Vorwärts  – und alles vergessen
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Der 7. Ordentliche Gewerkschaftskongress der IGBCE hat in Hannover getagt

Vorwärts – und alles vergessen

Von J.H. Wassermann | 04.11.2021

Vom 24. bis 28. Oktober haben 400 Delegierte und knapp 300 weitere ehrenamtliche und hauptamtliche Funktionäre der zweitgrößten Industriegewerkschaft in Deutschland ihren alle vier Jahre stattfindenden Kongress begangen.

Die ehrenamtlichen und von den Bezirkskonferenzen (vergleichbar mit den Ortsverwaltungen in der IG Metall) gewählten Delegierten vertraten die knapp 600.000 Mitglieder.

Erstmal wurde gewählt und dann diskutiert.

Neben den fünf ehrenamtlichen Mitgliedern des geschäftsführenden Hauptvorstandes (gHV) wurden weiterhin aus den acht Landesbezirken je drei ehrenamtliche Hauptvorstandsmitglieder gewählt, sowie wie je eine Vertreterin der Personengruppen Frauen und Jugend.

Die drei männlichen gHV Mitglieder liegen bei satten „SED“-Ergebnissen von 95 % plus, ihre beiden Kolleginnen bei knapp unter 90 %. Bei den Ehrenamtlichen kommt „man“ im Durchschnitt auch auf über 80 % Zustimmung.

Natürlich sollen und wollen Alt und Jung, Männer und Frauen, die verschiedenen Branchen innerhalb der IGBCE (Chemie, Braunkohle, Pharma, Fein- und Grobkeramik, Hohl- und Flachglas, Leder, Kautschuk, Kunststoff und andere) alle irgendwie vertreten sein.

Eine Frauenquote gibt es in der IGBCE nicht, aber es gilt, dass eigentlich überall ein Drittel weiblich besetzt sein soll, und so ist es dann auch: bei den Delegierten und Gewählten in den Gremien.

Olaf und Annalena

Für die Hauptamtlichen und alle, die den Apparat für besonders bedeutsam einer Gewerkschaft halten, sind natürlich die Wahlen und das Presseecho das Wichtigste bei einer solchen Veranstaltung. Diese Kolleginnen halten vermutlich auch den Besuch der Bundespolitiker für den zweitwichtigsten Punkt.

Life und in Farbe präsentierten sich Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Armin Laschet und Hubertus Heil, „nur“ per Video war Christian Lindner zugeschaltet.

Wenn man Länge und Herzlichkeit des Beifalls bewerten sollte, war die Reihenfolge wohl Hubertus Heil, Annalena Baerbock, gleichauf Scholz und Laschet und – nicht überraschend – dann Lindner.

Während in früheren Jahren alle Sozialdemokraten immer mit stehenden Ovationen gefeiert wurden, war die Zustimmung dieses Mal breiter gefächert. Die Führung der IGBCE hat in den letzten Jahren schon versucht, insbesondere zu den Grünen, Beziehungen aufzubauen. Da die Führung eine starke Orientierung hat, die Regierungspolitik beeinflussen zu wollen, scheint das angesichts des Niedergangs der Sozialdemokratie nur folgerichtig. Ob auch unter den hunderten von ehrenamtlichen Funktionsträgern die Bindung an die SPD schwächer geworden ist, weiß man nicht abschließend. Wäre dem so, müsste man wohl das Mehr oder Weniger an Beifall eher dem rhetorischen Talent der Einzelnen und dem Grad der politischen Anbiederung der Politikerinnen an die Gewerkschaft zurechnen.

Während die IGBCE-Spitze die Präsenz der Bundespolitikerinnen als „Aufwartung“ betitelt, dürfte bei den Eingeladenen wohl eher das Kalkül einmal mehr in der Presse als beklatschter Gast  bei einer vermeintlich einflussreichen Massenorganisation zu erscheinen, den Ausschlag geben. Dazu kommt natürlich, dass die IGBCE als Gewerkschaft schon gezeigt hat, wie man geräuschlos ganze Branchen wie die Stein- oder Braunkohle “abwickelt“ und dabei zehntausende von Arbeitsplätzen mit kräftiger staatlicher Bezuschussung sozialverträglich ausradiert werden können.

Vorbild oder besondere Bedingungen?

