen oder der anderen Gruppe.

Von den Vertretern keynesianischer Politik (vor allem Heiner Flassbeck , Herbert Schui, Hochschullehrer an der HWP Hamburg, und Oskar Lafontaine wollen wir hier erst mal absehen. Leider aber, das sei hier schon angemerkt, unterscheiden sich die Konzepte der Reformisten und der Keynesianer nur graduell, in der Konsequenz jedenfalls laufen sie auf exakt dieselbe Befangenheit in die und Ergebenheit gegenüber den vorhandenen kapitalistischen Realitäten hinaus. Zur fehlenden Systematik und damit indirekt zur Wesensverwandheit reformistischer und keynesianischer Konzepte sei hier auf Günter Krause  verwiesen: „Die alternative Ökonomie besitzt ein heterogenes Profil. In ihr finden sich Postulate des Frühsozialismus und der Marxsch Kapitalismuskritik ebenso wie Ansätze der nichtmarxistischen Volkswirtschaftslehre, wirtschaftsdemokratische Ideen und sozialethische Vorstellungen.“

In den folgenden Ausführungen beziehen wir uns vor allem auf die Papiere der AG Wirtschaftspolitik der PDS, auf die Artikel in der Zeitschrift Sozialismus und auf das Buch von Klaus Steinitz „Chancen für eine alternative Entwicklung. Linke Wirtschaftspolitik heute“. Klaus Steinitz ist in gewisser Weise am besten geeignet, stellvertretend für das gesamte reformistische Spektrum zitiert zu werden. Er ist als Wirtschaftswissenschaftler seit Jahren in der Memorandumgruppe aktiv, schreibt in Sozialismus und ist Mitglied der AG Wirtschaftspolitik der PDS. Sein letztes Werk ist zwar in keiner Weise originell, aber es bringt den letzten Diskussionsstand dieser Kreise ganz gut auf den Punkt. In diesem Buch wie auch vor allem in der Beilage (Supplement) der Zeitschrift Sozialismus der Nummer 8-9/2005 („Bundesrepublik Deutschland 2005. Eine andere Politik ist wählbar. Kurzbilanz und Vorschläge für eine linke Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik“) fällt auf: Je näher mensch sich der (erneuten) Vertretung im Parlament und einer möglichen Regierungsbeteiligung sieht, umso kleinkarierter und bescheidener werden die gemachten Vorschläge. Von einer anderen Vision ist dann gar nicht mehr die Rede, von einem plausiblen Projekt zur Durchsetzung einer anderen Gesellschaftsordnung ganz zu schweigen.

Steinitz schwebt ein Wandel vor „… zu einer stärkeren gesellschaftlichen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Regulierung, zu einer neuen Verbindung von Markt- und gesellschaftlicher Regulierung“ (S. 25) Er will einen Kampf „um die Sozialpflichtigkeit (!) des Eigentums und die Erhaltung des Sozialstaates und gegen das einseitige (!) Abwälzen der ‘Globalisierungsfolgen’ auf die Lohnabhängigen und sozial Schwachen …“ (S. 44) „Voraussetzung für eine andere Gestaltung der Globalisierung sind erhöhter Druck und international koordinierte Aktionen der vielfältigen globalisierungskritischen Bewegungen. Im Vordergrund steht dabei die Notwendigkeit,… eine Re-Regulierung der internationalen Finanzmärkte, eine Reorganisation und Neuorientierung internationaler Institutionen zu erreichen, die die Macht der Finanzmärkte und der Banken einschränken …“ (ebenda) Es gehe darum, „… das Missverhältnis zwischen der internationalen Organisation und Stärke des Kapitals auf der einen Seite und der Schwäche der internationalen Koordinierung der Gewerkschaften … zu verringern.“ (ebenda) Nach Steinitz geht es um, „… den Entwicklungsweg einer emanzipativen, ökologisch nachhaltigen, sozialgerechten und auf Demokratisierung beruhenden Alternative“.

„Für alternative Wirtschaftspolitik ist es wichtig, zwischen objektiven Veränderungen und Tendenzen, von denen auch alternative Wirtschaftspolitik ausgehen muss, und solchen Veränderungen und Tendenzen zu unterscheiden, die von der Politik wieder aufgehoben bzw. zumindest wesentlich modifiziert werden können.“ (S. 82).

Und da, wo es dann immer „praktischer“ wird: „Den neoliberalen Forderungen nach weiterer Deregulierung und Abbau demokratischer Mitbestimmung setzt alternative Wirtschaftspolitik die Forderung nach einer an sozialen und ökologischen Zielen orientierten Ergänzung der Marktregulierung durch gesellschaftliche Regulierung, die über zivilgesellschaftliche und staatliche Formen realisiert wird, sowie die Forderung nach einem Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft entgegen.“ (S. 116). Und: „Zur Unterstützung des Aufbau Ost gehören auch Vorschläge zur Stärkung des Eigenkapitals und zur Erleichterung der Kreditbedingungen der ostdeutschen KMU (kleinere und mittlere Unternehmen), d. h. zur Verbesserung der Angebotsbedingungen für ihre Entwicklung.“ (S. 114) Genau diese Art von Wirtschaftspolitik hat übrigens Gregor Gysi in seiner Zeit als Wirtschaftssenator in Berlin gemacht.

