Reproduktionsrechte vs. (Lebens-)Rechte behinderter Menschen ?
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Frauenrevolte in Polen

Reproduktionsrechte vs. (Lebens-)Rechte behinderter Menschen ?

Von Nora Bräcklein | 07.01.2021

Zur unreflektierten Konstruktion eines vermeintlichen Widerspruchs.

Seitdem das polnische Verfassungsgericht am 22. Oktober 2020 entschieden hat, das restriktive Gesetz zu Schwangerschaftsabbrüchen sei rechtswidrig, weil nicht restriktiv genug, empören sich insbesondere junge Frauen, aber auch viele andere Menschen, in Polen und international. Die Proteste nahmen ein derartiges Ausmaß an, dass u.a. auch auf dieser Seite von einer Revolte einer neuen Generation oder vom Beginn einer Kulturrevolution geschrieben wurde[1]. Was ermutigend und empowernd wirkt, ist bei genauerem Hinsehen mindestens in schreiende Widersprüche verwickelt: Auslöser der Proteste ist nicht einfach eine allgemeine Einschränkung des ohnehin schon faktisch nicht vorhandenen Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche. Auslöser ist, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht mehr möglich sein soll, „auch wenn die pränatale Diagnostik oder andere medizinische Sachverhalte eine hohe Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Schädigung des Fötus oder einer unheilbaren lebensbedrohlichen Krankheit nahelegen“.

Die zentrale Rolle von Schwangerschaftsabbrüchen in der polnischen Politik

Das polnische Verfassungsgericht urteilte am 22. Oktober, dass ein Schwangerschaftsabbruch, der aufgrund einer Schädigung des Fötus erfolgt, dem „Schutz des Lebens“ widerspreche und damit verfassungswidrig sei. Die heftige Reaktion der Bevölkerung darauf kam gerade inmitten der Pandemie für viele überraschend. In Folge der Urteilsverkündung verliehen insbesondere junge Menschen ihrer Wut in den größten Demonstrationen der letzten Jahre Ausdruck. Auch in vielen Kleinstädten und Dörfern gingen Menschen auf die Straße.

In Polen sind Schwangerschaftsabbrüche seit Jahrzehnten Gegenstand heftiger Debatten und sozialer Kämpfe. Nach dem Untergang der Volksrepublik Polen 1989 gingen der Staat und die Kirche in eine enge Zusammenarbeit zur Befriedung der sozialen Unzufriedenheit, zur Stabilisierung der Transformation hin zur neoliberalen Marktwirtschaft und dem EU-Beitritt. Der Kirche wurde im Gegenzug ein Monopol auf Wert- und damit insbesondere Familien- und Reproduktionsfragen zugestanden. Das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen stellte für die Kirche eine zentrale Bedingung für die Zusammenarbeit mit dem Staat dar. Daran wurde seitdem nicht gerüttelt und Frauen erfuhren immer wieder auf verschiedenen Ebenen, dass sie über ihren eigenen Körper und ihr Leben nicht entscheiden dürfen. Ihr Widerstand wurde heruntergespielt oder ins Lächerliche gezogen. Bei den Auseinandersetzungen um das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche geht es also auch um die Macht der Kirche und des Staates und in diesem Fall auch der immer unzertrennlicher mit diesen verbundenen polnischen Justiz auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau und andere gesellschaftliche Bereiche und Prozesse[2].

Für noch eine weitere Gruppe aber stellen Schwangerschaftsabbrüche einen zentralen, buchstäblich lebenswichtigen Streitpunkt dar: Das Leben behinderter Menschen wird durch die pränatale Diagnostik und die damit verbundenen Möglichkeiten der Abtreibung von Föten mit einer Schädigung oder Normabweichung in Frage gestellt und bedroht. Zumindest in der deutschsprachigen Berichterstattung über die Frauenaufstände in Polen wird diese Position aber kaum beachtet[3]. Vielmehr erscheint es so, als sei es unhinterfragte Tatsache, dass die Schädigung eines Fötus einen Schwangerschaftsabbruch legitimiert. Dabei geht es immer um das Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, so gut wie nie aber um das uneingeschränkte Lebensrecht behinderter Menschen: das sich entwickelnde Leben unter den erschwerten Bedingungen einer körperlichen Schädigung wird dabei Infrage gestellt und dadurch automatisch auch das Lebensrecht aller behinderten Menschen.

