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Sarkozys Flucht nach vorne

Von Pierre Vandevoorde | 01.01.2008

Am Donnerstag den 13. Dezember hat die Gewerkschaft CGT ihren Streikaufruf bei der SNCF und RATP [Bahn und Pariser Nahverkehrszüge] zurückgezogen. Eine Niederlage? Keineswegs. Die „Basis“ hat sich ganz einfach geweigert, auf Befehl einen Tag zu streiken, wo doch „ihre Führung“ alles dafür getan hat, dass im November nach neun Tagen Streik die Arbeit wieder aufgenommen wurde, ohne dass mehr erreicht worden wäre als die Aufnahme von Verhandlungen über Ausgleichsmaßnahmen für die Anhebung des Renteneintrittsalters von heute 55 Jahren.

Am Donnerstag den 13. Dezember hat die Gewerkschaft CGT ihren Streikaufruf bei der SNCF und RATP [Bahn und Pariser Nahverkehrszüge] zurückgezogen. Eine Niederlage?

Keineswegs. Die „Basis“ hat sich ganz einfach geweigert, auf Befehl einen Tag zu streiken, wo doch „ihre Führung“ alles dafür getan hat, dass im November nach neun Tagen Streik die Arbeit wieder aufgenommen wurde, ohne dass mehr erreicht worden wäre als die Aufnahme von Verhandlungen über Ausgleichsmaßnahmen für die Anhebung des Renteneintrittsalters von heute 55 Jahren [für bestimmte Beschäftigtengruppen des Öffentlichen Dienstes] und von 50 Jahren für das Fahrpersonal auf 40 Beitragsjahre.

Mit derselben Entschlossenheit, die sich zumindest bis zur Herstellung der Verbindung mit den Beamten und den Studierenden am 20. November durchhalten ließ, haben sie diese Maskerade zurückgewiesen. Sie wissen, dass sie verloren haben, sie wissen, wer daran schuld ist, aber sie sind nicht niedergeschlagen und sie wollen nicht, dass man ihnen Märchen erzählt. Die „Basis“ hat diesen Streik abgelehnt: Sie will ihre Kräfte für die entscheidenden Kämpfe aufheben.
Unzweifelhaft war der massiv befolgte Streik vom 20. November (s. dazu die letzte Avanti) weit mehr als das von den Gewerkschaftsführungen gewünschte übliche Streikritual der Staatsbediensteten. Die Streikenden und DemonstrantInnen bemühten sich um einen gemeinsamen Kampf, der alle erfasst. Aber die Gewerkschaftsführungen wollen in jedem Fall die Konfrontation vermeiden und beugen sich den Reformplänen der Regierung und des Kapitals. So haben die Gewerkschaftsvorstände der Staatsbediensteten sich beeilt, der Einladung des Ministeriums für den Öffentlichen Dienst zu folgen, um über die „Kaufkraft“ der Beschäftigten zu diskutieren, und haben dann den Aktionstag, der Anfang Dezember folgen sollte, annulliert. Aber sie haben einen Aktionstag angekündigt: für den 24 Januar!

Auch die Studierendengewerkschaft UNEF hat die erstbeste Gelegenheit ergriffen, um sich medienwirksam aus der nationalen Studierendenkoordination zu verabschieden, zu einem Zeitpunkt als es trotz der polizeilichen Repression noch sehr viele Streiks und Universitätsblockaden gab und sich die Bewegung noch auf die Gymnasien ausdehnte. Die Regierung hat noch einmal beträchtliche Summen für die Universitäten zur Verfügung gestellt, aber sie konnte die Autonomie der Universitäten durchsetzen.

Bei der Bahn mussten die kämpferischen Kräfte ihre ganze Energie aufbringen, um die Einheit aufrecht zu erhalten. So ist die Notwendigkeit der Koordinierung der Streikvollversammlungen (um wirklich auf die Verhandlungen einwirken zu können) erst am Abend des 20. November sichtbar geworden, als der CGT-Führer erklärt hat, dass es wirkliche Fortschritte in den Verhandlungen gäbe, aber dass die Basis in Vollversammlungen entscheiden müsse und die CGT die Entscheidung akzeptieren werde. Das ist das wohlbekannte Lied der Demobilisierung…

Die kämpferischen Bahnbeschäftigten waren also – im Gegensatz zu 1995 – nicht  bereit, sich mit einer vereinheitlichenden Forderung und einer überzeugenden Argumentation, nämlich der Parole „37,5 Beitragsjahre für alle“1, den anderen KollegInnen zuzuwenden, und zwar für den Privatsektor, der das 1993 verloren hat wie auch für alle anderen, die das heute noch haben, während die Regierung gleichzeitig die Anhebung der Beitragsjahre von 40 auf 41 vorbereitet.