Im Papier der AG Wirtschaftspolitik der PDS heißt es: „Eine durchgreifende Besserung (der wirtschaftlichen Lage) wäre nur über den Kurswechsel hin zur Stärkung und Entwicklung der Binnenwirtschaft zu haben.“ (S. 4) Alles andere ist hier nur Beiwerk. So beschränken sich die Vorschläge für eine andere Finanz- und Steuerpolitik auf solche systemimmanenten Instrumente wie „die Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen“oder die Einführung einer Tobin-Steuer (also nicht etwa die Verhinderung von Kapitalverkehr).

Wie sehr die PDS das Kleinkapital fördern will zeigt derselbe Text auf Seite 5. Dort wird dargelegt, dass neben der „Schaffung existenzsichernder sinnvoller Arbeitsplätze“(ohne dazulegen, wie dies konkret geschehen soll) und der Ankurbelung öffentlicher Investitionen die kleinen und mittleren Unternehmen gefördert werden sollen: „Das schließt ein: unentgeltliche Überlassung ungenutzter kommunaler Immobilien; verbilligte Mieten in Gründerzentren; steuerliche Begünstigung in den Anlaufjahren und stärkere Marketing-Beratung für Existenzgründer/innen; Erleichterung des Zugangs für Handwerksbetriebe und kleine Unternehmen zu Krediten …“ usw.
Steinitz fasst sein Konzept in folgender Weise zusammen:  Es brauche eine „Neue Qualität gesellschaftlicher Regulierung der Wirtschaft, die die Existenz des Marktes – einschließlich seiner regulativen Möglichkeiten –
anerkennt und nutzt und sich auf eine makroökonomische Planung der Investitionen, der Grundstrukturen der Produktion und anderer gesamtwirtschaftlicher Proportionen in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Menschen und mit sozialen und ökologischen Kriterien stützt.“ (S. 124).

Genauso beschränkt und systemkonform sind die Vorschläge, die im bereits erwähnten Supplement der Zeitschrift Sozialismus (ebenfalls vor der Bundestagswahl 2005) erschienen. Mensch schlägt vor:

eine Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage;

die Zurückdrängung des Niedriglohnsektors (keine Abschaffung!)

und mensch will über die Nachfragepolitik „die Wettbewerbsfähigkeit wirkungsvoller beeinflussen“ (!!) (S. 20)

Aus all diesen Vorschlägen gehen mindestens drei Dinge hervor:

1. An den vorhandenen Macht- und Eigentumsstrukturen soll nicht grundsätzlich gerüttelt werden, weder auf der politischen, noch auf der ökonomischen Ebene. Nicht nur werden alle Gesetze anerkannt, es wird auch die Berechtigung von „Kapital“ (und damit der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung) anerkannt. Mensch will sogar die KMU fördern weil sie – nicht etwa die ArbeiterInnenklasse – als ein notwendiges Gegengewicht zum Großkapital angesehen werden (siehe Gysis Wirtschaftspolitik). Die Marktfähigkeit der Unternehmen soll nicht gefährdet werden und grundsätzlich wird der Markt als ein notwendiges Regulierungsinstrument angesehen.

2. Zur Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage – und darüber zur Herstellung sozialerer Verhältnisse – wird im Wesentlichen auf zwei Instrumente gesetzt:

a. Die „…Veränderung des Verteilungsverhältnisses zu Gunsten der Masseneinkommen … gewinnt noch mehr an Bedeutung … (sie ist die) wichtigste Bedingung für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung.“(Steinitz S. 57)

b. Es braucht eine „… neue Qualität des Wachstums“ (derselbe, S. 58), d. h. vor allem eine „ökologische und soziale Nachhaltigkeit“; dazu sollen die staatlichen Investitionen gesteigert werden.

3. Das reformistische Modell setzt grundsätzlich an einer Änderung der Regierungspolitik an und nennt als Akteur in diffuser Weise den „Machtblock aus zivilgesellschaftlich demokratischen Akteuren der gesellschaftlichen Mitte und sozial benachteiligte Schichten.“

Der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital verschwimmt in diesem Konzept vollständig, bzw. wird einfach übergangen. Eine eigenständig handelnde ArbeiterInnenklasse gibt es hier nicht. Alles Tun und Handeln ist abhängig von Regierungshandeln und kann ihm bestenfalls zuarbeiten. Der Kampf für ein anderes Gesellschaftssystem ist aus der Vorstellungswelt dieser Kreise verschwunden.