Ob sich diese „Vorbildfunktion“ in anderen Branchen, allen voran der Automobil- und ihrer Zulieferindustrie so kopieren lässt, darf bezweifelt werden. Dort geht es um deutlich mehr Arbeitsplätze in fast ausschließlich privat betriebenen Konzernen und Firmen. Um sogenannte „Anpassungsgelder“ in ähnlicher Höhe und langfristige Verpflichtungen für Konzerne, staatliche Stellen und die Bundesagentur für Arbeit zu erreichen, bedürfte es gewaltiger Mobilisierungen, damit der Staat und die privaten Unternehmen hierzu gezwungen würden. Und die Frage, ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, industrielle und tarifgebundene Arbeitsplätze in diesem Umfang „abzubauen“, ist damit noch nicht einmal gestellt.

Politikerinnen aller Farben sehen in der IGBCE einen „verlässlichen“ Partner in der Transformation. Die IGBCE selbst, also ihre Führung, sieht sich auch als Partner dieser unvermeidlichen, notwendigen und wünschenswerten Transformation. Die „Umformung“ und der Weg dahin („trans-„) sollen aber „gerecht“ sein. Wünschenswert ist es nicht etwa wegen des zu begrenzenden Klimawandels, das ist das Notwendige. Und auch nicht wegen der internationalen Konkurrenz um neue, weniger umweltschädliche Technologien – das ist das Unvermeidliche. Die neuen industriellen Wertschöpfungsketten sollen aber „hier“ entstehen, das ist das Wünschenswerte. Das „Hier“ ist Deutschland, und wenn noch was übrig ist, Europa.

So wie Betriebsräte „ihren“ Belegschaften mehr verbunden sind als den Interessen der gesamten Arbeiterklasse oder einem übergeordneten gewerkschaftlichen Interesse, so sind auch die Hauptamtlichen einer im Rahmen des Nationalstaates aufgestellten Gewerkschaft „ihren“ Mitgliedern verpflichtet – und die zahlen ihren Beitrag nun mal hier und nicht woanders.

Dazu muss man auch nicht die subjektive internationalistische Haltung der Einzelnen in Frage stellen.

Im internationalen Programmteil waren Vertreter der USW (United Steel Workers, Nordamerika) der brasilianischen Gewerkschaftsbewegung (C.U.T.) und des Weltverbandes von IndustriAll zugeschaltet. Highlight war aber der Live-Auftritt der zwangsexilierten Kollegin KHAING ZAR AUNG (Industrial Workers‘ Federation of Myanmar). Der Bericht über Folter, Ermordungen, Verhaftungen, Misshandlungen von Oppositionellen und eben auch Gewerkschafter*innen durch die Putschisten der aktuellen Militärdiktatur beeindruckte viele der Anwesenden sichtlich. Der Aufruf zum internationalen Boykott von Myamar wurde jedenfalls mit Nachdruck und viel Beifall unterstützt.

Wie geht es weiter – geht es weiter?

Wer noch nicht auf dieser Art von Veranstaltung war, mag sich fragen: Wird denn nicht über die Inhalte, die Ausrichtung, was in Zukunft gemacht werden soll, diskutiert?

Doch, es wird, lautet die Antwort. Allerdings ist die Form besonders. Man könnte zum Rechenschaftsbericht, also die Bewertung der vergangenen Praxis, sprechen. Zur anderthalbstündigen Grundsatzrede des Vorsitzenden könnte sich auch jemand zu Wort melden. Das ist aber unüblich und passiert nicht.

Stattdessen wird auf die Antragsberatung gewartet. Aus den Basisgliederungen der Vertrauensleute und Ortsgruppen können Anträge über die Bezirks- und Landesbezirksdelegiertenkonferenzen gestellt werden. Dieses Jahr waren es 460 und damit mehr als je zuvor. Die werden dann in einem zweitägigen Sitzungsmarathon abgearbeitet. In den Sachgebieten: Wirtschaft, Gesellschaft, Industriepolitik, Organisationsleben und Tarifpolitik steht jeweils ein – zwar nicht so genannter , aber die Funktion erfüllender – „Leitantrag“ des Hauptvorstandes am Anfang. Geschrieben wird dieser, nachdem die Anträge aus den unteren Gliederungen vorliegen. So kann der Leitantrag schon mal Vieles irgendwie berücksichtigen. Bei der Beratung wird dann von der mächtigen Antragskommission, die im Vorfeld alle Anträge durchgearbeitet und mit Empfehlungen versehen hat, erklärt, dass mit der Annahme des Leitantrages folgende Anträge mit den Nummern .., .., .. und dann folgen je nachdem 2, 5, 10 oder auch 22 Anträge, „als Material“ auch angenommen seien.