Biologisierung von Behinderung

Der Begriff der „irreversiblen Schädigungen“, die nun kein legitimer Grund mehr für einen Schwangerschaftsabbruch sein sollen, wird in den Texten über das Urteil des Verfassungsgerichts und die Proteste dagegen unkritisch übernommen. Ins Französische und Englische wird der gleiche Begriff teilweise mit „irreparable“ übersetzt. Unabhängig davon, ob nun „irreversibel“ oder „irreparabel“ die treffendere Übersetzung aus dem Polnischen ist, manifestiert sich in der unkritischen Übernahme des Begriffs ein Problem, das sich durch die Texte hindurch zieht. An dem Begriff der „irreparablen Schädigung“ wird es besonders deutlich: Als ginge es bei einem Fötus mit körperlicher Schädigung um eine Feststellung vergleichbar mit derjenigen, ob ein Auto einen reparablen Blechschaden oder einen irreparablen Totalschaden hat; ob ihm also „neues Leben“ gegeben wird oder es entsorgt werden muss. Menschen sind aber keine Autos oder andere Objekte, sie werden in einem gesellschaftlichen Prozess verdinglicht, also zu Objekten gemacht.

Was in der sozialistischen Auseinandersetzung mit Unterdrückungsverhältnissen und dem Menschen generell eigentlich Konsens ist, wird in der Auseinandersetzung mit dem Unterdrückungsverhältnis Behinderung völlig außer Acht gelassen: Menschen entwickeln sich in einem dialektischen Sozialisationsprozess. Die körperliche Schädigung, ob schon im Mutterleib oder später erworben, stellt nur die eine Seite dieses Prozesses dar und ist, wenn überhaupt, nur im ersten Moment ihres Eintretens rein biologisch und unabhängig von äußeren Einflüssen. Die sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen der menschlichen Entwicklung wirken schon vor der Geburt auf die Entwicklung des Gehirns. Zu den Einflussfaktoren zählen u.a. die Ernährung der Mutter und ihr emotionales Befinden wie Stress und Sorge angesichts der bevorstehenden Veränderungen, Herausforderungen und Schwierigkeiten oder aber ihre Freude und Gelassenheit, weil sie sich sozial und gesellschaftlich sicher aufgehoben und unterstützt weiß. Schon die Entwicklung eines Fötus kann also nicht unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden, geschweige denn die Entwicklung und die Lebensbedingungen eines bereits geborenen Kindes.

Auch die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kindes mit einer sehr schweren Schädigung sind sozial und gesellschaftlich bedingt. Wolfgang Jantzen legt u.a. in seinem letzten Buch „Geschichte, Pädagogik und Psychologie der geistigen Behinderung“ dar, wie beispielsweise die Entwicklung eines Menschen mit einer Anenzephalie (die bereits in der Schwangerschaft festgestellt werden kann) vom sozialen Umfeld abhängt. Anenzephalie bezeichnet eine Fehlbildung des zentralen Nervensystems, bei der Teile des Gehirns fehlen. Fehlen dabei auch Knochen des Schädeldaches, haben die Kinder eine Lebenserwartung von wenigen Tagen bis Wochen nach der Geburt. Ist der Schädel geschlossen, können sie mehrere Jahre oder Jahrzehnte alt werden. Jantzen beschreibt, wie die Entwicklung von Menschen mit Anenzephalie in hohem Maße von ihrem sozialen Umfeld abhängt. Bei einer guten Bindung, die dem anenzephalischen Menschen Kommunikation ermöglicht, können einige sogar Ansätze von Sprache entwickeln, mindestens aber in wechselseitigen Kontakt mit ihrer Umwelt treten. So können sie sich das gesellschaftliche Erbe der menschlichen Geschichte auf ihre Weise aneignen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch darauf wirken, sind also Teil der menschlichen Gemeinschaft und haben teil an der menschlichen Gesellschaft. Zudem hängt die Frage der Lebenserwartung bekanntlich auch von medizinischen Möglichkeiten ab. Wenn aber von Anfang an davon ausgegangen wird, dass bestimmte Föten und Neugeborene nicht lange überleben können, kann das einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleichkommen. Föten werden abgetrieben und für Neugeborene, die ohnehin sterben (sollen), werden keine medizinischen Behandlungen entwickelt und angewandt, die ihnen ein längeres Leben ermöglichen könnten. Ähnliches geschieht auch, wenn behauptet wird, ein Mensch könne nicht kommunizieren: Mit ihm wird wohl kaum jemand versuchen, wechselseitige Interaktion aufzubauen, obwohl gerade dieser Mensch vermutlich besonders intensive Kommunikationsangebote braucht. Kein Mensch ist also einfach behindert, sondern er wird es im Zusammenwirken seiner eigenen Voraussetzungen mit einem geschädigten Körper mit seinem sozialen Umfeld.