In der Konsequenz läuft diese Politik auf eine keynesianische Wirtschaftspolitik hinaus, nämlich auf die Kombination von Steigerung der Massenkaufkraft und Ankurbelung staatlicher Wirtschaftstätigkeit vor allem über eine Steigerung von Investitionen. Es werden also weder die Wettbewerbswirtschaft noch die Strukturen bürgerlicher Herrschaft in Frage gestellt.

Daraus ergeben sich für uns folgende Fragen:

1. Worin liegt dann der Unterschied der so beschriebenen Politik zur offiziellen (sozialdemokratischen) Politik der 60er und 70er Jahre? Hat dies etwa den Ausbruch von Wirtschaftskrisen verhindert? Ist nicht auch damals das gesellschaftliche Produkt sehr ungleich verteilt worden und zwar mit einer im System angelegten wachsenden Kluft zwischen arm und reich? Werden mit der Fortexistenz dieses Wirtschaftssystems nicht weiterhin Menschen in Existenznöten leben, oft nicht wissen, wie sie über die Runden kommen, als Arme kränker leben und früher sterben als die Reichen? Werden nicht weiterhin die Kinder ärmerer Schichten schlechtere Bildungschancen haben usw. usf?

2. Wie kann eine in ihren grundlegenden Mechanismen so weiter existierende (also kapitalistische) Wirtschaft einen „Paradigmawechsel“ (Supplement S. 20) herbeiführen, ohne einen Systembruch zu bewerkstelligen. Beißt sich denn das Prinzip der Profitwirtschaft nicht mit den anderen Investitionsprioritäten, oder mit den höheren Löhnen, die die Reformisten gerne hätten?

3. Wie ist eine andere Wirtschafts- und Steuerpolitik denkbar und durchsetzbar ohne mit den Zwängen des kapitalistischen Weltmarktes zu brechen? Wäre bei (noch so kleinen) Eingriffen in die Kapitalfreiheit (also bei der Einführung einer Tobin-Steuer) nicht damit zu rechnen, dass eine massive Kapitalflucht eintritt? Wäre nicht damit zu rechnen, dass alle internationalen Institutionen des Kapitals und des Bürgertums (von der Weltbank über den IWF bis zur G 8 und der EU-Kommission) alle Hebel in Bewegung setzen würden, um internationale Geschäfte des deutschen Kapitals unmöglich zu machen?

Markt und Plan: Ein unversöhnlicher Gegensatz

Aus der Leichtfertigkeit, mit der die Reformisten aller Couleur die tatsächlichen Lebenslagen der lohnabhängigen Bevölkerung implizit entweder als zweitrangig oder zumindest als unabänderbar ansehen, kann mehreres geschlossen werden. Vier Dinge scheinen jedenfalls klar:

Erstens setzen sie auf Konzepte, die ausgehend von den bestehenden Machstrukturen andere Akzente setzen, die „mit der Zeit“ (vor allem über erhöhtes Wirtschaftswachstum) zur allmählichen Besserung der Lebenslagen vieler Menschen beitragen werden. Wichtig ist dabei wohl nur, dass dies von den richtigen Menschen bewerkstelligt wird. Und dazu bieten sich nicht nur die Gysis und Lafontaines an. Eine ganze Legion von alternaiven „Wirtschaftsberatern“ und solchen, die es werden wollen, steht bereit, zusammen mit allen anderen Zuarbeitern und Möchtegern-Zuarbeitern für öffentliche Mandatsträger und Regierungsverantwortliche (oder hochrangige Beamte).

Zweitens sind ihre Konzepte von einer völlig irrigen Vorstellung des Kapitalismus und seiner Funktionsmechanismen geprägt. Die Zwänge des Marktes, die Unerbittlichkeit seiner Logik mit all den Folgen für die von der Lohnarbeit geknechtete Mehrheit der Bevölkerung sind ihnen nicht klar oder sie verdrängen sie. Am deutlichsten wird dieses irrige Konzept an der bei ihnen kaum vorhandenen Krisentheorie, d. h. dem völligen Fehlen einer Vorstellung davon, warum es im Kapitalismus strukturell bedingt immer wieder zu Krisen kommen muss, ganz gleich welche Wirtschaftspolitik gerade von wem gemacht wird.

Drittens ist aufgrund des tiefen Pessimismus, der aus ihren Konzepten spricht, davon auszugehen, dass sie eigentlich überhaupt keine Vorstellung von einer anderen, einer rational arbeitenden Gesellschaftsordnung, also vom Sozialismus haben.

Viertens drückt sich ihr grundlegend pessimistisches Geschichts- und Menschenbild auch in der Tatsache aus, dass in all ihre
n Darlegungen zur Änderung und Durchsetzung einer anderen Wirtschaftspolitik die Arbeiterklasse als eigenständiges Subjekt überhaupt nicht vorkommt.
Harmonischer Kapitalismus?

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Erörterung der Frage, warum es nach unsrer Auffassung vollkommen irrig ist, man könne den Kapitalismus krisenfrei machen.