Dann werden viele Anträge, die reine Willenserklärungen sind und zu keiner besonderen praktischen Aktivität verpflichten, so „durchgewunken“, also durchaus formal „angenommen“, und damit beschlossen. Allerdings sind das meist Appelle an den Gesetzgeber. So sollen z. B. Schwerpunktstaatsanwaltschaften eingerichtet werden, damit Betriebsräte nicht so leicht gesetzeswidrig bekämpft werden können, oder die Ausbildereignungsverordnung soll geändert werden usw. usf..

Bei vielen weiteren Anträgen ist das Anliegen so gelagert, dass eine Annahme zu „verpflichtend“ wäre, aber niemand die grundsätzliche Berechtigung bestreiten möchte. Dann wird es an den „Hauptvorstand weitergeleitet“. Dieses Schicksal ereilte immerhin 79 von den 460 Anträgen.

Wenn „Annahme als Material zu Antrag 00xy“ eine Beerdigung erster Klasse ist, dann ist die „Weiterleitung“ der Pappsarg ohne Blumen.

Und dann gibt es noch ein ganz paar wenige Anträge, die zur „Ablehnung“ empfohlen werden. Das ist dann der Fall, wenn es widersprüchlich zu schon Beschlossenem steht oder offensichtlich unrealistisch ist – oder politisch nicht gewollt.

Diskussion ist erwünscht aber sinnlos

Dieses Verfahren führt dazu, dass es praktisch keine inhaltliche Diskussion gibt. Es gab zwar auf diesem Kongress mehr Wortmeldungen in der Antragsdebatte als je zuvor. Aber die Redner*innen gehen „in die Bütt‘“, um nochmal „ihren“ Antrag zu erklären und bedanken sich bei der Antragskommission, dass ihre Anträge zum „Material“ degradiert oder als „Weiterleitung“ beerdigt wurden. Kritik an den Leitanträgen gab es keine.

Es gab zwei Ausnahmen von dieser allgemeinen Beschreibung einer (Nicht)Diskussionskultur.

Beim Thema Rente gibt es immer noch einige Unverzagte, die finden, dass das gesetzliche Rentenalter mit 67 Jahren zu hoch sei und 45 Beitragsjahre zu viele seien, um ohne Abschläge in Rente zu gehen. Die Beschlusslage war und ist aber, dass die Reformen der „Agenda 2010“ nicht rückgängig gemacht werden können. Die neoliberale Ideologie der SPD, dass zu viele Rentner nicht von immer weniger Beitragszahler*innen finanziert werden können – wir erinnern uns – wird weiterhin nicht in Frage gestellt.

Von „der Jugend“ gab es offensichtlich abgesprochen Versuche, „ihre“ Anträge jeweils zu popularisieren. Die bisher unverbindliche tarifliche Vereinbarung zur Gesamtanzahl von Ausbildungsplätzen in der Chemieindustrie soll in eine verbindliche, betriebsbezogene Quote umgeformt werden. Und sie wollten, dass aus der Empfehlung für eine Übernahme eine verbindliche, jedenfalls anteilige Quote von Übernahmen in Zukunft erreicht werden soll.

Tatsächlich wurden am Ende zwei konkrete Anträge zur Übernahme nach der Ausbildung (allerdings ein konkreter aus einem Betrieb und nicht von der Bundesjugendkonferenz) und zum Rentenalter bei entsprechender Empfehlung der Antragskommission „abgelehnt“.

Tarifpolitik

Unvoreingenommene könnten annehmen, dass Tarifpolitik der Kern von Gewerkschaft sei. Und dass es deshalb darüber bestimmt Diskussion geben würde. Dem war nicht so. Das im gHV zuständige Mitglied Sikorski erzielte sogar das beste Wahlergebnis von allen. An der Ausrichtung und den erreichten Ergebnissen gibt es offensichtlich nix zu meckern. Während es vor 5, 6 Jahren nach einem Tarifabschluss in der Chemischen Industrie noch mehrere hundert Austritte ausgerechnet beim Kernbetrieb BASF in Ludwigshafen gegeben hatte, hört man seit Jahren nichts von kritischen Diskussionen oder gar einer Kritik an den meist „geräuschlos“, d.h. ohne Mobilisierung welcher Art auch immer, erreichten Regelungen.

Aus der beschlossenen Antragslage lässt sich auch nicht ableiten, welche Art von Tarifpolitik die IGBCE in der Zukunft verfolgen wird. Der Leitantrag war so allgemein formuliert, dass damit alles gerechtfertigt werden kann. Nicht weniger als 23 weitere tarifpolitische Anträge wurden hier als „Material angenommen“. Aber mit Ausnahme eines Antrags, welcher eine Lanze für Arbeitszeitverkürzung in jeder Form brach, und dies als allgemeine Orientierung vorschlug, gab es auch in diesen Anträgen keine wirklichen Alternativen oder Fokussierungen.

