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Innenpolitik

Sieben Jahre „Rot-Grün” – eine kommentierende Bilanz

Von Walter W. | 01.12.2005

Mit der Wahl Schröders zum Bundeskanzler, mit Fischer und Lafontaine an seiner Seite waren in der Bevölkerung einige Erwartungen geweckt worden. Am Ende seiner Kanzlerzeit waren diese einer ausgesprochenen Aschermittwochstimmung gewichen.

Mit der Wahl Schröders zum Bundeskanzler, mit Fischer und Lafontaine an seiner Seite waren in der Bevölkerung einige Erwartungen geweckt worden. Am Ende seiner Kanzlerzeit waren diese einer ausgesprochenen Aschermittwochstimmung gewichen. 

Am 23. März 1999 begann der Angriff auf Jugoslawien. Dies war ein eindeutiger Bruch in der Geschichte der BRD, gleichzeitig ein Bruch des Völkerrechts und der Verfassung. Seite an Seite u.a. mit der türkischen Armee, bekanntlich ein Gralshüter der Rechte und Anliegen der KurdInnen, kämpfte die Bundeswehr gegen ein Land, das jahrzehntelang gute Beziehungen zu Deutschland gepflegt hatte. Das Hoheitszeichen der Bundesluftwaffe muss bei manchen EinwohnerInnen Belgrads bittere Erinnerungen wachgerufen haben.

Weniger die reichlich vorhandenen Menschenrechtsverletzungen als die Unbotmäßigkeit der Regierung Milosevic, die gerne auf die Mitgliedschaft in der NATO und den Euro verzichtete und das Abkommen von Rambouillet zu Recht als den Versuch ablehnte, die Bundesrepublik Jugoslawien in ein Protektorat umzuwandeln, waren Grund für diesen Krieg. Die Bundesluftwaffe flog nach Angaben Lafontaines 36 000 (!) Angriffe und bombte das Land ökonomisch in die Nachkriegszeit zurück. Novy Sad, pikanterweise in Opposition zu der Belgrader Regierung und Partnerstadt des sozialdemokratischen Herzstücks Dortmund, wurde auch Objekt dieser besonderen Form der Völkerverständigung. Die Sozialdemokratie hatte wieder einmal bewiesen (s. unsere Broschüre „Die SPD – eine bürgerliche Partei), dass bei Verteidigung der bürgerlichen Ordnung bei ihr alle Dämme brechen.
Vom Natokrieg zu Hartz IV
Wer keine Tabus in der Außenpolitik kennt, hat auch keine in der Sozialpolitik. Der „Schröder-Putsch“ auf diesem Gebiet ist ein Meisterstück an Zynismus, der bei explodierenden Gewinnen (Deutsche Bank, Telekom usw. usf.) Millionen durch das Arbeitslosengeld 2 (ALG 2) faktisch in die Sozialhilfe treibt. Besonders Familien mit Kindern leben unter der Armutsgrenze und können bestimmte Perspektiven z. B. ein geplantes Studium nicht mehr verwirklichen. Die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot landen im Papierkorb. Aber sie können auf den Lehrstellenmarkt ausweichen, dessen Überangebot ja bekannt ist. Die BezieherInnen des ALG 2 müssen sich bis auf die Unterwäsche durchleuchten lassen, bekommen Hausbesuche von der Arbeitsagentur und werden in die Nähe von Parasiten gerückt. Gleichzeitig florieren Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug. Die Verkäuferin bei Karstadt, die sich 35 Jahre die Beine in den Bauch gestanden hat, arbeitslos wird, lebt also in Zukunft von der Stütze. Menschen, die Jahre oder Jahrzehnte in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt haben, werden um ihre Leistungen gebracht. Wehe dem, der da von Raub und Betrug spricht. „Rot-Grün“ hat alle Laster einer bürgerlichen Regierung ohne einer ihrer Tugenden zu besitzen (Trotzki).
Gesundheit, Renten und innere Sicherheit
Da der Neoliberalismus ein Programm von rechten SystemverändererInnen ist, bleibt auch das Gesundheits- und Rentenwesen nicht verschont. Gesundheitsprämie – wer wird hier eigentlich prämiert? – und voraussichtlich vier Nullrunden im Rentenbereich runden das Bild ab. Da es aber in diesem Land eine Inflationsrate gibt und die Energiepreise explodieren, muss mensch von einer zweistelligen Rentensenkung ausgehen.

Halten wir uns mit diesen unappetitlichen Dingen nicht auf. Werfen wir einen kurzen Blick auf den eisernen Otto, unseren Innenminister. Großer Lauschangriff, Bundespolizei, Hubschrauber mit Wärmebildkameras gegen SprayerInnen … der Mann gibt sein Letztes zur Verteidigung der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung. Den kann auch Bechstein auf der rechten Überholspur nicht mehr einholen.
Resümee und Ausblick
Warum konnte „Rot-Grün“ dieses Projekt relativ widerstandslos unter verhaltenem Applaus der wirtschaftlichen Chefetage durchziehen? Nun, weil die Sozialdemokratie über ein exzellentes Instrument verfügt, um die Gewerkschaften ruhig zu stellen. Die Gewerkschaftsbürokratie, oft stockkonservativ, ist ein wesentliches Instrument bürgerlicher Herrschaft. Über den Gewerkschaftschaftsapparat, materiell gut ausgestattet, hat er die Gesamtorganisation fest im Griff. In Gestalt der Linkspartei hat er nun einen Konkurrenten, der ihm Sorgen, aber keine schlaflosen Nächte bereitet, denn um BarrikadenkämpferInnen handelt es sich bei denen nicht, die in zwei Koalitionen mit am Tisch sitzen. Sie traten an, das Land zu modernisieren. Ein Modernisierer kann aber stockkonservativ oder reaktionär sein.

Der Zusammenschluss von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und sozialistischer Linke in Loyalität und Solidarität bei Unterstützung und Förderung der Selbsttätigkeit wären der Focus einer gesellschaftlichen Alternative zu denen, die die Interessen der 300 000 KapitalbesitzerInnen verteidigen. Eine eindrucksvolle Demonstration in Berlin im Frühjahr ist nicht nur möglich, sondern auch bitter nötig.

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