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Betrieb & Gewerkschaft

Stahltarifrunde: Chance aus der Hand gegeben

Von D. Berger | 01.06.2005

Der Tarifabschluss vom 11. Mai ist für all diejenigen eine bittere Enttäuschung, die gehofft hatten, dass der Stahlboom die IG Metall endlich zu einer offensiveren Haltung ermuntern könnte.

Die Lobeshymnen der IG-Metall-Führung bilden wie so oft eine Mischung aus Verdrehungen und organisiertem kollektiven Gedächtnisschwund der für den Abschluss Verantwortlichen. Was bringt das Ergebnis tatsächlich?

Das Ergebnis

3,5% Lohnerhöhung ab dem 1. September 2005 für 12 Monate + 5 mal 100 Euro Einmalzahlung (April-August 2005). Die tabellenwirksame Erhöhung über 17 Monate bedeutet auf 1 Jahr umgerechnet gerade mal 2,47%. Legt mensch die offizielle Preissteigerungsrate von 1,5 – 2% im Laufe der 17 Monate zugrunde und bezieht mensch die steigenden Lebenshaltungskosten aufgrund erhöhter Zuzahlungen (etwa im Gesundheitsbereich) mit ein, dann werden diese knapp 2,5% Lohnerhöhung gerade mal so reichen, dass die KollegInnen und ihre Familien ihren Lebensstandard halten können. Von “Teilhabe am Produktivitätsfortschritt” kann bei weitem nicht die Rede sein.

Gefordert waren 6,5%

Statt also die extrem günstige Auftragslage in der Stahlbranche zu nutzen, hat die IG Metall gerade mal 38% (!!) der aufgestellten Forderung durchgesetzt. Bedenkt mensch noch, dass z. B. die Azubis keine tabellenwirksame Erhöhung, sondern nur eine Einmalzahlung von 100 Euro erhalten, dann ist das Ergebnis mehr als beschämend. Was sollen dann die KollegInnen in den anderen Branchen durchsetzen, die nicht boomen?
Selten war die Streikbereitschaft höher. KollegInnen aus der Stahlindustrie, mit denen der Autor noch Ende April gesprochen hat, erklärten: “Bei der Urabstimmung erreichen wir weit über 90%.” Der Grund ist klar: Seit über 2 Jahren herrscht in der Stahlindustrie ein beispielloser Boom (v.a. aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage aus China). Gleichzeitig sind in den letzten Jahren Produktivität und Gewinne so stark gestiegen, dass die Stahlbosse “nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld” (so ein Stahlkocher aus Duisburg; siehe auch Kasten). Die Kollegen (und wenigen Kolleginnen) fühlten sich also in der Kampfsituation nicht nur argumentativ gut gewappnet. Sie wussten, dass die Gegenseite bei einem Streik nach kürzester Zeit einknicken musste. Unter diesen Bedingungen war schon die aufgestellte Forderung mehr als bescheiden. Die Durchsetzung von annähernd 6,5% hätte aber ein klares Signal setzen können: Ja, die Lohnabhängigen wollen tatsächlich am Produktivitätsfortschritt teilhaben und sind auch in der Lage das durchzusetzen.

Gewerkschaftsbürokratie hat andere Interessen

Aus gewerkschaftspolitischer und gesamtgesellschaftlicher Sicht wäre es Aufgabe der Gewerkschaftsführung gewesen, sich gerade nicht mit einem lächerlichen Ergebnis abspeisen zu lassen, sondern für die gesamte Klasse ein Signal zu setzen. Ein erfolgreicher Streik hätte mehreres bewirkt: Neben einer wirklichen Verbesserung der Einkommen wäre ein klares Zeichen gesetzt worden: Kämpfen lohnt sich, vor allem in Tarifrunden. Es wäre also ein kleiner Schritt heraus aus der Defensive gewesen. Nichts bräuchten die Gewerkschaften mehr als das. Denn hiermit könnten sie endlich wieder ihre Nützlichkeit beweisen und dem Mitglieder- und vor allem Einflussverlust entgegenwirken.
Wenn der Vorstand der IGM und der Bezirksleiter von NRW (Wetzel) nach dem Ansetzen der Urabstimmung trotzdem auf das Gesprächsangebot der Stahlbosse eingingen und dann auch noch dieses Ergebnis akzeptierten, dann aus folgenden Gründen:

  • Erstens denken diese Bürokraten tatsächlich in den Kategorien der Standortlogik: Die “eigenen” Stahlbetriebe dürfen gegenüber der Konkurrenz nicht benachteiligt werden.
  • Zweitens betreibt die Gewerkschaftsbürokratie auch über die Stahlindustrie hinaus insofern eine “Industriepolitik” als sie in jedem Fall vermeiden wollte, dass die Autoindustrie (über die “Fernwirkung” eines mehrwöchigen Stahlstreiks) in Schwierigkeiten gerät. Das wird auch nicht dadurch vertuscht, dass die sieben Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Autoindustrie eine Solidaritätsadresse verabschiedeten.
  • Drittens wollte die Gewerkschaftsführung ganz offensichtlich auch nicht den SPD-Wahlkampf in NRW “stören”. Dabei wäre diese politische Situation gerade günstig gewesen, selbst in die Offensive zu gehen. Aber das setzt eben voraus, dass die Gewerkschaftsführung zu politischen Konflikten bereit ist und dass ihr die Interessen der KollegInnen wichtiger sind als etwa die der neoliberalen SPD.
  • Viertens arbeitet der IGM-Vorstand schon aus finanziellen Gründen darauf hin, dass der Streik nicht mehr zum “normalen” Repertoire gewerkschaftlicher Kampfmaßnahmen gehört. Warnstreiks, die der Gewerkschaft zumindest keine Streikgelder kosten, sind in Ordnung, aber bitte keine Vollstreiks! Unser “Betriebsergebnis” ist seit Jahren negativ und wir wollen ja den Apparat (sprich vor allem die Hauptamtlichenstellen) aufrechterhalten!
    Bleibt die Frage, warum die Tarifkommission diesen Abschluss abgesegnet hat. Speziell im Stahlbereich ist die Tarifkommission mit großer Mehrheit aus gut abgesicherten Betriebsratsmitgliedern und hauptamtlichen Sekretären zusammengesetzt. In einer Situation, in der die Verhandlungskommission unter Bezirksleiter Wetzel einen Abschluss von optisch 3,5% vorlegt, gibt es aus diesen Kreisen keinen großen Widerstand. Eine organisierte klassenkämpferische Strömung unter StahlkollegInnen, die auf die Tarifkommission hätte einwirken können, gibt es heute nicht. Und so kann sich der Unmut so mancher KollegInnen über die vertane Chance in vertieftem Desinteresse, im Extremfall in Resignation niederschlagen. Auch deswegen ist der Aufbau einer Branchen übergreifenden und offen auftretenden Gewerkschaftslinken so ungeheuer wichtig.
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