1. Das Kapital hat eine ihm eigene und unerbittliche Logik. Es muss danach streben sich optimal zu verwerten (also die von ihm produzierbaren Waren – Güter und Dienstleistungen – wirklich in größtmöglicher Zahl zu produzieren und sie dann auch tatsächlich, zu möglichst hohen Preisen,  zu verkaufen!). Wenn es sich nämlich nicht darum bemüht, einen maximalen Profit auf das eingesetzte Kapital zu erzielen, läuft es Gefahr, nicht genügend Mehrwert für die Verbilligung (Rationalisierung) der eigenen Reproduktion (also nicht genug m-beta) zur Verfügung zu haben. Bei Strafe des eigenen Untergangs ist also jedes Kapital gezwungen, seine Konkurrenzfähigkeit dadurch zu bewahren (oder versuchen zu bewahren), dass es ständig rationalisiert und danach strebt, sich auf einer höheren technologischen Stufe zu reproduzieren.

Es ist eine Mär, mit Hilfe des Shareholder-Kapitalismus könne dieser Zwang abgeschüttelt werden, weil sich doch offensichtlich so viele Anteilseigner (shareholder) nur um den kurzfristig erzielbaren Profit kümmerten und diesen „über Gebühr“ aus den Betrieben abziehen (also m-alpha zu Lasten von m-beta erhöhen). Auch eine solche Verschiebung ändert natürlich rein gar nichts an den Zwängen, die sich aus dem Konkurrenzverhältnis ergeben. Im Gegenteil: Gerade weil nicht in allen Konzernen diese Verschiebung (so sie überhaupt gesamtgesellschaftlich relevant ist) in dem gleichen Ausmaß vonstatten geht, verändern sich die Konkurrenzbeziehungen noch schneller und Firmenzusammenbrüche treten in der Folge noch häufiger und in jedem Fall noch „unerwarteter“ auf.

Auch dort, wo es gelingt den Anteil des zirkulierenden Kapitals gering zu halten (vornehmlich durch eine verringerte Lagerhaltung und durch Just-in-Time-Produktion) muss das fixe Kapital sich in angemessener Zeit „bezahlt machen“ und, vermittels der Produktion,  Gewinn abwerfen. Das, was das eine Kapital einführt, bleibt den anderen nicht verschlossen und somit sind auch hier die Konkurrenzbedingungen immer wieder erneut in vergleichbarer Form reproduziert.

2. Es ist ebenfalls eine Mär, dass alle Konzerne, sind sie nur groß genug, im Geld schwimmen und vom Konkurrenzdruck befreit sind. Nicht nur die Automobilindustrie ist gerade ein krasses Beispiel dafür. Auch in der Handy-Sparte, im Bereich der Telekommunikationsausrüster, bei den Hausgeräteherstellern, im Kraftwerksbereich usw. sind genügend aktuelle Beispiele vorhanden, in denen Konzerne aus Konkurrenzgründen (wegen mangelnder Verwertbarkeit des Kapitals und nicht aus bösem Willen!!) ganze Werke schließen oder sogar der Konzern zusammenbricht (Babcock usw.). Dass auch Werke geschlossen werden, die „eigentlich rentabel sind“ (die „schwarze Zahlen schreiben“), nur weil sie nicht den Maximalprofit erzielen, ist nur die Kehrseite, bzw. die deutlich sichtbare Bestätigung dieser Konkurrenzzwänge. Das Kapital so schnell wie möglich aus Bereichen abziehen, die keinen Maximalprofit mehr versprechen, und es in Bereichen investieren (entweder industriell oder auf den Finanzmärkten), die auf Dauer höhere Profite versprechen, legt die ganze Absurdität, die ganze Irrationalität und Unmenschlichkeit dieses Wirtschaftssystems offen, denn die Folgen für die davon betroffenen Menschen sind für das Kapital dabei uninteressant.

3. Die vermehrten Kapitalbewegungen, die wir auch in der Bundesrepublik seit Jahren erleben (also Werksschließungen, Verlagerungen ins Ausland usw.) sind Ausdruck der Kapitalbemühungen, der nach wie vor wirkenden Tendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken. Zwar wird dieser Fall immer wieder durch bestimmte Maßnahmen zur Erhöhung des relativen Mehrwerts gebremst oder für eine gewisse Zeit umgekehrt, aber wir dürfen uns von kurzfristigen Entwicklungen nicht irreführen lassen! Kurzfristig wirksam ist die Erhöhung des relativen Mehrwerts (also im Wesentlichen über den Einsatz neuerer Maschinen und die Anwendung einer – für die Kapitalverwertung – besseren Arbeitsorganisation) auch dann, wenn es z. B. gelingt, über eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten dem einen oder dem anderen Kapital Vorteile zu verschaffen. In dem Maße, wie sich dann die anderen Kapitale gezwungen sehen, gleichzuziehen (und es ihnen gelingt, dies in der „eigenen“Belegschaft durchzusetzen) werden unter dem Strich wieder die gleichen Konkurrenzbedingungen wie vorher hergestellt, mit dem Unterschied, dass sich dann die Spirale der Arbeitsbedingungen für die Lohnabhängigen weiter nach unten gedreht hat. An diesen Mechanismen wird kein Wirtschaftsminister Gysi und kein Finanzminister Lafontaine etwas ändern können. Die einzige Kraft, die dieser Schraube etwas entgegenzusetzen hat, ist die organisierte AbeiterInnenklasse.