Verhinderung vermeidbaren Leids?

Die Autor*innen der Berichte über die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts und die darauffolgenden Proteste verfallen jedoch in einen Biologismus, der Behinderung als eine ahistorische Tatsache annimmt, anstatt ihre gesellschaftliche Bedingtheit zu berücksichtigen. Nachdem die gesellschaftliche Bedingtheit jeden menschlichen Lebens verneint und der behinderte Körper biologisiert wurde, lassen nun einige Autor*innen das Schreckgespenst einer Schwangerschaft mit einem schwer geschädigten Fötus entstehen: J.D. und Z.R. sprechen von der „unvorstellbare[n] Qual ein Kind zu gebären, von dem die Mutter bereits weiß, dass es tot ist oder nicht länger als einige Wochen leben wird“[4], Teresa Jakubowska bezeichnet dies sogar als einen Verstoß gegen das Folterverbot[5]. Es steht außer Frage: einen toten Fötus bis zum errechneten Geburtstermin austragen zu müssen, um ihm dann noch einen Namen geben und ihn taufen zu können (wie Jarosław Kaczyński, Präsident der polnischen Regierungspartei PiS, argumentiert), kommt tatsächlich Folter gleich und darf unter keinen Umständen von einer Frau verlangt werden. Auch einen Fötus mit schwerer Schädigung in sich zu tragen, bedeutet ohne Zweifel viel Leid und Sorgen im Bangen um das Leben des Kindes und mit der Unsicherheit, was das für das zukünftige Leben insbesondere der Mutter bedeutet. Ganz abgesehen davon, dass sich nicht voraussagen lässt, wie lange ein Fötus, ein Neugeborenes, ein Kind oder auch ein erwachsener Mensch leben wird, können und dürfen wir aber auch ein kurzes Leben nicht für lebensunwert erklären. Wolfgang Jantzen beschreibt in seiner Darlegung der Entwicklungsmöglichkeiten bei einer Anenzephalie die warme, wechselseitige Interaktion einer seiner Studentinnen mit der anenzephalischen Frau Rosario. Wenige Wochen nach dieser Interaktion stirbt Frau Rosario, mit der eine Verständigung laut amtsrichterlichem Befund nicht möglich war, im Alter von 26 Jahren. War ihr Leben lebensunwert? Oder wäre es lebensunwert gewesen, hätte sich die beschriebene Situation wenige Stunden oder Tage nach ihrer Geburt ereignet und wäre sie kurz darauf gestorben?

Ich möchte nicht leugnen oder vertuschen, dass das Leben mit einer körperlichen Schädigung ein Leben unter erschwerten Bedingungen bedeutet. Das zu leugnen, würde behinderte Menschen und ihre schmerzlichen Erfahrungen missachten. Behindertes Leben aber auf dieses Leiden zu reduzieren, kommt einer mindestens genauso großen Missachtung gleich und ist gleichzeitig Teil in der Entstehung des erfahrenen Leids. In vielen Fällen scheint mir ein Leid angenommen zu werden, das mehr mit den Vorstellungen der beobachtenden Person zu tun hat, die das Leiden „feststellt“, als mit dem Erleben der behinderten Person, die unter dem „vernichtenden, selektiven Blick“[6] und dem Mitleid mindestens genauso leidet, wie unter der körperlichen Schädigung.

