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Innenpolitik

Von der Agonie zum Exitus – Hartz IV vor dem Aus

Von Walter W. | 01.07.2006

Die „Jahrhundertreform“ befindet sich im Zustand der Agonie und am Horizont kündigt sich der Exitus an. Besseres ist nicht zu erwarten. Statt Zuckerbrot und Peitsche droht den Erwerbslosen nun nur noch die Peitsche, d.h. das Optimierungsgesetz. Mit der verallgemeinerten globalen Wirtschaftskrise 1974/75,die sich mit der Rezession 1966/67 in der BRD angekündigt hatte, kehrte das Problem der Massenarbeitslosigkeit in die kapitalistischen Metropolen zurück.

Die „Jahrhundertreform“ befindet sich im Zustand der Agonie und am Horizont kündigt sich der Exitus an. Besseres ist nicht zu erwarten. Statt Zuckerbrot und Peitsche droht den Erwerbslosen nun nur noch die Peitsche, d.h. das Optimierungsgesetz.

Mit der verallgemeinerten globalen Wirtschaftskrise 1974/75,die sich mit der Rezession 1966/67 in der BRD angekündigt hatte, kehrte das Problem der Massenarbeitslosigkeit in die kapitalistischen Metropolen zurück. Die Gründerepoche der Nachkriegszeit, nach Ernest Mandel eine lange Welle mit expansivem Grundton, wurde durch eine lange Welle mit stagnierendem-depressivem Grundton ersetzt, d.h. die Sockelarbeitslosigkeit verblieb und steigerte sich kontinuierlich! Die 3. technologisch-wissenschaftliche Revolution setzte und setzt ein gewaltiges Arbeitspotential frei. Weltweit registriert die Weltarbeitsorganisation über eine Milliarde Erwerbslose und es werden täglich mehr.

Das Kapital reagierte mit einer beispiellosen neoliberalen Offensive, um den Arbeitsmarkt zu deregulieren und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zurückzufahren bzw. zu zerschlagen. Das geschah in Form offener Gewalt wie in Chile unter Pinochet oder langfristig in Scheibchen (sog. Salamitaktik), d.h. im permanenten Sozialabbau wie bei Helmut Kohl. In den neunziger Jahren genügte dies den Vorkämpfern des Neoliberalismus in der BRD wie Henkel, Hundt oder Rogowski nicht mehr. Immerhin war man durch die Mitbeteiligung am NATO-Angriffskrieg als vollwertiges Mitglied in den Kreis der imperialistischen Demokratien zurückgekehrt.
Anspruch und Wirklichkeit
Der Idealfall trat ein. Ein Sozialdemokrat und bekennender Unternehmerfreund wurde Bundeskanzler. Er verfügte mit dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsapparat über die Möglichkeit, die geplanten Operationen für das Kapital schmerzfrei auszuführen. Dieser sozialpolitisch pax germania ist das Herzstück der ganzen Operation.
Schröder versprach bis 2002 die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen und die Quote bis 2005 unter die Zwei-Millionen-Marke zu senken. Am Ende seiner Amtszeit sprachen 5 Millionen registrierte und 3 Millionen nicht mehr wahrgenommene Erwerbslose eine andere Sprache.