Neu an der Situation ist, dass die CGT es ablehnt, sich in eine landesweite Kraftprobe zur Bekämpfung der neoliberalen Reformen zu begeben, zusammen mit den SUD-Gewerkschaften und mit der FSU [Gewerkschaft im Bildungsbereich]. Sie möchte vielmehr künftig direkt mit der CFDT auf deren Terrain konkurrieren, dem der zentralen Gespräche mit Kapital und Regierung. Das ist das Ergebnis eines längeren Anpassungsprozesses, der u. a. mit ihrer Integration in den Europäischen Gewerkschaftsbund zusammenhängt. Somit stellt sich die Frage des Aufbaus einer kritischen Strömung innerhalb der CGT, was in den Augen vieler aktiver Mitglieder an der Basis eine starke Berechtigung hätte.
Sarkozys neue Offensive
Kaum waren die Streiks abgeflaut, hat Sarkozy im Fernsehen einen „Plan zur Anhebung der Kaufkraft“ präsentiert. Er wollte damit vergessen lassen, dass die Streikwelle die Regierung gezwungen hatte, einigen Ballast abzuwerfen, um sich aus der Affäre zu ziehen. Vor allem ging es ihm darum, der öffentlichen Meinung und den ArbeiterInnen keine Zeit zu lassen, sich neu zu sammeln, die Kräfte zu formieren und die Lehren aus dem Kampf zu ziehen…Sarkozy verfolgt also weiter seine Politik des „mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“, d. h. mehr arbeiten und dabei einem Phantom hinterherlaufen. Er schafft das von der PS-Regierung erlassene Gesetz zur 35-Stundenwoche ab und behält nur die negativen Momente bei: Intensivierung der Arbeit, Flexibilität. Die Möglichkeit, freie Tage nicht zu nehmen, sondern sich auszahlen zu lassen und die vermehrte Sonntagsarbeit werden die Lebensbedingungen verschlechtern. Und darüber hinaus sind das Kapital und die Gewerkschaften schon dabei, das Ende des normalen unbefristeten Arbeitsvertrags zu „verhandeln“. Ziel ist es dabei, eine für Europa untypische Situation in Frage zu stellen, in der die Garantien gegen Entlassungen für das Kapital finanziell zu aufwendig sind.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass die zunehmende Gewalt in den Klassenbeziehungen Reaktionen hervorruft, die den „institutionellen Rahmen“ verlassen. Der Tod zweier junger Menschen in dem Armenviertel Villiers-le-Bel, unter Bedingungen, die bis heute nicht geklärt sind und wo die Polizei eine zweifelhafte Rolle spielte, hat einen Aufruhr zerstörerischer Revolte hervorgerufen, der mit den Mitteln des Bürgerkriegs unterdrückt wurde. Das Anzünden einer Bibliothek, einer Schule, des Autos des Nachbarn, ist Ausdruck eines gewaltigen Frusts angesichts einer unerträglichen sozialen Lage. Übrigens ist dabei eine neue Schwelle überschritten worden: Die Polizei hat Flugblätter verteilt mit der Aufforderung gegen eine Belohnung von einigen tausend Euro andere anonym zu denunzieren. Damit sollen nicht etwa die Bedingungen aufgeklärt werden, unter denen die zwei jungen Menschen ums Leben kamen, sondern es sollen jene gefunden werden, die mit Jagdgewehren auf die Polizei geschossen haben.
Eine neue antikapitalistische Partei aufbauen
In einer allgemeinen Lage, in der Sarkozy täglich den Klassenk
ampf praktiziert, ist es nicht verwunderlich, wenn viele Menschen nach einer organisierten politischen Antwort suchen. Die PS ist stumm oder widersprüchlich, denn sie ist im Grunde mit der Reformpolitik der Rechten einverstanden. Sie kann sich also nur auf „parlamentarische Anfragen“ beschränken. Ihre Satelliten KP und Grüne verharren im Starrkrampf.