In der Empörung über die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts spielt zumindest in den deutschsprachigen Medien die Perspektive behinderter Menschen keine Rolle. Es geht hier ausschließlich um das Leid der Mutter. Dadurch scheint es den Autor*innen wie selbstverständlich legitim zu sein, sich in den Bereich der sehr gefährlichen Abwägung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu begeben. Ich möchte nicht negieren, dass die Geburt eines Kindes mit geringer Lebenserwartung für die Mutter und andere nahe Personen großes Leid bedeutet. Ich möchte aber auch stark bezweifeln, dass es einer Mutter gut damit geht, wenn sie sich entscheiden muss, ob sie ihrem Fötus die Möglichkeit offen hält, sich weiterhin im Rahmen seiner Möglichkeiten zu entwickeln und zu leben, oder ob sie ihm diese Möglichkeit aktiv nimmt und seiner Entwicklung ein Ende setzt, sich für seine Tötung entscheidet (die je nach Schwangerschaftswoche aktiv vorgenommen oder der Fötus nach der Abtreibung zum Sterben liegengelassen werden muss).

Von der gesellschaftlichen Verantwortung zur individuellen

Auch hier könnte noch mit der Freiheit der Mutter argumentiert werden, mit ihrer Selbstbestimmung über ihren Körper. Mit der Entscheidung, ob sie einen geschädigten Fötus austrägt, wird allerdings eine gesellschaftliche Aufgabe zur individuellen Frage der Frau gemacht: Wie gehen wir mit Behinderung um und wie leben wir mit behinderten Menschen zusammen – oder auch nicht? In Bezug auf die Rechtmäßigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen stellt sich nicht vordergründig die Frage nach individuellen Entscheidungen von Müttern, die ein Kind mit körperlicher Schädigung erwarten, wobei diese Entscheidungen immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind und auf diesen zurückwirken, also nie einfach nur „individuell“ sind. Primär aber geht es um die rechtliche Regelung und die sozialen Maßnahmen, die die Rechte und Interessen sowohl von Frauen als auch von behinderten Menschen zu schützen und durchzusetzen vermögen. Die Frage nach der Abtreibung behinderter Föten ist keine persönliche, sondern eine gesellschaftliche Frage. Im Zusammenleben der Menschen endet die persönliche Freiheit da, wo die Freiheit eines anderen eingeschränkt wird.

Indem die Entscheidung darüber, ob sie einen Fötus mit körperlicher Schädigung austrägt und ein behindertes Kind großzieht, der Frau übertragen wird, wird ihr aber auch die individuelle Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung übertragen: entweder für die körperlichen wie psychischen Folgen einer späten Abtreibung oder für die Sorge für ein behindertes Kind. Frauen, die ein behindertes Kind austragen, gebären und großziehen, werden in ihrem Umfeld immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob das denn habe sein müssen (zumindest Mütter in Deutschland berichten das, aber sicher nicht nur hier). Behinderung ist dann keine Facette menschlichen Lebens mehr, sondern vermeidbares Übel – für die Gesellschaft, nicht für den behinderten Menschen, denn die Alternative wäre ja gewesen, dass er gar nicht hätte leben dürfen. Indem der Frau die Entscheidung für oder gegen ein behindertes Kind überlassen wird, entzieht sich die Gesellschaft auch zusehends der Verantwortung für behinderte Menschen. Wir können also das unbedingte Lebensrecht behinderter Menschen nicht in eine Zukunft verschieben, in der alle Menschen in einer solidarischen Gesellschaft als Freie und Gleiche einander unterstützend zusammenleben. Vielmehr hängt unser Weg zu dieser Gesellschaft auch davon ab, wie wir mit Menschen umgehen, die mehr Unterstützung benötigen als andere. Sobald wir anfangen, das Lebensrecht einer Gruppe von Menschen einzuschränken, ziehen wir uns automatisch aus der Verantwortung für diese Gruppe zurück.

