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Länder

Viele Pole, ein System

Von Harry Tuttle | 01.01.2009

Die vom Westen dominierte Welt wandelt sich zu einer multipolaren Welt. Doch eine größere Zahl kapitalistischer Großmächte macht die Welt nicht besser.

Die vom Westen dominierte Welt wandelt sich zu einer multipolaren Welt. Doch eine größere Zahl kapitalistischer Großmächte macht die Welt nicht besser.

Nicht alle historischen Wendepunkte sind spektakuläre Ereignisse. Es galt in der westlichen Welt zunächst nur als Ärgernis, dass es im September 2003 nicht gelungen war, beim Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO) im mexikanischen Cancun eine weitergehende Liberalisierung des globalen Handels zu vereinbaren. Eine Gruppe von 24 Staaten, geführt von China, Indien und Brasilien, hatte gefordert, dass EU und USA als Gegenleistung für von ihnen gewünschte Erleichterungen beim Handel von Industrieprodukten und Dienstleistungen die Subventionierung der Landwirtschaft und der Agrarexporte einstellen müssten.

Die westlichen Regierungen blieben hart, und anders als bei früheren Gipfeltreffen gelang es ihren Repräsentanten nicht, ihre Gegner zu erpressen. „Kein Deal ist besser als ein schlechter”, kommentierte der Globalisierungskritiker Walden Bello, und die meisten Linken stimmten ihm zu. „Wer jetzt feiert, feiert auf dem Rücken der Schwächsten“, nörgelte hingegen die damalige deutsche Landwirtschaftsministerin Renate Künast (Grüne).

Tatsächlich versuchten die westlichen Regierungen, einschließlich der deutschen, anschließend in bilateralen Verhandlungen ihre Interessen doch noch durchzusetzen. In manchen Fällen schafften sie das auch. Doch noch immer stagnieren die WTO-Verhandlungen, weil keine Seite nachgeben will.
Ein Drohbrief an das Imperium
Knapp fünf Jahre später erhielt die Nachrichtenagentur Bloomberg eine E-Mail von Yu Yongding, dem Direktor des chinesischen Instituts für Weltwirtschaft und Politik und wichtigsten Ratgebers der Regierung in Finanzfragen. Eigentlich handelte es sich eher um einen Drohbrief: „Wenn die US-Regierung Fannie und Freddie zusammenbrechen lässt und die Investoren nicht adäquat entschädigt werden, wird das katastrophale Folgen haben.“

Wenige Tage später wurden die US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlicht. Nicht wegen des chinesischen Drucks, die Warnung war jedoch ernst zu nehmen. Die chinesische Zentralbank besitzt 1,8 Billionen Dollar an Devisenreserven, deren Verkauf die US-Währung entwerten würde. Doch die chinesische Regierung will das amerikanische Imperium nicht zerstören, sie will an ihm verdienen. Die USA sind der wichtigste Absatzmarkt für chinesische Produkte, der Zusammenbruch dieses Marktes würde auch China ruinieren.

Das internationale Kräfteverhältnis hat sich geändert, diese Erkenntnis ist nun auch im US-Establishment angekommen. Der Bericht „Global Trends 2025“ des National Intelligence Council, eines gemeinsamen Gremiums der 16 US-Geheimdienste, prophezeit unter anderem die Festigung eines „globalen multipolaren Systems“ und eine stärkere Verlagerung der ökonomischen Macht „von Westen nach Osten“, d. h. nach Asien und insbesondere nach China. Erwartet wird auch eine schärfere Konkurrenz um knapper werdende Ressourcen.

