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Innenpolitik

Tabuloser Kapitalismus: Hauptsache Allianz versichert!

Von Oskar Kuhn | 01.09.2006

„Die Trendwende am Arbeitsmarkt ist erreicht“. Diese Aussage des Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit zum Abschluß des 2. Quartals 2006 ist den Vorhersagen sowjetischer Meteorologen der dunkelsten Stalin-Ära nicht unähnlich: Lug und Trug zur Hebung des politischen und wirtschaftlichen Klimas! Gleichgültig wann diese Aussage nach Abschluß der WM-Euphorie amtlich als Eigentor verbucht wird, reale ökonomische Gewitterwolken sind längst aufgezogen. Allerdings hat diese Wetterprognose ihre Eigenart. Sie trägt Klassencharakter und ergießt sich einmal mehr in Form massiver Arbeitsplatzvernichtung, z.B. beim Finanzriesen Allianz, der Gesundheits- und Rentenpläne der Koalition oder der neuen Mehrwertsteuererhöhung fast ausnahmslos über den Häuptern der lohnabhängigen Bevölkerung.

„Die Trendwende am Arbeitsmarkt ist erreicht“. Diese Aussage des Vorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit zum Abschluß des 2. Quartals 2006 ist den Vorhersagen sowjetischer Meteorologen der dunkelsten Stalin-Ära nicht unähnlich: Lug und Trug zur Hebung des politischen und wirtschaftlichen Klimas! Gleichgültig wann diese Aussage nach Abschluß der WM-Euphorie amtlich als Eigentor verbucht wird, reale ökonomische Gewitterwolken sind längst aufgezogen.

Allerdings hat diese Wetterprognose ihre Eigenart. Sie trägt Klassencharakter und ergießt sich einmal mehr in Form massiver Arbeitsplatzvernichtung, z.B. beim Finanzriesen Allianz, der Gesundheits- und Rentenpläne der Koalition oder der neuen Mehrwertsteuererhöhung fast ausnahmslos über den Häuptern der lohnabhängigen Bevölkerung. Manch brave Zeitgenossin, die bei Allianz beschäftigt ist, mag sich fragen, wie können die da oben nur so durchgeknallt sein? Rekordgewinne im “eigenen” Haus, Rekordtemperaturen im Juli, Super WM-Stimmung in der Allianz-Arena … und dann wollen sie Tausende zusätzlich ins Abseits kicken. Durchgeknallt? Mitnichten.
Marktwirtschaft will geplant sein
Für kapitalistische Unternehmen sind Rekordgewinne letztlich nur schöne Momentaufnahmen. Das einzig Beständige ist die Veränderung. Während Umsätze und Gewinne zum Wohl des Börsenkurses noch medial nachpoliert werden, liegen schon längst wieder Sorgenfalten auf der kapitalistischen Charaktermaske. Wie sehen die langfristigen Prognosen aus? Wie fällt die Rendite in ein, zwei, fünf oder gar zehn Jahren aus. Marktwirtschaft will geplant sein und schließlich ist die wahre Allianz-Arena nicht zuerst im Norden Münchens, sondern auf dem Weltmarkt zu finden. Der jedoch blüht in erster Linie, wenn der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt. Die Konkurrenz wiederum hält Konzerne und Firmen zur Verfolgung dieses Ziels auf Trab und drängt zur Marktbeherrschung.
Massenarbeitslosigkeit, Lohnabbau, Streß am und ohne Arbeitsplatz, Angst vor und realer sozialer Abstieg, Verelendung in weiten Teilen der Welt mit Krieg und Terror im Geleit. All dies fließt nicht in Konzernbilanzen ein. Sensiblere Gemüter dort machen Benefiz oder eine Stiftung auf. Der Profit muss stimmen: Kosten minimieren, Gewinne maximieren, die Marktposition verbessern oder zumindest halten. Das zählt und sonst gar nichts, solange unser Planet dem kapitalistischen Wertgesetz unterworfen ist. Vor diesem Tatbestand schmilzt alle Sozialstaatlichkeit, alle Ethik, Moral und alle Tabus wie Schnee in der Sonne.