Übrigens ist dieser Zwang des Kapitals, die Disponibilität der Ware Arbeitskraft zu erhöhen, der wirkliche gesellschaftliche Hintergrund, weshalb mehr und mehr reguläre Jobs in prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Teilzeitjobs, Arbeit auf Abruf etc. umgewandelt werden und nicht eine „herzloser werdende“ Unternehmerschaft.

An dieser Stelle sei aber auch angemerkt:

Die Profitraten sind in Deutschland in den letzten Jahren (unter anderem aufgrund wenig gebremster Maßnahmen zur Änderung der Arbeitsbedingungen) im Durchschnitt der Industrie (also dort, wo langfristig die höchsten und sichersten Profite zu erzielen sind, auch höher als auf den Finanzmärkten, aber das ist eine logische Frage, die es an anderer Stelle zu erörtern gilt) von knapp über 10% auf heute ca. 12% gestiegen. Der Hintergrund ist eine Kombination endogener Faktoren (Senkung der Lohnstückkosten aufgrund sehr günstiger Rationalisierungsbedingungen, sinkende Reallöhne, Flexibilisierung und zum Teil sogar Verlängerung der Arbeitszeiten) und exogener Faktoren (hier vor allem die anhaltende Weltkonjunktur nach der Asienkrise und die extremen Steigerung der Exporte der deutschen Industrie; aber auch die gesunkenen Gewinnsteuern haben eine Rolle gespielt). Es versteht sich, dass diese Bedingungen nicht unendlich fortgeführt werden. Weder werden die ausländischen Konkurrenten ewig das Nachsehen haben, sondern über Fusionen usw. sich in entsprechend bessere Ausgangspositionen begeben können. Noch wird die ArbeiterInnenklasse in Deutschland sich endlos melken lassen und bei den Bestrebungen zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen und der Verbilligung der Löhne auf Dauer gelähmt bleiben. Sicher gibt es Branchen, in denen die Profitraten im Schnitt höher sind, als in der Gesamtindustrie (vor allem im Bereich der Pharmaindustrie werden heute noch ca. 20% „Eigenkapitalrendite“ erreicht; die Umsatzrendite in der Gesamtindustrie beläuft sich heute – Ende 2005 – auf 3,6%). Aber auch die Bedingungen in der Pharmaindustrie werden nicht endlos auf diesem Niveau bleiben können, dazu ist der Gesundheitssektor zu sehr in der Krise und dazu ist auch der Drang von anlagehungrigem Kapital zu groß, das bei anhaltend hoher Profitrate in diesen Sektor hineinströmen würde.

Auf alle Fälle ist es irrig, bei diesen kurzzeitig
wirkenden Profiterhöhungen, die sich bei einem Einzelbetrieb und in absoluten Zahlen bemessen ganz gewaltig ausnehmen können, den Begriff der „explodierenden Gewinne“ zu verwenden. Dieser Begriff hält einer seriösen Untersuchung nicht stand und steht im Gegensatz zu den historisch sich vollziehenden Entwicklungen (vor hundertdreißig Jahren betrugen die Profitraten noch annähernd 100%!).

Ganz gleich wie: Wir sind Gegner der kapitalistischen Produktionsweise, weil sie irrational und unmenschlich ist, ganz gleich wie hoch die Profite im jeweiligen Einzelfall sein mögen. Und umgekehrt sind wir auch nicht dafür, bei „Not leidenden“ Betrieben durch Lohnverzicht zu „helfen“. Die Verteilung der Ressourcen und die Sicherung des Lebensstandards aller Menschen muss Sache der Gesellschaft sein, nicht der „Wettbewerbseinheit“Belegschaft eines Betriebes.

4. Im Gegensatz zum Kapitalismus, der sich in seinen Ursprungsformen in den Poren der alten Gesellschaft (der Feudalgesellschaft oder in anderen vorkapitalistischen Gesellschaftsordnungen) herausbilden konnte, ist eine geplante Wirtschaft per se nicht in Stücken realisierbar. Sie kann sich in keinem Fall in den Poren des Kapitalismus entwickeln. An dieser Krux scheitern alle reformistischen Ansätze, die versuchen, mit „ständig ein bisschen“mehr Staat (staatlicher Investitionstätigkeit, staatlicher „aktiver Konjunkturpolitik“ usw.) dem Sozialismus näher zu kommen. In Wirklichkeit wollen sie damit nur den Kapitalismus zähmen, verdrängen aber – unbewusst, bzw. in aller Regel sogar bewusst – die Tatsache, dass eine Beeinträchtigung der Kapitalverwertung früher oder später zu einer entsprechenden Reaktion des Bürgertums führen wird (Chile war nur eines dieser Beispiele, im industriell hoch entwickelten Deutschland würden ganz andere Mechanismen und viel früher greifen).