Der Bericht gibt die globalen Trends richtig wieder. In China und Indien sind die PolitikerInnen schon besorgt, wenn das Wirtschaftswachstum unter zehn Prozent sinkt. Mehr als 300 Millionen ChinesInnen besitzen ein Handy, haben also Anschluss an die Konsumgesellschaft gefunden. Staats- und Privatkonzerne investieren in aller Welt, sie sind ernsthafte Konkurrenten westlicher Unternehmen geworden und ihnen mancherorts, so in großen Teilen Afrikas, sogar voraus. Ähnliches gilt für Indien.
Gefährliche Ungleichheit
Die Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt diesen Trend. Denn das Debakel der Finanzbranche trifft vor allem den Westen. Asiatische Kapitalbesitzer haben sich in weitaus geringerem Maß an dem riskanten Geschäft mit Finanzderivaten beteiligt. Hart getroffen werden die Exportindustrien jedoch von der Rezession, die der Finanzkrise folgte. Wegen ausbleibender Aufträge mussten viele kapitalschwache Betriebe bereits schließen.

Diese Abhängigkeit ist nur eine der Risiken für die aufsteigenden Mächte. Denn dem knappen Drittel der Bevölkerung, das eine gewisse Kaufkraft erlangt hat, steht ein ebenso großer Anteil von Menschen gegenüber, die in absoluter Armut leben. Ihr Anteil ist in Indien größer als in China, doch in beiden Ländern gibt es extreme Ungleichheit nicht nur zwischen Armen und Reichen, sondern auch zwischen Stadt und Land sowie verschiedenen Regionen. Dies kann zu sozialen Kämpfen führen, aber auch zu separatistischen und regionalistischen Konflikten.
Dass die Regierungen größeren Wert auf staatliche Regulierung legen, bedeutet nicht, dass der „asiatische Kapitalismus“ sozialer ist. Viele von ihnen schränken die Organisationsfreiheit der Lohnabhängigen ein, in China sind unabhängige Gewerkschaften gänzlich verboten. Kommt es zu sozialen Konflikten, steht der Staat auch in bürgerlichen Demokratien wie Indien immer auf der Seite der Kapitalbesitzer. Verwunderlich ist das an sich nicht, doch gibt es in manchen linken Kreisen die Vorstellung, die Welt werde allein dadurch gerechter, dass der Westen an Macht verliert.
Reichtum führt nicht zur Demokratie
So erfreulich es ist, wenn die neokoloniale Arroganz westlicher PolitikerInnen erfolgreich zurückgewiesen wird, es könnte sogar das Gegenteil der Fall sein. Denn die aufsteigenden Mächte sind Diktaturen, Autokratien oder aber bürgerliche Demokratien, in denen es häufig ein tödliches Risiko ist, sich gegen die Interessen der Mächtigen zu wenden oder auch nur arm zu sein. Den Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge werden mehr als zehn Prozent der Morde in Brasilien von Polizisten begangen, mit deren Hilfe sich die Wohlhabenden städtischer Randgruppen entledigen. Auch viele Großgrundbesitzer beschäftigen Todesschwadrone, die gegen protestierende Bauern und Landlose eingesetzt werden. Die sozialdemokratische Regierung Präsident Ignacio „Lula“ da Silvas hat daran kaum etwas geändert.

Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wohlstand und dem Stand von Demokratie und Menschenrechten. Einige der reichsten Staaten, die Golfmonarchien, gehören zu den undemokratischsten Ländern der Welt. In vielen der extrem armen afrikanischen Staaten hingegen funktioniert nicht nur die parlamentarische Demokratie, auch die Polizeibrutalität wurde vermindert.

Kennzeichnend für die aufsteigenden Mächte, auch für das vorgeblich kommunistische China, ist ein informelles Bündnis von Staatsbürokratie, Privatbourgeosie und aufstiegsorientierten Mittelschichten. Zwischen diesen Gruppen gibt es Interessenkonflikte, gemeinsam ist ihnen jedoch das Interesse an einer rücksichtslos vorangetriebenen kapitalistischen Modernisierung und der Stärkung ihres Staates. In diesem Mili
eu gedeihen rechte und rechtsextreme Ideologien wie der Hindu-Nationalismus in Indien.
Aufsteiger und Oligarchen
Newcomer und Aufsteiger sind immer härter und rücksichtsloser, sie müssen es sein, weil sie, ob im nationalen Rahmen oder in der internationalen Politik, eine etablierte Oligarchie vorfinden, die niemanden in ihre Reihen vorlassen will. Sie grenzen sich auch nach unten ab. So wurden zu den letzten Gipfeltreffen zur Lösung der Finanzkrise zwar die wichtigsten aufsteigenden Mächte geladen, doch auch eine solche erweiterte Oligarchie repräsentiert nur jeden zehnten Staat der Welt.