Wie sehr die Bewertung der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts von der Bewertung von Behinderung bestimmt wird, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: In Indien werden jährlich tausende weibliche Föten abgetrieben und weibliche Neugeborene getötet[7]. Die Geburt einer Tochter bedeutet für Eltern in Indien eine langfristige ökonomische Belastung durch eine teure Mitgift und da Töchter im Gegensatz zu Söhnen nicht für die Altersvorsoge der eigenen Eltern verantwortlich gemacht werden. Für die Abtreibung oder Tötung weiblicher Föten und Säuglinge gibt es also durchaus ökonomische und teils existenzielle Gründe, die mit der gesellschaftlichen Verachtung von Frauen einhergehen. Dennoch ist kaum vorstellbar, dass mit einer vergleichbaren Vehemenz und Empörung für deren rechtliche Legitimität gestritten wird. Stattdessen dürfte hier ein breiterer linker Konsens herrschen, dass das Streiten für das Lebensrecht von Mädchen mit dem Kampf gegen ihre Unterdrückung und die Benachteiligung von Eltern durch die Geburt einer Tochter einhergehen muss und dass das Lebensrecht der Mädchen nicht so lange warten kann, bis die gesellschaftliche Gleichheit erreicht ist (die sich bei eingeschränktem Lebensrecht auch schwer erreichen ließe).

Bei all den hier entwickelten Überlegungen muss außerdem beachtet werden, dass die meisten Behinderungen erst während oder nach der Geburt entstehen oder festgestellt werden. Wenn werdende Eltern sich bei dem Gedanken überfordert fühlen, ein behindertes Kind großzuziehen, ist das nachvollziehbar, insbesondere da die meisten werdenden Eltern nie Kontakt mit behinderten Menschen hatten. Wer sich aber dafür entscheidet, eigene Kinder zu bekommen, kann sich dabei nicht für bestimmte Merkmale des Kindes entscheiden (zumindest noch nicht und die Aussicht darauf, dass sich das ändern könnte, muss bei uns mehr Angst als Hoffnung auslösen) und damit auch nicht für seine körperlichen und geistigen Voraussetzungen. Mit der Pränataldiagnostik mag die Entscheidung gegen Kinder mit einigen körperlichen Voraussetzungen möglich sein. Doch wer sich auf eigene Kinder einlässt, lässt sich damit auf Unsicherheiten und immer neue Herausforderungen ein. Ein Faktor dabei ist eine mögliche Schädigung, auf die wir aber in den meisten Fällen ohnehin keinen oder nur geringen Einfluss haben. Darauf aber, wie behindernd diese Schädigung auf das Kind und auf die Eltern wirkt, hat das Umfeld des Kindes und die Gesellschaft als Ganze großen Einfluss.

Eugenische Motive oder sozialer Zwang?

J. D. und Z. R. zeigen sich schockiert davon, dass Vertreter der Kirche, der Politik und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens der Abtreibung von Föten mit Schädigungen „eugenische Motive“ unterstellen. Was an dieser Unterstellung falsch und schockierend ist, schreiben sie nicht. Der Kontext, in dem Geistliche und Rechte diesen Vorwurf erheben, ist abstoßend: Sie wollen die Herrschaft der Kirche über die Bevölkerung und des Mannes über die Frau sichern. Sie sprechen der Frau die selbstbestimmte Reproduktion ab, indem sie sich für den „Schutz des Lebens“ aussprechen – den Schutz des ungeborenen Lebens wohlgemerkt, nicht den Schutz (bzw. zunächst die Ermöglichung) des würdigen Lebens der bereits geborenen Kinder und Erwachsenen.

Die Kritik an der Kirche und der herrschenden Politik ist mehr als berechtigt und dringend nötig. Sie darf aber nicht darin bestehen, einfach alles umzudrehen, was ihre Vertreter*innen propagieren: „Sie wollen, dass kein Kind mehr abgetrieben werden darf, also fordern wir, dass zumindest geschädigte Föten kein unbedingtes Recht auf Leben haben dürfen“. Stattdessen muss die Beschränktheit ihrer reaktionären Einstellungen hervorgehoben werden. Die Verleumdung besteht nicht darin, dass Frauen unterstellt wird, sie wollten keine Kinder mit Schädigungen gebären. Die Verleumdung besteht darin, dass ununterbrochen vom „Schutz des Lebens“ schwadroniert wird, die Verantwortung dafür aber den einzelnen Frauen aufgebürdet wird, anstatt die gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen, in denen Kinder und ihre Nächsten ein gutes Leben führen können.