Wer den tatsächlichen Bruch mit dem alten System nicht will, wer nicht auf die Machtfrage orientiert, wer nicht darauf setzt, dass eine bewusster werdende und sich politisierende und sich organisierende ArbeiterInnenklasse die Geschicke dieser Gesellschaft selbst in die Hand nimmt, der wird mit seinen Konzepten immer wieder erneut in der Sackgasse reformistischer Wirtschaftspolitik landen.

Marx zu den Krisenursachen
„Es ist eine reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten als zahlende kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub forma pauperis oder die des ‘Spitzbuben’. Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, daß die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden). Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer  Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und ‘einfachen’ (!) Menschenverstand – umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.“
Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band, MEW Bd. 24, S. 409

 

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Die Unvermeidlichkeit der Krise im Kapitalismus

Ein Hauptkennzeichen „reformistischer“ Kapitalismuskritik ist die Verkennung (besser: Verdrängung) der Unvermeidbarkeit von Wirtschaftskrisen im Kapitalismus. Um diese strukturell bedingte Unausweichlichkeit zu kaschieren wird aus der Marx’schen Krisentheorie (die Marx zwar nie in geschlossener Form dargelegt hat, die sich aber aus dem „Kapital“, den „Grundrissen“ und den „Theorien über den Mehrwert“ sehr schlüssig ergibt) ein einziger Aspekt herausgegriffen und zwar die „mangelnde Konsumtion“ (die zu geringe Kaufkraft) der Masse der Bevölkerung. Mit dieser Herauslösung und dem Anhängen an die Theorie der Unterkonsumtion treffen sie sich mit den Keynesianern Aber schon mit dem beiden „Schulen“ gemeinsamen Rezept (höhere Kaufkraft und antizyklische Investitions- und Ausgabenpolitik des Staates) wird deutlich, dass sie insgeheim von der Fortexistenz von Zyklen ausgehen. Das Fatale an dieser Theorie und der entsprechend betriebenen Wirtschaftspolitik: Die Krisen sind damit nicht auszuschalten. Nicht nur war die Wirtschaftskrise 1973/74 damit nicht zu vermeiden. Auch das größte keynesianische Wirtschaftsprogramm der vergangenen 60 Jahre, die enormen staatlichen Investitionen in die japanische Wirtschaft über einen Zeitraum von annähernd 12 Jahren (1991–2003) hat die Krise dort über Jahre hinweg nicht mildern können. Wenn die japanische Industrie im Jahr 2005 erstmals wieder nennenswert zulegen konnte, dann ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass in den 15 Jahren zuvor so viel Kapital vernichtet wurde, dass ausreichend Konkurrenten weggefallen sind und die Kapitalrendite wieder anziehen kann (ein weiterer Faktor ist die Öffnung des chinesischen Marktes). Die in dieser Zeit massiv weg gebrochenen Arbeitsplätze werden aber auch in Japan nicht mehr neu geschaffen.

Will mensch die Ursachen kapitalistischer Krisen wirklich erfassen, muss mensch die Gesamtheit der Reproduktionsbedingungen des Kapitals im Auge behalten. Zwar hat Marx im dritten Band des Kapitals dargelegt, dass der „letzte Grund aller wirklichen Krisen … die Armut und Konsumentenbeschränkung der Massen“ sei, aber das gilt selbstverständlich nur dann, wenn es sich keine Disproportionen (Ungleichgewichte) in den Sektoren der Wirtschaft entwickeln.

Im zweiten Band des „Kapitals“ legt Marx penibel dar , dass diese Disproportionen gerade aufgrund der anarchisch funktionierenden Wirtschaft (also aufgrund der unabhängig von einander durch die Einzelkapitale getroffenen Entscheidungen, mit andere Worten aufgrund eines nicht gesamtgesellschaftlich festgelegten Plans) zwangsläufig sich ergeben und zwar aus mehreren Gründen:

Aufgrund ständig sich ändernder Wertbestimmungen (also der Dynamik der Wertbildung, die gerade nicht in allen Branchen und erst Recht nicht für alle Waren im Gleichschritt geschieht) ändert sich das Wertverhältnis von Waren zu einander. Das wirkt sich vor allem auf das Verhältnis der beiden Abteilungen I und II zu einander aus . Hinzu kommt, dass die Konsumausgaben der Ware Arbeitskraft unbestimmt sind und dass die Arbeitskraft nur eine dieser Konsumenten ist. Hierzu zählen nämlich noch: der staatliche Sektor, der vom Kapital nicht produktiv verausgabte Anteil des Mehrwerts (also
m-alpha) die Schwankungen, die sich aus dem internationalen Markt ergeben usw.
Die Ursache für diese ungleiche Wertentwicklung (und damit das ständige Verschieben der Relationen der Warenwerte zu einander) ist die sich ständig ändernde technische Grundlage (also die unterschiedlich steigende Produktivität). Der Wert aller Waren (in seiner Eigenschaft als gesellschaftliche Größe) unterliegt damit ständigen Veränderungen.