Das zentrale Instrument dieser Maßnahmen waren die Hartz-Gesetze, benannt nach dem VW-Vorstandsmitglied Dr. Peter Hartz, einem knallharten Sanierer aus dem Kreis der sog. Wolfsburger Schröder-Gang in der Chefetage des o.g. Autokonzerns. Trauriger Höhepunkt war Hartz IV, ein Gesetz das Millionen von Menschen in Armut stürzte. Hartz IV = 345€ plus Warmmiete entpuppte sich als der größte Raubzug in der Geschichte der BRD. Der bürgerliche Staat kassierte Milliardensummen an Versicherungsbeiträgen ein und machte so z.B. eine 51jährige entlassene Karstadtverkäuferin nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit de facto zu einer Sozialhilfeempfängerin. Und das nach 37 Versicherungsjahren! Der finanziell aufgestockte Betrag des Arbeitslosengeldes liegt zwar nominell über der bisherigen Sozialhilfe, deckt aber die bisherigen Sachleistungen nicht ab. Der Langzeitarbeitslose lebt damit unter dem bisherigen Sozialhilfeniveau.
Hartz IV in der Praxis
Das Programm zur angeblichen Bekämpfung der Erwerbslosigkeit kann stichpunktartig skizziert werden: Leiharbeit und Scheinselbständigkeit werden ausgeweitet; die Zumutbarkeitsregelungen werden verschärft und die Arbeitslosenunterstützung wird gekürzt. Eine Arbeitsverwaltung, die sukzessive zerstört wird, proklamiert „Fördern und Fordern“, wobei ersteres Illusion und letzteres bittere Realität ist. Flankiert wird das Ganze durch Mini- und Midi-Job, Ich-AGs unter Obhut von Job-Centern und den ARGEs der Kommunen. Als Nebeneffekt entfallen viele versicherungspflichtige Arbeitsplätze. Qualifizierte Arbeit wird systematisch entwertet. Bis auf ein bescheidenes Schutzvermögen verschaffte man sich auch noch Zugang zu den durch jahrelange Maloche angesparten „Vermögenswerten“ der arbeitenden Klasse. Das Durchleuchten der Betroffenen bis in den letzten Winkel des Privatleben per Hausbesuch und medizinischem Dienst runden das Bild ab. Getoppt wird das Szenario nach dem Motto „Leistung muß sich wieder lohnen“ durch den 1-€-Job im Rahmen des Bundeszwangsarbeitsdienstes. Mittlerweile bringt ein CSU-Parlamentarier die unentgeltliche Arbeit für das Gemeinwesen ins Gespräch. Kurzum der bürgerlich-kapitalistische Staat schafft sich seine eigene Leibeigenen!
Neoliberale Ideologie im Zeitalter von Hartz IV
Nun kann mensch diese soziale Kahlschlagstrategie nicht fahren ohne den „moralischen Zement“(Trotzki) dafür zu mischen. Dieser ist gewissermaßen ein ideologischer Mehrkomponentenkleber. Von BILD bis Spiegel, von Sabine Christiansen bis Kurt Biedenkopf ertönt ein Aufschrei: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt! Dem stimmt auch Dr. Hartz zu, der monatlich das 43fache Einkommen eines Langzeitarbeitslosen hat. Peanuts wie millionenschwere Übergangsgelder, Dienstwagen, Aktienpakete und die vermeintlichen Freuden des Rotlichtmilieus lassen wir unerwähnt. Das „Übergangsgeld“ von 400 000€ für Ex-CDU Generalsekretär Laurenz-Meyer würde einen alleinstehenden Erwerbslosen ein halbes Jahrhundert ernähren!
Da die Parolen der Herrschenden nicht mehr sehr glaubwürdig sind, spielen sie die nationalistische Karte. Der Standort Deutschland wird beschworen und seine Produkte – „wir bauen die besten Autos“ – erhalten eine patriotische Aura im Zeitalter multinationaler Konzerne.
Staatspleite?

Angeblich ist der Staat der drittgrößten Industrienation und des Exportweltmeisters Pleite. Würde im Bereich der Steuerhinterziehung, des Subventionsbetrugs, der Schwarzarbeit genauso ermittelt wie gegen die Arbeitslosen stände ein dreistelliger Milliardenbetrag für Bildung, Gesundheit, Sozialpolitik, Ökologie, öffentliche Beschäftigungsprogramme u.ä. zur Verfügung und in den Kindergärten könnten die Wasserhähne vergoldet werden. Bei großen Teilen der Bevölkerung kommen das Argument der Pleite nicht mehr an. Da überholt die Realität die Ideologie.

Den zynischen Höhepunkt dieser Kampagnen ist die sogenannte Mißbrauchsdebatte – nicht im Bereich von big business und der „politischen Klasse“ – nein, bei den Erwerbslosen, die bekanntlich Anzüge bei Versace erwerben und sich ihre Lebensmittel von Feinkost Käfer anliefern lassen. Die Debatte ist eine Farce, denn aktuelle Untersuchungen sehen maximal einen Leistungsmißbrauch von 5%. Ermittelt wurde ein zweistellige Millionensumme im Bundesbereich, d.h. ein geringfügiger Betrag im milliardenschweren Bereich der Transferle
istungen. Besser als durch Hartz IV wurde der Klassencharakter des Staates nie illustriert. Hartz IV ist zugleich das Synonym für Kinderarmut, Volksküchen und Pfandflaschensammler. Hartz IV ist auch im ideologischen Bereich auf den Klippen der Realität gestrandet. Was erwartet uns nun in der Zukunft?
Einige Schlussfolgerungen
Am Anspruch, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, ist Hartz IV gescheitert. Es ist allerdings gelungen, die Sozialausgaben zu Gunsten der Unternehmer zu senken. Die Parteienlandschaft und der Klassenstaat haben deutlich weiter rechts positioniert. Die ehemalige sozialdemokratische Partei hat definitiv den Rubikon in Richtung Kapital überschritten. Diese Entwicklung ist abgeschlossen und irreversibel!
Die drei Elemente des bürgerlichen Staates – nach Ernest Mandel integrative, technische und repressive Aufgaben – haben ihren Schwerpunkt im letzteren Bereich. Die von dieser strukturellen Krise des Spätkapitalismus Betroffenen haben auf der parteilichen Ebene keine Lobby, auch nicht bei der mit sich selbst beschäftigten Linkspartei.