Selbstbestimmte Reproduktion als gesellschaftliche Aufgabe

Zu diesen Bedingungen gehört auch die Selbstbestimmung in der Reproduktion. Diese Selbstbestimmung bedeutet einerseits, sich dagegen entscheiden zu können, Kinder auszutragen und zu gebären, u.a. durch niedrigschwelligen und kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln und Informationen darüber. Das beinhaltet auch die Entwicklung von Verhütungsmethoden, bei denen nicht die Frauen durch das Einnehmen von Hormonen oder andere Eingriffe in den Körper die alleinige Last tragen. Auch der Abbruch von Schwangerschaften muss bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche möglich sein. Dabei darf aber kein Unterschied gemacht werden in Abhängigkeit von den körperlichen Voraussetzungen des Fötus, keine Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben vorgenommen werden. Eine spätere Abtreibung darf nur möglich sein, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter ernsthaft gefährdet ist.  

Um auf das Folterverbot zurückzukommen, auf das Teresa Jakubowska verweist: Einen Fötus mit einer körperlichen Schädigung ins Leben zu begleiten ist an sich keine Folter. Es wird dann zur Folter, wenn eine Frau sich entscheiden muss, ob sie dieses Kind, das sie eigentlich austragen und begleiten will, abtreibt, oder ob sie sich auf das Leben mit dem behinderten Kind einlässt, in dem sie große Gefahr läuft, alleingelassen zu werden. Selbstbestimmte Reproduktion bedeutet damit nicht nur, sich gegen das Leben mit eigenen (leiblichen) Kindern entscheiden zu können, sondern auch, sich dafür entscheiden zu können – in dem Wissen, dass es einem selbst und den Kindern gut gehen kann in einer Gesellschaft, in der Kinder nicht das Armutsrisiko der Familie erhöhen; in einer Gesellschaft, in der gemeinschaftlich Verantwortung für Kinder übernommen wird, aber auch für Erwachsene insbesondere dann, wenn sie mehr Begleitung, Unterstützung und Pflege benötigen. Für (werdende) Mütter und Familien mit Kindern muss es umfassende medizinische und soziale Unterstützung vor, während und nach der Schwangerschaft geben, finanzielle Absicherung nicht nur des Überlebens sondern des vollen Lebens, Betreuungsangebote für behinderte und nicht-behinderte Kinder, aber auch gemeinschaftliche und selbstbestimmte Wohn-, Arbeits- und Lebensmöglichkeiten für behinderte Menschen mit entsprechender finanzieller Absicherung.

In einer solchen Gesellschaft, in der Menschen gemeinschaftlich miteinander leben, sinkt auch die Angst vor Behinderung, da sie kein fremdes Phantom bleibt, sondern bekannter Teil des gesellschaftlichen Lebens wird. Solange die Exklusion behinderter Menschen fortbesteht, existiert die Angst auch fort. Sie resultiert eher aus den fehlenden Erfahrungen mit behinderten Menschen als aus Begegnungen (so wie auch in Regionen mit wenigen Migrant*innen die Angst vor ihnen und Abwehr gegen sie häufig am größten ist). So fordert die Behindertenbewegung ebenso wie Initiativen von Eltern behinderter Kinder die Überwindung der Exklusion behinderter Menschen: sowohl die Überwindung der extremsten Form der Exklusion vom Leben an sich durch die „Euthanasie“[8], als auch die Überwindung der Exklusion von Bildung, Arbeit, Kultur und allem, was das gesellschaftliche Leben ausmacht. Wenn es auch noch kaum vorstellbar erscheint, dass es in absehbarer Zukunft gelingt, eine Gesellschaft aufzubauen, in der Menschen unabhängig von ihrem Nettoertragswert zusammenleben, können in Bezug auf gemeinsames Wohnen, Leben und Arbeiten doch einzelne Verbesserungen erzielt werden, ohne die Vision von einer grundlegend anderen Gesellschaft und den Kampf dafür aufzugeben. Eine Bewegung, die das verstanden hat, tritt automatisch für Frauen und für behinderte Menschen ein (was schließlich auch keine einander ausschließenden Unterdrückungserfahrungen sind), da sich weder ihre Unterdrückung noch ihre Emanzipation voneinander trennen lassen. Daran können nur alle Menschen mit oder ohne Kinder oder Kinderwunsch, behindert oder nicht-behindert gewinnen.

