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Ökologie

Schwedisches AKW außer Kontrolle

Von Karl Lindt | 01.10.2006

Am 25. Juli 2006 ereignete sich im AKW Forsmark der größte Störfall in einem AKW nach der Tschernobyl-Katastrophe. Durch vernachlässigte Sicherheitssysteme wächst die Gefahr eines GAU (Größter anzunehmender Unfall). Der schwedische Reaktor Forsmark musste am 25.7.2006 automatisch heruntergefahren werden, da sich ein Kurzschluss in der Umspannstation, über die der Reaktor seine elektrische Energie in das allgemeine Netz speißt, ereignet hatte

Am 25. Juli 2006 ereignete sich im AKW Forsmark der größte Störfall in einem AKW nach der Tschernobyl-Katastrophe. Durch vernachlässigte Sicherheitssysteme wächst die Gefahr eines GAU (Größter anzunehmender Unfall).

Der schwedische Reaktor Forsmark musste am 25.7.2006 automatisch heruntergefahren werden, da sich ein Kurzschluss in der Umspannstation, über die der Reaktor seine elektrische Energie in das allgemeine Netz speißt, ereignet hatte. Doch auch ein abgeschalteter Reaktor produziert, aufgrund der Radioaktivität, eine Nachzerfallswärme von ca. 10% seiner Spitzenleistung. Wird diese Nachzerfallswärme nicht abgeführt, kommt es in weniger als einer Stunde zu einer Kernschmelze und zu einer Explosion des Reaktorgebäudes. Die Notstromgeneratoren sollten im Falle der Schnellabschaltung eigentlich genügend Strom liefern, für die Pumpen, die die Nachzerfallswärme ableiten und für die Steuerung des Reaktors. Dadurch, dass zwei Generatoren ausfielen, funktionierten wichtige Messinstrumente, Bildschirme, Lautsprecher etc. nicht. In der kritischsten Phase konnte unter anderem nicht kontrolliert werden, in welcher Stellung sich die Steuerstäbe befinden. Auch der genaue Wasserstand im Reaktor konnte nicht gemessen werden. Erst nachdem 23 Minuten lang der Reaktor außer Kontrolle war, konnten die ArbeiterInnen im AKW Forsmark die beiden ausgefallenen Generatoren per Hand starten und somit die Stromversorgung für sicherheitstechnisch wichtige Systeme herstellen.
Entwarnung für deutsche AKWs?
Noch bevor die Einzelheiten, die zu dem Störfall im Reaktorblock 1 des Atomkraftwerkes Forsmark führten, aufgeklärt waren, gaben die deutschen KernkraftbefürworterInnen des Kapitals und der Regierung, Entwarnung für die deutschen Atomkraftwerke. Da in den deutschen AKWs andere Technik verbaut ist, wäre eine „eins-zu-eins-Übertragung” des Forsmark-Störfalls bei deutschen Kernkraftwerken nicht zu befürchten. Vermutlich ist diese Behauptung sachlich sogar richtig, da es das Atomkraftwerk von der Stange nicht gibt. Alle derzeit weltweit kommerziell betriebenen 442 Atomkraftwerke unterscheiden sich in der Anlagentechnik insgesamt und in der Sicherheitstechnik im Besonderen, konzeptionell oder im Detail. Deshalb verlaufen auch die Störfälle stets unterschiedlich. Gezielt vertuscht werden soll mit solchen Aussagen aber, dass es in der überkomplexen Sicherheitsleittechnik trotzdem zu analogen Problemen kommen kann. So gerieten in dem schwedischen Siedewasserreaktor genau jene elektrischen Sicherheitssysteme aus vergleichsweise nichtigem Anlass (einem Kurzschluss im umgebenen Stromnetz) an den Rand des vollständigen Kollapses, die im deutschen Kraftwerk Brunsbüttel seit Jahren im Zentrum massiver Expertenkritik stehen und immer noch nicht verbessert wurden.
Sicherheitssysteme von AKWs werden immer stärker vernachlässigt
Doch abgesehen davon inwieweit sich Probleme die sich in einem Atomreaktor ereignen auf einen anderen übertragen lassen, eines hat sich mit dem erneuten Störfall in einem AKW gezeigt: Atomkraftwerke sind nicht sicher. Und sie werden entgegen der alltäglichen Propaganda der Atomindustrie und der atomfreundlichen Politik immer unsicherer. Wie in den meisten anderen Ländern ist der Strommarkt in Schweden nun seit 10 Jahren liberalisiert. Der Betreiber des AKW Forsmark Vattenfall ist zwar noch zu hundert Prozent in staatlicher Hand, verhält sich aber auf dem „freien” Markt wie die Privatkonkurrenz. Der europäische Stromriese, zu dem Kohle, Wasser- und Kernkraftwerke gehören, hat im letzten Quartal fünfzehn Prozent Rendite erwirtschaftet. Mit dem Gewinn der letzten Jahre hätte der Konzern jeweils genug Anlagen zur Produktion von Windstrom oder anderen regenerativen Energieformen errichten können, um pro Jahr ein ganzes AKW zu ersetzen.