Eine allseitig wirkende Harmonie der Entwicklung von Produktion (innerhalb der verschiedenen Abteilungen und zwischen ihnen) und Konsumtion, also ein Gleichgewicht des Prozesses der erweiterten Reproduktion, setzt auch voraus, dass die Waren zu dem Preis verkauft werden, der dem Wert zum Zeitpunkt ihrer Herstellung entspricht. Die ständig sich weiter entwickelnde Technik hat aber zur Folge, dass der Wert dieser Waren sinkt. Krisen sind also nicht nur ein Kapitalbereinigungsmittel (Vernichtung von nicht mehr verwertbarem konstantem Kapital), sondern auch ein – bisweilen heftig wirkender – Mechanismus zur Anpassung der Preise an die sinkenden (bzw. gesunkenen) Warenwerte.

Die Disproportionen sind also nicht nur eine Folge unterschiedlicher Produktivitätsentwicklungen zwischen den Abteilungen, sondern ergeben sich aus der dem Kapital eigenen Tendenz, Kosten einzusparen und deswegen die Produktivität des eingesetzten Kapitals zu erhöhen (vor allem, aber nicht nur über technische Rationalisierungen)

Hinzu kommt, dass die letzten Konsumenten gerade nicht ständig an Kaufkraft gewinnen, denn genau das würde ja den Interessen des Einzelkapitals widersprechen, das genau diese Ebene auch als einen Kostenfaktor ansieht, ein Faktor also, der sich auf die Höhe des eigenen Profits auswirkt.

Was zudem Reformisten hartnäckig verdrängen: Nicht alle zum Verkauf angebotenen Waren sind Konsumgüter (und können von der Masse der Lohnabhängigen gekauft werden). Ein sehr bedeutender Teil der hergestellten (oder aufgrund vorhandener Kapazitäten – also investierter Mittel – herstellbaren) Waren sind Produktionsmittel (für die Abteilung I oder für die Abteilung II). Eine Steigerung der Massenkaufkraft behebt noch lange nicht die Absatzschwierigkeiten, die genauso periodisch die Abteilung I treffen. Mit anderen Worten: Auch Nicht-Marxisten dürfte eigentlich nicht verborgen geblieben sein, dass der kapitalistische Wirtschaftszyklus in einem engen Verhältnis zur diskontinuierlichen Erneuerung des fixen Kapitals steht.

Und schließlich dürfen wir einen zentralen Aspekt kapitalistischer Funktionsweise nicht vergessen: Wird die Massenkaufkraft sehr stark angehoben, beeinträchtigt dies ganz selbstverständlich die Profitrate. Sinkende Profitraten wiederum führen zu sinkenden Investitionen und zum Ausbruch der Krise an einer anderen Stelle.
So hat bekanntlich die keynesianische Politik nicht etwa Krisen verhindert, sondern meist nur den konkreten „Anstoß“modifiziert (in den seltensten Fällen ihre konkrete Verlaufsform erkennbar oder nachweisbar beeinflusst).

Fassen wir an dieser Stelle mit den Worten Ernest Mandels die grundlegenden Ursachen der periodisch sich vollziehenden Überproduktionskrisen zusammen:

Diese Ursachen sind „gleichzeitig das unvermeidliche periodische Sinken der Profitrate, die kapitalistische Anarchie der Produktion, und die Unmöglichkeit, im Kapitalismus die Massenkonsumtion in Übereinstimmung mit dem Wachstum der Produktivkräfte zu entwickeln.“
Ja, den Sozialismus!
Aus all dem Vorgenannten ergibt sich, dass zur Lösung eines der größten Menschheitsprobleme, nämlich der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die ungleichen Einkommensverteilung, das aus dem Kapitalismus resultierende tagtägliche Elend wie auch die periodisch sich entwickelnden Wirtschaftskrisen (von all den anderen Übeln ganz zu schweigen) nur über die Durchsetzung eines radikal anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems möglich ist. Den Sozialismus wirklich zu wollen (schon hier unterscheiden wir uns ganz offensichtlich vom Reformismus jeglicher Spielart) bedeutet nach unserer Auffassung auch, dass sowohl die „geistige Kühnheit“ aufgebracht werden muss, tatsächlich über den Kapitalismus hinaus zu denken (und nicht im Diffusen zu verharren), als auch der Mut, sich  wirklich, auch im Kampf (sprich im Klassenkampf) dafür einzusetzen.