Die Allianz AG hat deshalb entschieden: Zum Wohl der weiteren Unternehmensentwicklung und Wahrung des Platzes an der Sonne müssen tausende Kolleginnen und Kollegen ihren Arbeitsplatz räumen. Andere folgen diesem Beispiel oder weisen bereits langjährige entsprechende Erfahrung auf. Die Koalition in Berlin will ebenfalls vorsorgen: Zur Bewahrung einer flächendeckenden Gesundheitsvorsorge werden Zähne gemäß dem Einkommen und nicht gemäß der Parodontose behandelt. Ärztliche Behandlung allgemein wird zum finanziellen Gesundheitsrisiko und die Reha lediglich zum Wohl des Standortes Deutschland beim 1-Euro-Spargelstechen absolviert.
Gibt es keine Tabus mehr?
Ist dem Kapital und der Regierung nicht doch nur allein der sozialpolitische Anstand abhanden gekommen und die Aufgabe besteht darin, dem Kapitalismus mit Knigge und Keynes beizukommen? So hört mensch zumindest in traditionsbewussten und sozialdemokratischen Apotheken der Firma Lafontaine & Gysi auch hier bei uns um die Ecke.

Tabus bestehen (nicht nur) in Politik und Wirtschaft weniger als ethische Kategorie sondern in erster Linie als reale Drohung, dass es für Tabubruch “auf die Finger gibt”. Halten sich die meisten eine längere Zeit daran, wird die ganze Situation mit ethischem Stoff verhüllt. In unserem Fall nennt sich das ganze “soziale Marktwirtschaft”. Das Problem nicht nur unserer Beschäftigten bei Allianz besteht nun darin, dass

  • •    dem Kapital insgesamt (nicht einzelnen Unternehmen) weltweit seit dem letzten Quartal des zwanzigsten Jahrhunderts die Durchschnittsprofitrate eingebrochen ist,
  • •    dadurch der Tabubruch trotz möglicher Schmerzen für das Kapital notwendig wurde,
  • •    es in den vergangenen Jahren für das Kapital real auch nichts wirklich Kräftiges auf die Finger gegeben hat, wohl aber in die ausgestreckte Hand.


Das macht dreist und fordernd. So verschleißt auch der ethische Mantel und “wir” müssen nun neoliberal auftragen.
Klassenkampf unaufhaltbar
Deshalb wird kein sozialpolitischer Schmusekurs, kein “intelligentes” Steuerkonzept und kein ethischer Arbeitskreis das Kapital und den Klassenkampf von oben aufhalten. Nach Allianz ist vor Allianz. Die untere Grenze ist letztlich das rein physische Überleben der benötigten Teile der ArbeiterInnenklasse. Wer es nicht glauben mag, betrachte die Situation in einem chinesischen Kohlebergwerk, einer südafrikanischen Goldmine oder einem brasilianischen Zuliefererbetrieb der Autoindustrie. Von den Ausgegrenzten und Erwerbslosen ohne soziale Grundversorgung weltweit ganz zu schweigen.

Wir dürfen uns also nicht weiterhin unseren “Fleiß” für Allianz und andere mit verlängerten Arbeitszeiten, Arbeitsverdichtung oder Spargelstechen á la Hartz belohnen lassen. Es bleibt keine andere Wahl, als unsererseits Tabus im Klassenkampf samt der dazugehörigen und abgetragenen ethischen Klamotten, die nur als Zwangskorsett wirken, abzulegen und zusammen mit der vereinten und organisierten Kraft der Beschäftigten und Erwerbslosen kräftig auf die Finger des Kapitals zu langen – und zwar solange bis wir die Läden selbst in den eigenen Händen haben.

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