Aus dem Grundsatz heraus, dass die Tarifkommissionen in ihren Bereichen (Branche, Region, Betrieb) bei der Aufstellung von Tarifforderungen angeblich „autonom“ seien, werden konkrete Tarifforderungen sowieso immer an den „Hauptvorstand weitergeleitet“. (Zur Bedeutung von „angenommen“ und „weitergeleitet“ siehe oben.)

Aus den „Errungenschaften“ der letzten Jahre könnte man vielleicht ableiten, dass die IGBCE weiterhin versuchen wird, sogenannt „qualitative“ Elemente in die Tarifpolitik einzubringen, konkret heißt dass, dass z. B. eine schon bestehende tarifliche – also vom Arbeitgeber bezahlte – Pflegezusatzversicherung weiter ausgebaut wird, oder dass die schon bestehende Tarifleistung zur privaten Altersvorsorge weiter ausgebaut wird oder eine auch so genannte „betriebliche Altersvorsorge“ für Geringverdiener tarifiert werden soll.

Inflation – Staatsaufgabe

Zur aktuellen Preissteigerung an Tankstellen und bei anderen Energiekosten stellte der Vorsitzende klar, dass eine „Indizierung“, also eine automatische Anpassung von Löhnen an eine Preissteigerungsrate von ihm nicht positiv gesehen würde. („Was passiert dann bei einer Deflation, also einer negativen Preissteigerung?“).

Aber für die aktuelle Situation gäbe es doch eine einfache Lösung: Der Staat hätte doch wegen des großen Steueranteils an den Preisen für Sprit und Energie einfach die Möglichkeit, einen Teil  für eine Zeit nicht einzukassieren. Und für die einkommensschwachen Haushalte könnte eine zeitlich begrenzte „Winterhilfe“ unbürokratisch eingeführt werden. Der unbesonnen benutzte Begriff der „Winterhilfe“ und dessen sprachliche Nähe zum „Winterhilfswerk“ der deutschen Nationalsozialisten kann Michael Vassiliadis nicht zum Nachteil ausgelegt werden, das war ihm schlicht nicht bewusst. Die Forderung nach einer automatischen Anpassung der Löhne an die Preissteigerung, sei es durch den Staat oder durch die Tarifpolitik, wird von der IGBCE jedenfalls nicht aufgestellt werden.

Kultur

Eine Großveranstaltung über fünf Tage mit mehreren Hundert Teilnehmerinnen wird nicht nur durch Gesabbel und Freibier zusammengehalten. Dazu braucht es noch Kultur, am besten Musik und zum Mitmachen/-tanzen und Mitsingen.

Der Wandel der IGBCE vom rechten SPD-Parteibunker zu einer „bunten Beliebigkeit – Hauptsache Sozialpartnerschaft“, lässt sich auch am kulturellen Rahmenprogramm erkennen. Herrmann Rappe leistete sich als IG Chemie -Vorsitzender noch die Geschmacklosigkeit, abends bei der kollektiven Alkoholvernichtung einer Blaskappelle „Oh, Du schöner Westerwald“ zu dirigieren, immerhin ein Lied, zu dem die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg marschierte.

Heutzutage spielen die Brings aus Köln Mundartrock bei der Eröffnungsfeier. Die IGBCE hatte einen eigenen Rocksong in Auftrag gegeben, der auf großen Beifall stieß. Die Band spielte auch ihre verrockten Versionen des Einheitsfrontliedes und des Solidaritätsliedes. Ob nun der Text die Kolleginnen begeisterte oder einfach der schmissige Rhythmus des Discofox, man weiß es nicht. Und welche Umdrehungszahl Bertold Brecht und Ernst Busch in ihren Gräbern erreichten, wird auch nicht festzustellen sein.

Zum Abschluss wird dann gemeinsam erst das „Steigerlied“ und dann „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ gesungen.

Brüder, in eins nun die Hände,
Brüder, das Sterben verlacht!
Ewig, der Sklav’rei ein Ende,
heilig die letzte Schlacht

Nach diesem Gewerkschaftskongress darf weiterhin bezweifelt werden, dass die IGBCE „der letzten Schlacht“ oder überhaupt einer Auseinandersetzung, die diesen Namen verdient, entgegenfiebert.

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