Für den Umgang mit der Frauenrevolte in Polen bedeutet diese Einsicht, sich mit den Protesten solidarisch zu zeigen, ohne das Narrativ zu übernehmen, das sich über den Schrecken der Schwangerschaft mit einem geschädigten Fötus verbreitet hat. Auch die Initiative Ogólnopolski Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) hat Forderungen gegen den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und für die Unterstützung behinderter Menschen aufgestellt.


[1] J. D. und Z. R.: Proteste nach Angriff auf Reproduktionsrechte (https://intersoz.org/proteste-nach-angriff-auf-reproduktionsrechte/,  29.12.2020), sowie vom Büro der IV. Internationale: Der Beginn einer Kulturrevolution in Polen (https://intersoz.org/der-beginn-einer-kulturrevolution-in-polen/, 01.12.2020)

[2] Einen guten Überblick über die Hintergründe der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche in Polen sowie eine Bewertung der Aufstände vom Oktober und November gibt Agnieszka Graff in ihrem Artikel „How young people broke the Grand Compromise with the Church“ (https://internationalviewpoint.org/spip.php?article6935#nb).

[3] Die Gedanken und Argumentationen, die ich hier entwickle, beziehen sich größtenteils auf die deutsche Berichterstattung, teilweise auf die englische. Zu der Dynamik der Proteste in Polen habe ich so nur sehr eingeschränkten Zugang. Deswegen geht es mir in diesem Artikel hauptsächlich um den Umgang mit den Aufständen in deutschen und insbesondere sozialistischen Medien sowie im Allgemeineren um die Frage zum Verhältnis von Reproduktionsrechten und Rechten behinderter Menschen.

[4] J. D. und Z. R. (29.12.2020; polnisches Original 08.11.2020): Proteste nach Angriff auf Reproduktionsrechte (https://intersoz.org/proteste-nach-angriff-auf-reproduktionsrechte/)

[5] Teresa Jakubowska (12/2020): Aufruhr in Polen. Die große Rebellion der Frauen (https://www.sozonline.de/2020/12/polen/)

[6] Didi Danquardt produzierte 1991 den Film „Der Pannwitzblick“ zu dem vernichtenden Blick auf behinderte Menschen, mit dem er gemeinsam mit mehreren Aktiven der Behindertenbewegung auf die Kontinuität von der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ in der „Euthanasie“ der Nazis zum Ausschluss behinderter Menschen aus der Gesellschaft bis zur Zeit der Produktion des Films hinweist (https://www.youtube.com/watch?v=oxKw4Yf-11I). Bis heute aktuelle Hintergründe und weiterführende Überlegungen sind auch nachzulesen in Udo Siercks und Didi Danquarts (Hrsg.) Buch „Der Pannwitzblick. Wie Gewalt gegen Behinderte entsteht“ (1993).

[7] Auch in der sogenannten Euthanasie-Debatte wird die Tötung Neugeborener keinesfalls ausgeschlossen. Dazu lohnt es sich, sich mit dem Widerstand der Behindertenbewegung gegen Auftritte des utilitaristischen „Tierrechtlers“ Peter Singer in den 1980er Jahren auseinanderzusetzen, der für die Tötung behinderter Neugeborener eintritt.

[8] Der Begriff der „Euthanasie“ (wörtlich „schöner Tod“) verleiht der unmenschlichen, grausamen Tötung behinderter Menschen einen humanen Anstrich. In Ermangelung eines anderen Begriffs und aufgrund der Verbreitung und relativ allgemeinen Verständlichkeit dieses Begriffs verwende ich ihn hier in Anführungszeichen.

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