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Studierende bombardieren das Hauptquartier

Von Korrespondent Britannien | 01.12.2010

Das Sparpaket der britischen Regierung trifft nach einigen Anlaufschwierigkeiten auf massiven Widerstand. Dabei scheint sich vor allem eine SchülerInnen- und Studierendenbewegung zu formieren, wohingegen anderen Sektoren bisher ein wenig der Schwung fehlt.

Das Sparpaket der britischen Regierung trifft nach einigen Anlaufschwierigkeiten auf massiven Widerstand. Dabei scheint sich vor allem eine SchülerInnen- und Studierendenbewegung zu formieren, wohingegen anderen Sektoren bisher ein wenig der Schwung fehlt.

Der Regierung von Konservativen und Liberaldemokrat­Innen (kurz Con-Dems genannt) war es nach ihrem Amtsantritt im Mai zunächst in weiten Teilen der Bevölkerung gelungen, den Schein einer fürsorglichen und mitfühlenden Administration zu erwecken. Sie schien vorurteilslos an die drängenden Fragen heranzugehen und mit ihrem Big Society-Programm die Überzentralisierung der vergangenen Jahrzehnte durch die Förderung von örtlichen Initiativen und Bürgerbeteiligungs-Möglichkeiten zurückzudrängen.
Die Haushaltspläne der Con-Dems und die verschiedenen Expertenkommissions-Berichte – zum guten Teil schon von der vorherigen Labour-Regierung in Auftrag gegeben – zu einzelnen Bereichen haben diesen Schein zerstört: Was immer deutlicher wird, ist, dass die herrschende Klasse und ihre Regierung die Krise gezielt nutzen, um das vor zwei Jahren stark in die Kritik geratene neoliberale Projekt noch zu forcieren und zu vertiefen.

Was nun auf der Tagesordnung stand waren massive Einsparungen, welche mit angeblich leeren Kassen (viel Geld ging für Stützungsprogramme zugunsten notleidender Banken und ihrer Direktoren drauf) begründet wurden: Kürzungen der Sozialleistungen bis hin zur totalen Streichung, wenn mensch dreimal einen angebotenen Job ablehnt, Verdreifachung der Studiengebühren auf rund 9.000 £ (das sind 10.600 €) im Jahr, Kürzung des Kindergeldes, Abbau von 500 000 Jobs im Öffentlichen Dienst, die Drohung Hunderttausende in der Thatcherzeit (in den 1980er Jahren) nach der Entlassung aus dichtgemachten Betrieben auf Incapacity Benefit (Arbeitsunfähigkeitsrente) gesetzte Menschen wieder dem Arbeitsmarkt „zuzuführen“, etc.: Vor den Wahlen im Mai hatten vor allem die Liberaldemokrat­Innen das Gegenteil versprochen und dadurch v.a. in Universitätsstädten Zugewinne erzielt. Begleitet wird dies durch eine „Alle-in-einem-Boot“-Rhetorik und durch populistisch-rassistische Maßnahmen zur Einwanderungsbegrenzung.
Wachsender Widerstand
Wie nicht anders zu erwarten, haben sich die Kritik und der Widerstand gegen diese Politik nach der Verkündung des Haushaltsplanes durch Finanzminister Osborne im Oktober beträchtlich ver­stärkt. Die Kritik verschärfte sich vor allem als bekannt wurde, welche Konsequenzen eine Reihe kommunaler und regionaler Verwaltungen aus den zu erwartenden finanziellen Engpässen ziehen wollen: Das eklatanteste Beispiel ist dabei der County Suffolk, das mehr oder weniger alle Einrichtungen im Bereich Sozialarbeit, Jugendarbeit, Kultur und Umwelt outsourcen und privatisieren will. Zu einer Reihe von ersten größeren Protesten kam es dabei im letzten Oktoberdrittel. So demonstrierten 20 000 in Edinburgh, 5 000 in Belfast und 2 000 in Norwich.
Die Einsparungen im Hochschul-, Weiterbildungs- und Berufsausbildungsbereich (Studiengebühren-Erhöhung, Kürzung des Budgets für Forschung und Lehre in einigen Bereichen um bis zu 80 %) lösten dabei zunächst die stärksten Proteste aus; der Gewerkschaftsdachverband TUC und die größeren Einzelgewerkschaften erwiesen sich wie üblich als träge, lediglich von einigen Trades Councils (Ortskartellen) sowie von kämpferischeren kleinen Gewerkschaften wie RMT (Eisenbahn, Londoner U-Bahn), FBU (Feuerwehr), PCS (Staatsangestellte) oder CWU (Post) gab es schon früh einzelne Protestaktionen wie auch die Forderung nach größeren Aktionen bis hin zum Generalstreik.
Studi-Demo
Für den 10. November hatten der studentische Dachverband NUS (dem fzs vergleichbar) und die Hochschul-Gewerkschaft UCU zu einer Demo gegen die Sparmaßnahmen in London aufgerufen, was in mehrfacher Hinsicht positiv überraschte. Zum einen waren nicht wie erwartet 25 000 sondern mehr als 50 000 Menschen zur Demonstration gekommen, darunter auch eine große Anzahl von Schulschwänzer­Innen und Abordnungen anderer Gewerkschaften. Zum anderen blieb es nicht, wie von der NUS-Führung beabsichtigt, bei der üblichen Latsch-Demo mit langweiligen Reden (inklusive Drohung, beim nächsten Mal nicht LibDem sondern Labour zu wählen). Mindestens 5 000 Demonstrant­Innen zogen nicht einfach am Hauptquartier der Konservativen vorbei sondern nutzten die Gelegenheit, dieses (eigentlich nur Foyer, Treppenhaus und Dach) zu betreten und ein wenig zu verschönern, wobei ein wenig Glasbruch entstand. Diese Besetzung und vor allem das Bild von Menschen mit schwarz-roten und roten Fahnen auf dem Dach des Millbank-Towers sprach dabei Millionen Menschen aus dem Herzen: Die Konservativen sind zumindest symbolisch verwundbar, eine Gruppe von Studierenden und Schüler­Innen hatte mit ihrer Aktion die ganze untergründige Wut, welche sich seit den Niederlagen der Thatcher-Ära und danach angesammelt hatte, wieder zutage gefördert und einen symbolischen Sieg errungen.
Wie nicht anders zu erwarten setzte nach der Aktion eine wütende Hetzkampagne der bürgerlichen Medien ein, welche auch von der Labour Party, den britischen Grünen und der NUS-Führung mitorchestriert wurde. Dabei wurde v.a. der Fall eines Feuerlöschers, der vom Dach des Millbank-Towers geworfen worden war, als Mordversuch aufgebauscht und die Besetzer­Innen insgesamt als nichtstudentische Extremist­Innen und Trittbrettfahrer­Innen angegriffen. Hinter ihnen stünden Organisationen wie die Anarchist Federation, die Solidarity Federation und Class War (zumindest die beiden Erstgenannten spielen bei den derzeitigen Protesten eine positive Rolle). Mindestens 58 Menschen wurden im Laufe der Besetzung festgenommen und müssen mit teilweise schwerwiegenden Anklagen rechnen.

