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Länder

Soweit kann es gehen …

Von Trixi Blixer | 01.09.2003

Kürzungen im Gesundheitsbereich gibt es derzeit in allen europäischen Ländern. Überall wird polemisiert, dass der medizinische Sektor zu teuer und zu groß sei. Um sich über die Konsequenzen eines radikalen Abbaus bewusst zu werden, lohnt sich der Blick über die Grenze. In Großbritannien hält mensch sich schon längst nicht mehr mit ethischen Bedenken auf. Hier wird rücksichtslos gestrichen, was zu streichen geht.

Kürzungen im Gesundheitsbereich gibt es derzeit in allen europäischen Ländern. Überall wird polemisiert, dass der medizinische Sektor zu teuer und zu groß sei. Um sich über die Konsequenzen eines radikalen Abbaus bewusst zu werden, lohnt sich der Blick über die Grenze. In Großbritannien hält mensch sich schon längst nicht mehr mit ethischen Bedenken auf. Hier wird rücksichtslos gestrichen, was zu streichen geht.

Als die Labour-Partei bei den Wahlen 1945 die absolute Mehrheit gewann, war es ihr möglich, einige keynesianische Konzepte der sozialen Sicherung umzusetzen. So wurde u. a. der National Health Service (NHS) als kostenlose, steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung Englands geschaffen. Ab 1948 wurden sogar alle Ärzte und KrankenpflegerInnen Angestellte des Staates. Jedoch wurde schon 1957 das kostenfreie System durch Zuzahlungen bei Medikamenten und einem kleinen Pflichtbetrag der abhängig Beschäftigten unterhöhlt. 1989 kam es unter der neoliberalen Premierministerin Thatcher zu gravierenden Veränderungen.
Versorgung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien
Die staatlichen Krankenhäuser wurden zu Trusts mit eigenen Managementstrukturen zusammengeschlossen. Sie bekamen ein festes Budget, mit welchen sie Leistungen für ihre PatientInnen einkaufen können. Vorher hat der NHS die meisten Kliniken selber betrieben. Nach den Reformen fungiert er mittlerweile vor allem als Einkäufer medizinischer Leistungen. Ganz nach neoliberaler Manier sind in den letzten Jahren viele Krankenhäuser als eigene Unternehmen ausgegliedert worden. Nun konkurrieren die Häuser miteinander um die PatientInnen, was die Kosten weiter senken soll. Das führt zu Wettbewerb unter den Kliniken und Trusts, was auch das Risiko einer finanziellen Pleite für einzelne Häuser beinhaltet. AllgemeinärztInnen in Großbritannien haben eine zentrale Funktion: Nur sie können PatientInnen an Krankenhäuser oder FachärztInnen überweisen. Die AllgemeinärztInnen werden pauschal nach der Zahl der bei ihnen registrierten PatientInnen bezahlt, nicht pro Behandlung. So werden die ÄrztInnen angehalten, notwendige Behandlungen möglichst kostengünstig zu halten. Die Verschlechterungen im NHS führten zu vielen Krisen, wie u. a. regelmäßigen Winter-Bettenkrisen der Kliniken. So konnte die Labour-Partei 1997 u. a. mit der Losung der Verbesserung des NHS die Wahl gewinnen. Jedoch hat sie außer schönen Floskeln nicht viel getan. Es wurde zwar die Budgetierung bei einzelnen ÄrztInnen abgeschafft, jedoch einfach durch Budgets bei medizinischen Teams ersetzt.
Konsequenz: Pflegenotstand und Bettenmangel
In Großbritannien gibt es für die NHS-PatientInnen keine freie Arztwahl, sie müssen den Hausarzt in ihrer Wohngegend aufsuchen und dieser entscheidet dann über weitere Maßnahmen. Auch herrscht seit Jahren ein großer Bettennotstand, so dass zunehmend mehr PatientInnen zu Hause versorgt werden müssen. Sowohl in den Krankenhäusern wie auch bei den HausärztInnen kommt es zu langen Wartezeiten, die selbst in Notsituationen bis zu einer Woche dauern können.

Offiziell beinhaltet der NHS-Leistungskatalog auch die Zahnversorgung, jedoch gibt es nicht genügend ZahnärztInnen, die für die geringen Gehälter des NHS arbeiten wollen. Daher haben viele NHS-Zentren überhaupt keine Zahnbehandlung und dort, wo es eine gibt, existieren Wartelisten von über einem Jahr. Auf den Wartelisten für Operationen standen im Jahr 2001 über eine Million Menschen. PatientInnen müssen auf nicht lebensnotwendige Eingriffe im Durchschnitt 18 Monate, in Einzelfällen jahrelang, warten.

Zusätzlich gibt es vergleichsweise wenig MedizinerInnen in Großbritannien: Pro Tausend EinwohnerInnen praktizieren dort durchschnittlich 1,8 MedizinerInnen. In Deutschland sind es genau doppelt so viele. Kein Wunder, denn auch das Pflegepersonal ist hoffnungslos unterbezahlt. Als Lösung für die katastrophalen Zustände wurde ein telefonischer Dienst eingeführt, der berät, wie sich Kranke selbst versorgen können.
Stärkung des privaten Sektors
Durch die schlechte Versorgung des staatlichen Gesundheitswesens versichern sich viele in privaten Krankenversicherungen, die jedoch nicht dazu verpflichtet sind, grundsätzlich jedeN aufzunehmen. Es kommt auch häufig vor, dass Nicht-Privatversicherte wegen der zu langen Wartezeiten auf einen Krankenhausplatz die Behandlung aus eigener Tasche bezahlen oder sogar ins Ausland gehen. Der private Versorgungssektor bildet kein eigenes medizinisches Personal aus, sondern wirbt einfach bei dem staatlichen Sektor ab, so dass dort ständig Personalmangel herrscht. Das britisches Gesundheitssystem ist billig: 7,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen in das Gesundheitssystem – weniger als der Durchschnitt der OECD-Länder. Nicht eingerechnet wird dabei, dass viele Behandlungen aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssen.

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