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Linke

Rudolf Segall (1911 – 2006): Vom Zionismus zum revolutionären Marxismus

Von wa | 29.04.2006

Mit dem Tod unseres Freundes und Genossen Rudolf Segall am 19. März 2006 ist ein außergewöhnliches Leben nach fast 95 Jahren zu Ende gegangen. Die IV. Internationale und der Revolutionär Sozialistische Bund (RSB) haben einen bis ins hohe Alter sehr aktiven Mitstreiter verloren.

Mit dem Tod unseres Freundes und Genossen Rudolf Segall am 19. März 2006 ist ein außergewöhnliches Leben nach fast 95 Jahren zu Ende gegangen. Die IV. Internationale und der Revolutionär Sozialistische Bund (RSB) haben einen bis ins hohe Alter sehr aktiven Mitstreiter verloren.

Als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern erblickte Rudolf am 6. April 1911 in Berlin-Schöneberg das Licht der Welt. Sein Vater war ein wirtschaftlich sehr erfolgreicher Handelsvertreter. Seine Mutter war kurz vor der Heirat 1910 aus den Vereinigten Staaten in das deutsche Kaiserreich zurückgekehrt.
Nach dem Besuch der Vorschule ab 1917 wechselte Rudolf 1920 in ein so genanntes Realreformgymnasium über, die Treitschke-Schule. Dieser Name der Lehranstalt war Programm. Im Lehrerkollegium gehörte eine reaktionäre Gesinnung zum guten Ton.
Als einziger jüdischer Junge war Rudolf unter seinen christlichen Mitschülern sehr isoliert, obwohl er selbst ein distanziertes Verhältnis zum jüdischen Glauben hatte.
In der deutsch-jüdischen Jugendbewegung
Mit 14 Jahren schloss er sich einem deutsch-jüdischen Zweig der Wandervogelbewegung an – den „Kameraden“. Die Mitgliedschaft in dieser Gruppierung bedeutete einen wichtigen Einschnitt in seinem Leben, denn sie brachte ihm nicht nur die damalige fortschrittliche Kultur nahe. Er kam auch erstmals mit politischen Diskussionen und sozialistischen Liedern in Berührung.

Nach dem Abitur 1929 entschloss sich der Achtzehnjährige, in Berlin das Lehrerstudium mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Französisch aufzunehmen. Nach relativ kurzer Zeit wechselte er an die Hochschule in Königsberg/Ostpreußen. Neben verwandtschaftlichen Beziehungen war für diese Entscheidung das Engagement für die „Kameraden“ ausschlaggebend. Rudolf fühlte sich verpflichtet, die dort schwache Organisation zu stärken.
Die Lektüre der Autobiographie Leo Trotzkis, die 1930 in Deutschland unter dem Titel „Mein Leben“ erschienen war, beeindruckte den jungen Studenten seinem eigenen Zeugnis zufolge „außerordentlich“. Allerdings wirkte dieser Einfluss sich zunächst ausschließlich auf sein Denken und nicht sein Handeln aus.

Nach der Rückkehr in die Hauptstadt brach Rudolf 1931 das Lehrerstudium ab, weil er seine Fortführung „in diesem Deutschland“ als sinnlos angesehen hatte. Er wechselte in das Geschäft seines Vaters über und erwarb in den nächsten zwei Jahren berufliche Kenntnisse in verschiedenen Unternehmen an unterschiedlichen Orten.
In der politisch sehr zugespitzten Endphase der Weimarer Republik kam er 1932 über Freunde in Kontakt mit der oppositionellen Berliner Gruppe um Harro Schulze-Boysen und beteiligte sich eine Zeitlang an ihren Treffen. Schulze-Boysen wurde 1942 von den Nazis als einer der Köpfe der Widerstandsorganisation Rote Kapelle hingerichtet.
Von Nazi-Deutschland nach Palästina
Schon bei der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 war Rudolf klar, dass es für ihn unter einem faschistischen Regime keine Überlebenschance geben konnte. Er suchte nach einer Perspektive im Ausland und schloss sich deshalb in Berlin der sozialistisch-zionistischen Gruppe Hashomer Hazair (Der junge Wächter) an. Diese Entscheidung rettete ihn vor der Vernichtung durch die Nazi-Diktatur.
Als Mitglied des Hashomer Hazair erhielt er seine erste marxistische Prägung durch den drei Jahre jüngeren Martin Monat (Monte), der sein Freund und großes Vorbild werden sollte. Die Gestapo ermordete Martin Monat 1944 in Frankreich wegen revolutionärer Untergrundarbeit für die IV. Internationale.
Ab 1934 nahm Rudolf an einer mehrere Monate dauernden Hachshara (Vorbereitung) in Dänemark teil. Unter der Leitung von Martin Monat bereitete er sich mit anderen jungen Menschen der Gruppe politisch und beruflich auf die Landarbeit im Kibbuz vor. 1935 gelang es ihm und seiner damaligen Frau Bella, nach Palästina zu emigrieren.
Am Wendepunkt
Von 1935 bis 1939 lebte und arbeitete Rudolf im Kibbuz Bamifne (Am Wendepunkt). In dieser sich als egalitär verstehenden Gemeinschaft lernte er unter anderem auch Jakob Moneta kennen.
Für Rudolf war schon bald der Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Ideal der Kibbuzim und der gewalttätigen zionistischen Kolonisation unerträglich geworden. Durch die Abkehr vom Hashomer Hazair und den Beitritt zur 1938 gegründeten IV. Internationale löste er diesen Widerspruch. Es war dies die Zeit, die er im Rückblick als die entscheidende Phase in seinem politischen und persönlichen Leben angesehen hat.
Noch im Kibbuz schloss sich Rudolf ab 1936/37 einem Diskussionszirkel um Martin Monats alten Freund und Genossen Paul Ehrlich an. Dieser Kreis setzte sich nicht nur mit dem Palästina-Konflikt, sondern auch mit dem Inhalt von Trotzkis Schriften und von Unser Wort, der Zeitung der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD), auseinander. In dieser Zeit entstand der Kontakt zu der revolutionär-kommunistischen Gruppe um den Elektriker Ali Frölich in Haifa. Nach dem Austritt aus dem Kibbuz im Jahre 1939 konnte Rudolf dieser Organisation – und damit der IV. Internationale – offiziell beitreten. Das unbedingte Ziel der Frölich-Gruppe war die Rückkehr nach Europa und nach Deutschland, in das vermeintliche Zentrum der erhofften sozialistischen Nachkriegsrevolution.
In der Zeit vor der Abreise aus Palästina verdingte sich Rudolf unter anderem als Hafen- und als Landarbeiter. Auch als Krankenpfleger im jüdischen Hospital von Haifa war er tätig, wurde aber wegen der Beteiligung an einem Streik entlassen.