Ein brasilianischer Großgrundbesitzer hat nicht die gleichen Interessen wie ein senegalesischer Kleinbauer. Brasilien gehört zu den eifrigsten Propagandisten von Biotreibstoff, und Lula interessiert es wenig, dass die Produktion von Biosprit die Nahrungsmittelpreise hochtreibt. In manchen Fällen ist die wachsende Konkurrenz vorteilhaft. Weil indische und brasilianische Pharmaproduzenten es mit dem Patentrecht nicht so genau nahmen und billige Medikamente gegen Aids in Umlauf brachten, ist die Zahl derer, die behandelt werden können, gestiegen. Verdienen wollen jedoch auch diese Konzerne.

Am Größten ist der Rückstand der aufsteigenden Mächte auf militärischem Gebiet. Es wirkt bizarr, wenn Repräsentanten der US-Regierung öffentlich ihre Sorge über die hohen chinesischen Militärausgaben äußern, obwohl diese nicht einmal ein Zehntel der US-Rüstungsbudgets ausmachen. Doch hat sich im Irak und in Afghanistan gezeigt, dass die US-Militärmaschine recht ineffektiv ist. In jahrzehntelanger Lobbyarbeit haben US-Unternehmen sichergestellt, dass sie auch teures Gerät von fragwürdigem militärischem Nutzen loswerden. Das chinesische Militär hingegen verdient mit eigenen Unternehmen sogar selber Geld.

Überdies belegt der leichte Sieg über die konventionelle irakische Armee nicht, dass es immer so laufen wird. Ein paar Torpedos im Wert von einigen Hunderttausend Dollar können einen Flugzeugträger versenken, der Milliarden wert ist. Die US-Strategen waren entsetzt, als während eines Manövers im Jahr 2006 überraschend ein chinesisches U-Boot neben einem Flugzeugträgerverband auftauchte.
Wachsender Nationalismus
Die wachsende Konkurrenz um knapper werdende Rohstoffe wird die Lage verschärfen. Auch die Weltwirtschaftskrise dürfte einen solchen Effekt haben. Derzeit betreiben alle Regierungen eine finanznationalistische Politik, sie retten ihre Banken, ohne Rücksicht auf die Folgen für andere Länder. Der „worst case“ der Krise, ein unkontrollierter Zusammenbruch der „Globalisierung“, der weltweiten Handelsströme und der internationalen Kapitalverflechtung, würde die Kriegsgefahr immens erhöhen.

Eine militärische Konfrontation zwischen den Großmächten, die mit Ausnahme Brasiliens über Atombomben verfügen, erscheint derzeit noch unwahrscheinlich. Doch selbst eine auf den ersten Blick zweitrangige Entscheidung kann gefährliche Folgen haben. Sollte Georgien in die NATO aufgenommen werden, würde im Fall einer weiteren militärischen Konfrontation mit Russland der „Verteidigungsfall“ eintreten, alle NATO-Staaten wären zum Beistand verpflichtet. Da sie ohne mehrjährige intensive Vorbereitung einen konventionellen Krieg in Georgien nicht gewinnen können, müssten sie den Krieg verloren geben oder eine nukleare Eskalation herbeiführen. Im Kampf gegen die Folgen der Krise geht es daher nicht allein um ökonomische und soziale Fragen. Die Linke, ob in Berlin oder Bangalore, wird ebenso einem wachsenden Nationalismus entgegentreten müssen.

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