Der Aufbau einer antikapitalistischen Alternative zum Neoliberalismus der reformistischen Parteien ist heute also die zentrale Aufgabe. Sie steht im Zentrum der Debatten des Kongresses der LCR [französische Sektion der IV. Internationale], der Ende Januar stattfinden wird. Schon im Juni, nach dem Erfolg bei der Präsidentschaftswahlkampagne, haben wir einen Appell zum Aufbau einer neuen Partei herausgegeben. Das Echo ist ganz deutlich und hat sich in zahlreichen öffentlichen Versammlungen bestätigt und die Zustimmung zu [unsrem Sprecher] Olivier Besancenot ist stärker als jemals zuvor: Eine Umfrage offenbart, dass wenn es heute Präsidentschaftswahlen gäbe, eine Million Menschen mehr als im Mai für ihn stimmen würden. Die fortgeschrittenste Situation haben wir heute in der Region Mulhouse [Elsass], wo 100 AktivistInnen (ex-LO, KPF, GewerkschafterInnen, Junge und nur 20 von der LCR) sich in der „Union 68“ [68 ist die Nummer des Departements] sich auf Departement-Ebene zusammengeschlossen haben, um die neue Partei vorzubereiten…
Denn das Anliegen besteht nicht darin, einfach nur die LCR zu vergrößern, sondern eine neue Partei zu schaffen, die zahlenmäßig und qualitativ anders ist, mit einem politischen Gewicht, das es ihr erlauben wird, die Hegemonie der Sozialdemokratie in Frage zu stellen. Das Hauptproblem ist, dass zurzeit keine der anderen Organisationen dazu bereit ist, in diesen Prozess einzutreten. So hat gerade vor kurzem der Kongress von LO es abgelehnt, sich diesem Projekt anzuschließen (und hat sogar beschlossen, mit der PS zu den anstehenden Kommunalwahlen Listenverbindungen „gegen die Rechte“ zu bilden!)

Wir haben uns aber entschlossen, heute schon in diesen Prozess einzutreten, ohne von uns aus den Rhythmus oder die Formen festzulegen, die er annehmen wird, denn wir wissen, dass der Schwerpunkt der neuen Partei in der Entwicklung der Mobilisierungen und der Eigenaktivität der  Betroffenen liegt, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen: in den Gewerkschaften auf der Grundlage einer Klassenkampforientierung, in den Vereinigungen und Komitees etwa zu den Fragen des Wohnens oder der Diskriminierungen, im Rahmen von Vollversammlungen, Streikkomitees oder Nachbarschaftskomitees anlässlich von Mobilisierungen…

Aber wenn wir eine Partei aufbauen wollen, die sich auf die Proteste stützt und diese verstärkt, so kann ihre Orientierung sich nicht darauf beschränken. Die LCR hat in den letzten Jahren großen Wert auf die Entwicklung eines Sofortprogramms gelegt. Sie bemüht sich um eine ständige Aktualisierung und ist dabei bestrebt, konkrete und umfassende Antworten auf Probleme zu geben, mit denen die meisten Menschen heute konfrontiert sind: Arbeitsplatz, Kaufkraft, Lebensbedingungen, Diskriminierung, Unterdrückung, Ökologie usw. und dieses Programm benennt auch, wie es umzusetzen ist. Gleichzeitig erarbeitet die LCR ein Manifest, das sie der öffentlichen Diskussion unterbreitet hat und weiter unterbreitet und das den Weg einer umfassenden Alternative zum Kapitalismus aufzeigt, die Perspektive einer demokratischen, feministischen, ökologischen, internationalistischen sozialistischen Gesellschaft. Wir haben nicht die Absicht, der neuen Partei unser Sofortprogramm oder unser Manifest aufzuzwingen. Das ist vielmehr unser Beitrag und es wird Sache der AktivistInnen sein, die diese Organisation aufbauen, über die Grundlagen ihrer Politik zu entscheiden. Andererseits halten wir an unsrer Grundüberzeugung fest, dass der Privatbesitz an den großen Produktionsmittel in Frage gestellt werden muss, genauso wie die staatlichen Strukturen, wie wir sie heute kennen, was in der Konsequenz bedeutet, dass wir es ablehnen, uns an jeglicher nationaler staatlicher Verwaltung und ihren Institutionen zu beteiligen. Deshalb bezeichnen wir diese Partei als antikapitalistisch. In dieser Perspektive arbeiten wir jetzt am Zustandekommen einer maximalen Zahl von Listen zu den Kommunalwahlen im März.


Übersetzung D. B.

1     Jahre der Anwartschaft für den abschlagsfreien Rentenbezug; Anm. d. Übers. 

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