Über Ägypten gelang es Rudolf 1945, nach Griechenland auszureisen. Dort arbeitete er zwei Jahre aktiv für eine jüdische Hilfsorganisation und war für die dortige Sektion der IV. Internationale.
1947 konnte er endlich über Frankreich wieder nach Deutschland zurückkehren. In Paris hatte er zuvor das damalige Führungstrio der IV. Internationale in Europa kennen gelernt – Michel Pablo (Raptis), Ernest Mandel, Livio Maitan – und war mit Kontaktadressen versehen worden.
Nur eine winzige Gruppe von Genossinnen und Genossen der IKD um Georg Jungclas (Schorsch) hatte die faschistische Diktatur, das Exil, den stalinistischen Terror und den Krieg überlebt. Mit ihnen baute er die deutsche Sektion neu auf, obwohl der Traum von der Revolution in Deutschland damals schon längst für lange Jahre ausgeträumt war.
Revolutionär in nichtrevolutionären Zeiten
In Süddeutschland lernte er bei Georg Jungclas seine große Liebe Ingeborg Escher (Inge) kennen. Sie heiratete Rudolf 1950 und lebte bis zu ihrem Tod 1996 mit ihm in Frankfurt am Main zusammen.
Nach verschiedenen anderen beruflichen Stationen wurde Rudolf 1952 als hauptamtlicher Bezirkssekretär für die damals linke Industriegewerkschaft Chemie in Hessen eingestellt.
22 Jahre lang – bis 1974 – war er in dieser Funktion tätig, obwohl er von stalinistischen Kreisen als „Trotzkist“ beim Hauptvorstand der Gewerkschaft denunziert worden war.

Rudolf wurde unter dem bezeichnenden Kampfnamen Monte bis in die 70er Jahre immer wieder in die Leitung der Sektion, das Zentralkomitee, gewählt. Im Jahr 1953 begann die Organisation mit der Politik des „Entrismus“ in der SPD. Rudi trat dem sozialdemokratischen Ortsverein in Frankfurt-Ginnheim bei. Unter dem Pseudonym Anton Hessler gehörte er auch der Redaktion der de facto entristischen Zeitschrift Sozialistische Politik (SOPO) an, die von 1954 bis 1966 erschienen ist.

Die Jahre 1966 bis 1969 bedeuteten mit dem Aufkommen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) einen tiefen Einschnitt in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Das wirkte sich auch auf die Sektion aus. Die Gründung der Gruppe Internationale Marxisten (GIM) 1969 symbolisierte nicht nur das Ende des „Entrismus“ und die Orientierung auf die radikale Jugendbewegung. Durch diese Entwicklung sahen sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bald viele Mitglieder der „alten Generation“ an den Rand gedrängt. Zu diesem Kreis zählten auch Rudolf und der gleichaltrige Willy Boepple.

Rudolf begann in den 70er Jahren seine intensive Mitarbeit beim neu gegründeten ISP-Verlag der GIM. Rund drei Jahrzehnte wirkte er nicht nur im editorischen Bereich für die Übersetzung und Veröffentlichung revolutionär-marxistischer Literatur. Neben der Herausgabe von Pierre Franks Werk „Geschichte der Kommunistischen Internationale“ ist hier vor allem sein Einsatz für die Edition der Schriften Leo Trotzkis durch Helmut Dahmer zu nennen. Rudolf widmete sich auch der Erforschung der Geschichte der revolutionär-marxistischen Bewegung, und es ist nicht sein geringstes Verdienst, dass er zur Aufklärung des Stasi-Mordes an dem Genossen Wolfgang Salus beigetragen hat.

Rudolf unterstützte 1986 die Vereinigung von GIM und KPD zur Vereinigten Sozialistischen Partei. Der Zusammenbruch des Stalinismus in der DDR 1989 besiegelte das endgültige Scheitern der VSP. Ohne zu zögern schloss sich Rudolf dem 1994 gegründeten RSB an. Sein Einsatz für den RSB hinderte ihn nicht daran, auch einen zeitlich begrenzten Ausflug in die Gefilde der Frankfurter PDS zu unternehmen.
Bis kurz vor seinem Tod engagierte sich Rudi, wie wir ihn nannten, unerschütterlich für die Stärkung der internationalen ArbeiterInnenbewegung und für die Überwindung des unmenschlichen Kapitalismus. Denn, wie er es einmal ausdrückte: „Es kann so nicht bleiben, wie es ist.“ 

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