An dieser Stelle wollen wir nicht unsere Vorstellungen eines Übergangsprogramms darlegen, dazu verweisen wir auf die klassischen Schriften unsrer Bewegung . Es sollen lediglich beispielhaft einige Maßnahmen aufgeführt werden, für die es sich zu kämpfen lohnt und die in ihrer Konsequenz auf die Machtfrage hinauslaufen.

Zu einem wirtschaftssystemischen Sofortprogramm (eine Wortschöpfung, um deutlich zu machen, dass dabei auf ein anderes Wirtschaftssystem gezielt wird) können gehören:

1. Die Arbeit wird auf alle verteilt. Dies geschieht an Hand eines von der gesamten Gesellschaft demokratisch erstellten Gesamtrahmenplans.

2. Jeder und Jede erhält tatsächlich das Durchschnittseinkommen (also: Für totale Gleichmacherei!).  Es ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass es in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung beim Einkommen (bei den für die Einzelnen zur Verfügung stehenden Mitteln, denn Geld wird seine Bedeutung verlieren, bzw. nach einer gewissen Zeit weitestgehend oder ganz verschwinden) Abschläge für diejenigen geben wird, die zwar arbeiten könnten, es aber nicht wollen. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit der heute unter Hartz IV bestehenden Zwangsarbeit, denn in jedem Fall ist für alle in der Gesellschaft die Existenz auf einem menschenwürdigen Niveau zu sichern, so dass eine tatsächliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist.

3.
Die Menschen sind auf allen Ebenen an den für sie relevanten Entscheidungen real zu beteiligen. Auf den Ebenen, die über den Stadtteil oder die Stadt hinausgehen ist dies mit Hilfe eines Delegiertensystems sicherzustellen. Alle Delegierten müssen unmittelbar abwählbar sein, wenn sie Entscheidungen getroffen haben, mit denen die „Beauftragenden“ nicht einverstanden sind. (s. die Resolution zur „Sozialistischen Demokratie“ in diesem Heft)

4. Die Bildungseinrichtungen werden ausgebaut und es steht für alle ab dem Kleinkindesalter eine ganztägige Betreuung und Förderung zur Verfügung. Da es keine Einkommensunterschiede gibt, ist der Zugang zu Bildungseinrichtungen nicht von der sozialen Stellung abhängig. Alle Bildungswege und -einrichtungen sind für die Nutzer kostenfrei. Es gibt keine Getto-Schulen mehr. Gemeinsames Lernen ist angesagt, genauso wie die Wohnviertel bewusst durchmischt werden und es auch keine Wohngettos für ausländische Mitmenschen mehr gibt.

5. Die ärztliche und medizinische Betreuung und Versorgung ist für die Menschen kostenfrei.

Faktisch ist dieses „Kurzprogramm“ nicht nur ein Programm für eine andere Wirtschaftsordnung, sondern erfordert auch, bzw. bewirkt auch eine „Revolution des Zusammenlebens der Menschen“. Ist es deswegen nur als ein Ergebnis nach der „Machtübernahme“ anzusehen? Ja und Nein.

Ohne eine große klassenpolitische Konfrontation ist ein solches Programm nicht konkretisierbar und seine Umsetzung ist erst vor
stellbar, wenn sich die ArbeiterInnenklasse wirklich durchgesetzt hat; daran besteht sicherlich nicht der geringste Zweifel, denn die Herrschenden (das Kapital und alle sonstigen Besitzenden) haben sehr viel zu verlieren. Aber die Zielrichtung unsrer tagtäglichen Arbeit muss so ausgerichtet sein, dass sie diesen langfristigen, historischen Zielen nicht zuwiderläuft, ihnen nicht ideologisch das Wasser abgräbt bzw. der von uns angestrebten Logik widerspricht. Deswegen ist es auch in der tagtäglichen Auseinadersetzung im Betrieb oder bei Tarifrunden äußerst schädlich, wenn wir dort mit den Argumenten der „Marktwirtschaft“ operieren. Wir machen uns dann nicht nur unglaubwürdig, wenn es um die Propagierung langfristiger Ziele geht. Gerade die Gewerkschaftsbürokratie macht es uns ständig vor, wie schnell mensch sich schon bei den geringsten Anlässen in Widersprüche verwickeln kann.

Wer zur Entwicklung eines politischen Klassenbewusstseins beitragen will, muss vor allem eine in sich schlüssige Gesamtperspektive anbieten können und darf sich nicht in Widersprüchen verfangen. Tragen wir mit der Ausarbeitung unsrer Perspektiven und unsrer Analysen und programmatischen Vorschläge zur politischen Klärung und zur Mobilisierung bei, selbstverständlich auch indem wir uns an den Kämpfen beteiligen. Eine wichtigere Aufgabe gibt es nicht.

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