Doch im Sinne neoliberaler Marktlogik wurden die Profite nicht für umweltfreundliche Stromproduktion verwendet, sondern für den Kauf von Elektrizitätsbetrieben in Hamburg und Berlin sowie für Braunkohlekraftwerke in der ehemaligen DDR und in Polen. Währenddessen führt seit Mitte der neunziger Jahre der starke Rationalisierungsdruck des liberalisierten Strommarktes in Schweden, aber auch in anderen Ländern, zu einer starken Ausdünnung der Sicherheitsabteilungen innerhalb atomarer Anlagen. Nach Aussagen des ehemaligen Konstruktionschefs bei Vattenfall, Lars Olav Höglund, wird auch aus Kostengründen vermehrt „Betriebspersonal ohne tiefere Einsicht in technische Zusammenhänge” in die Kontrollräume gesetzt. Da sich jede Stunde die ein Reaktor nicht in Betrieb ist als Verlust in der Bilanz darstellt, werden notwendige Wartungsarbeiten verstärkt aufgeschoben. Bei einer solchen Lage in den heutigen Atomkraftwerken und nach den Erfahrungen der Unfälle in Harrisburg, Sellafield, Tschernobyl und unzähligen weiteren Orten, in denen die sog. „friedliche” Nutzung der Atomenergie für Zerstörung und Verwüstung gesorgt hat, kann die einzige Forderung nur sein: Stillegung aller Atomanlagen weltweit vor dem nächsten Super-GAU – also sofort.

 

Die größten Unfälle in der AKW-Geschichte
Harrisburg, USA am 28.3.1979:
Der Reaktor Three Miles Island von Harrisburg hat eine Havarie. Am folgenden Tag wird mitgeteilt, es sei nur „eine Kühlpumpe ausgefallen und eine geringe, aber ungefährliche Menge Radioaktivität frei geworden.“ Tatsächlich sind die Messgeräte ausgefallen, da sie nicht auf derartige Mengen ausgelegt sind. Auch sind sämtliche Messprotokolle „verloren” gegangen. Ein Teil des Reaktorkerns ist geschmolzen und große Mengen radioakives Gas sind ausgetreten. Die Aufsichtsbehörde NRC fordert die totale Evakuierung der Region. Der Gouveneur empfielt 300 000 EinwohnerInnen aber nur, in ihren Häusern zu bleiben. Die Hälfte flüchtet dennoch. In Folge der Katastrophe steigt die Anzahl von Totgeburten und von Krebserkrankungen in der Region stark an.
Das Neue bei dieser Katastrophe liegt aber nicht im Grad der Gefährlichkeit des Unfalls. Es gab schon vorher ähnliche Störfälle, bei denen es beinahe zu großen atomaren Explosionen kam. Das Neue ist, dass sich dieser Beinahe-GAU vor einer großen Öffentlichkeit ereignete und von dieser wahrgenommen wurde. Die Lüge vom „sicheren” Atomkraftwerk wurde nun großen Teilen der Weltbevölkerung erstmals klar.
Tschernobyl, Ukraine am 26.4.1986:
Bei einem sog. Super-GAU im Atomkraftwerk von Tschernobyl kommt es zu einer Kernschmelze und in der
en Folge zu einer atomaren Explosion. Innerhalb von Sekunden werden große Mengen Radioaktivität durch Freilegung und Brand des Reaktorkernes freigesetzt, die unmittelbare Umgebung wird verstrahlt und für Jahrhunderte unbewohnbar gemacht. Über dem Kraftwerk bildet sich eine riesige atomare Wolke, die quer durch Europa zieht. Am 28. April 1986 löst sich im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark der automatische Alarm aus. Die Strahlung auf dem Gelände des Reaktors ist so hoch, dass zuerst ein Unfall in Forsmark selbst vermutete wird. Es stellt sich bald aber heraus das die in Schweden gemessene atomare Strahlung aus der Ukraine kommt. Erst dadurch erfuhr die Weltöffentlichkeit vom bisher größten Unfall in der Geschichte der „friedlichen” Nutzung der Atomenergie. Die radioaktive Belastung in Weißrussland, der Ukraine und Russland ist bis heute katastrophal. Ganze Regionen sind hier für die Produktion von Nahrungsmitteln auf Jahrhunderte verloren. In den betroffenen Gebieten sind heute die meisten Menschen bedingt durch den Unfall erkrankt. Von den jungen Menschen, die zu Aufräumarbeiten in und um den verstrahlten Reaktor abkommandiert wurden, sind bis 2002 – allein nach ukrainischen Angaben – bereits 15 000 gestorben.
Doch die Atomlobby weltweit leugnet bis heute die Folgen der Katastrophe und rechnet in verschiedenen Studien immer wieder die Opferzahlen bzw. die Folgen der Katastrophe herunter. So spricht die IAEA (International Atomic Energie Agency der UNO) seit einigen Jahren von „nur” 4000 Toten in Folge des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Wer Einsicht in eine detaillierte und nicht so simplifizierende Einschätzung der Folgen von Tscherobyl wie die der Atomlobby, bekommen möchte, dem bzw. der sei die Studie „Tscherobyl- Gesundheitsreport 2006” von Greenpeace ans Herz gelegt (www.greenpeace.de).                                               
Karl Lindt

 

Tag X
Tag X. Voraussichtlich zwischen dem 11. und dem 13. November wird der nächste Transport mit 12 hochradioaktiven Castorbehältern aus der französischen Plutoniumfabrik La Hague nach Gorleben rollen. Bisher geplant ist ein Widerstandscamp in Hitzacker vom 6.11. bis 19.11. und eine Auftaktkundgebung in Gorleben am Samstag den 11. November. Mehr Infos unter: www.castor.de

 

 

 

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