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Rückzug des Sozialstaats und blanke Repression

Von B.B. | 01.12.2005

Interview mit Gérard Prévost, Gemeinderat der LCR in Louviers (Haute-Normandie). Gérard ist Arbeiter und Gewerkschafter bei Renault in Cléon, wo 5500 Lohnabhängige arbeiten.

Interview mit Gérard Prévost, Gemeinderat der LCR in Louviers (Haute-Normandie). Gérard ist Arbeiter und Gewerkschafter bei Renault in Cléon, wo 5500 Lohnabhängige arbeiten.

Avanti: Wie ist die soziale Lage in den Gettos?

Gérard: Schlechte Wohnungen, wo man alles hört, was die Nachbarn machen. Viele Familien, in denen die Väter oder Großväter aus den Industriebetrieben in den 80-90er Jahren entlassen worden sind. In der letzten Zeit sind die Gelder für soziale Arbeit  brutal gestrichen worden, Postämter schließen, in den Schulen wird die Schülerzahl immer höher… . Die Jüngeren sehen überhaupt keine Berufsperspektive. Nach der Schulzeit ist nichts los, außer wohnen. Auf einem solchen Boden können auf der einen Seite die Imams, auf der anderen die Gangs gedeihen. Wenn keine Perspektive auf einen vernünftigen Job da ist, kann sich eine Dschungelmentalität  breit machen, wo nur die Macht des Stärkeren gilt. 

Avanti: Provoziert Innenminister Sakozy gezielt, um die Repression zu verstärken ?

Gérard: Als konsequenter Neoliberaler weiß er eines: wo der Sozialstaat sich zurückzieht, bleibt nur die blanke Repression nach nordamerikanischem Modell. Den Polizeikräften kommt immer mehr eine reine Repressionsfunktion  zu. Durch ständige Leibeskontrollen und Demütigungen jeder Art ist der Leidensdruck gestiegen, bis zur Explosion. In seinem Konkurrenzkampf um die Führung im rechten Lager muss Sarkozy sich auch bemühen, dem Faschisten Le Pen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Verwirrung und Tatenlosigkeit des größten Teils der sozialen und politischen Linken  hat ihm freie Bahn gelassen: am Ende der ersten Woche schon wurde unser Vorschlag zurückgewiesen, eine Sterndemo aus den Vororten in Richtung Pariser Stadtmitte mit der Forderung des Rücktritts von Sarkozy zu organisieren. Jetzt steht er vorerst als starker Mann mit großer Beliebtheit da…

Avanti: Wie steht die LCR zu den Protesten der Jugendlichen in den Vorstädten?

Gérard: Am Beispiel dieses Vorschlags sieht man, dass wir den Versuch gemacht haben, die Kräfte dieser Jugendlichen mit denen der Werktätigen zu vereinheitlichen, um einen Weg aus der sinnlosen Brandstifterei zu zeigen. So hätte man auch allen Sektoren helfen können, die vereinzelt Widerstandskämpfe führen. Jetzt bemühen wir uns, gegen den Ausnahmezustand zu agitieren, und da, wo wir dazu imstande sind, Solidarität gegen die staatliche Repression aufzubauen.

Avanti: Waren die Proteste „organisiert“?

Gérard: Weder die Banden noch die Imams haben Interesse an den Ausschreitungen gehabt: die ersten, weil die Unruhen dem Handel schaden, letztere, weil es für sie wichtig gewesen wäre, dem Staat den Beweis zu liefern, dass sie die Jugendlichen unter Kontrolle halten, wo sie gerade für ihre Anerkennung werben. Ihre Bemühungen sind bestimmt registriert worden, aber sie blieben ohne Erfolg
 
Avanti: Sehen sich die Jugendlichen als „politisch“?

Gérard: Nein, obwohl ihre Forderung, wie die anderen französischen Staatsbürger behandelt zu werden, sehr politisch ist

Avanti: Weshalb sind die revolutionären Linken kaum in den Vorstädten verankert?

Gérard: Die Versuche einer politischen Arbeit, die von uns und anderen auch gemacht wurden, haben äußerst selten positive Erfahrungen mit sich gebracht. Meistens stehen die Vereinigungen, die die sozialen Einrichtungen betreuen, unter der Kontrolle der Gemeinden. Die Leute, die man da ansprechen kann, haben oft schon so viele Probleme, dass sie keine Lust haben, derart aufzufallen, dass es die soziale Hilfe oder die Perspektive auf einen Teilzeitjob gefährden könnte, wenn man aus der Reihe tanzt. Und wer zu einem einigermaßen  anständigen Job kommt, oder erfolgreich sein Studium absolviert, der/die verlässt die „cité“ so schnell wie nur möglich. So kann man keine Kontinuität schaffen.    

Avanti: Alle „Reformen“ sind im Sande verlaufen. Was schlägt die Ligue vor?

Gérard: Ein soziales Notstandsgesetz gegen Armut und Wohnungsnot, das die aufgebrachte Jugend und die älteren Bewohner der „quartiers“ vereinheitlicht. Massive Schaffung von Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst, z.B. im Gesundheits- und  Erziehungswesen. Es ginge allen besser, wenn jede/m eine anständige Arbeit zukommen würde, bei einem Mindestlohn von 1500 €. Verbot der Entlassungen und Herabsetzung der Arbeitswoche auf 30 Stunden. Die Verwirklichung dieses Aktionsprogramm setzt  aber voraus, dass man bereit ist, sich mit Kapital und Kabinett anzulegen.

Avanti: Vielen Dank für das Interview.

Erklärung des RSB zu den  Ereignissen in Frankreich

 

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