Die Demonstration vom 3.Juni war, gemessen an dem Häuflein Aufrechter, die sie initiiert, gegen Widerstände durchgefochten und durchgeführt hat, ein erster Erfolg. Insbesondere in qualitativer Hinsicht, da sie eine Kundgebung der Basis war. Dies unterstreicht unsere politische Option für Selbstorganisation und Selbsttätigkeit. Diese Basis muss ausgedehnt werden, um zu verhindern, dass sich wieder die etablierten top-down Projektgrößen ins Rampenlicht drängen. Die Montagsdemonstrationen dürfen nicht den SektiererInnen überlassen werden. Die elementare außerparlamentarische Arbeit vor Ort ist das Gebot der Stunde. Nicht von ungefähr bespitzelt das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz Professor Peter Grottian und das Berliner Sozialforum. Die Basisarbeit vor Ort garantiert gleichzeitig den Mobilisierungserfolg zum G8-Gipfel im nächsten Jahr. Der RSB als Teil der IV. Internationale wird hierzu seinen solidarischen Beitrag leisten.

 

Optimierungsgesetz – das unbekannte Wesen
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt (s. Avanti Nr.133) hat die große Koalition die Verschärfung der Hartz IV-Maßnahmen beschlossen. Im Schatten der Fußball-WM, ähnlich wie bei der Gesundheits„reform“, werden die Rahmenbedingungen erheblich verschärft.
Die Kernpunkte: Sofortangebote an „Kunden ohne Leistungsbezug“ sollen die Antragstellung verhindern. Bei zwei Pflichtverletzungen erfolgen Kürzungen bis 60%, in mehreren Fällen wird das ALG II ganz gestrichen. Obdachlosigkeit und Betteln sind die Folge! Bei eheähnlichen Gemeinschaften wird die Beweislast umgekehrt. Reduktion der Unterkunftskosten auf die bisherigen Kosten, wenn ohne Wissen der ARGE umgezogen wird; 40 statt 78€ für die „Alterssicherung“; flächendeckende Außendienstkon­trollen, die Denunziantentum Tür und Tor öffnen. Merke: Wenn es morgens an der Tür klingelt, ist es nicht der Briefträger, sondern sind es die vom Verfolgungsmanager ausgesandten ARGE-MitarbeiterInnen, um deine Privatsphäre auszuschnüffeln. Der bürgerliche Staat genehmigt sich auch noch einen kräftigen Schluck aus der Pulle: das Schutzvermögen wird um 25% (!) abgesenkt. Diese Sparmaßnahmen sollen 1,2 Milliarden in die Kassen spülen. Dabei wurden allein aus NRW mindestens 600 Millionen Euro Fördermittel zurück überwiesen. Von wegen Arbeitsvermittlung.
Das roll-back-Gesetz richtet sich letztlich auch gegen die Rechtsprechung des BGH und der mitunter etwas progressiven Sozialgerichte. Es offenbart zudem die antidemokratische und vorbürgerliche Ausrichtung seiner neoliberalen VordenkerInnen und ExekutorInnen. Bundessozialrichter Ulrich Werner nennt es „verfassungsrechtlich problematisch“. Deshalb sollten alle Erwerbslosen sich Unterstützung bei Arbeitslosenzentren, Sozialforen, Gewerkschaften etc. holen und sich beim Besuch der Arbeitsagentur/ARGE vom einer/m kompetenten KollegIn begleiten lassen, damit die Herrschaften gleich wissen, wo der Hammer hängt!
Gruppenbesuche von Erwerbslosen bei der örtlichen Arbeitsagentur, exemplarische Aktionen vor Banken und Unternehmerverbänden, Straßentheater, Rock gegen Hartz IV, Formen des zivilen Ungehorsams – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, um vor Ort die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen! Damit dem klimatisch warmen Sommer ein heißer politischer Herbst folgt!
Walter W. 

 

Buch-TiPP!
Ernest Mandel, Die langen Wellen im Kapitalismus., Neuer ISP-Verlag, Köln.

 

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