Immerhin solidarisierte sich das Gros der britischen Linken angefangen von einigen linken Labour-Abgeordneten, der Grünen Jugend, dem UCU-Vorstand, den Generalsekretären von PCS, FBU und RMT bis hin zu fast allen Organisationen der radikalen Linken und Prominenten wie Billy Bragg und Paul O’Grady mit den Besetzer­Innen und ihrer Aktion: Der allgemeine Tenor war hier, dass etwas Glasbruch im Vergleich zu den Sparmaßnahmen der ConDems sehr viel weniger zerstörer­isch sei. Um die Kürzungen zu stoppen, sei mehr als gelegentliches Marschieren durch London notwendig.

An vielen Orten bilden sich zur Fortführung der Proteste derzeit Bündnisse, welche vor allem aktivere Sektoren der Gewerkschaften, studentischen Gruppen, Organisationen der Linken aber auch Pensionärs- oder Behindertengruppen umfassen. Hier scheint im Allgemeinen die Stimmung vorzuherrschen, dass mensch nicht auf einen Wahlsieg von Labour in viereinhalb Jahren warten darf, sondern Aktionen und Proteste auf allen Ebenen notwendig sind. In Anbetracht der Tatsache, dass die radikale Linke notorisch zerstritten und vielfach eher an identitären Abgrenzungsritualen, Zeitun
gsverkauf, wahlpolitischen Totgeburten (wie Respect, TUSC und No2EU) und dem exklusiven Aufbau der eigenen Organisationen interessiert ist, wäre das Zustandekommen von derartigen, auf außerparlamentarische Aktionen orientierten Bündnissen ein Fortschritt. In den nächsten Monaten wird es daher vor allem darauf ankommen, den Widerstand gegen die Kürzungen zu organisieren und zu veralltäglichen und eine gemeinsame Handlungsperspektive zu entwickeln, sodass bisher nicht eingebundene, von der Regierungspolitik angegriffene Menschen sich daran beteiligen können. Dabei ist vielen jetzt an den Protesten beteiligten Menschen durchaus klar, dass es im Rahmen der kapitalistischen Sachzwänge und bürgerlicher Legalität keine Lösung gibt und mensch über diese hinausgehen kann und muss.

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