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Länder

Reinkarnieren und Reinkarnieren lassen

Von Harry Tuttle | 01.05.2008

Mit gleichermaßen dubiosen Ansprüchen streiten die chinesische Regierung und der Dalai Lama über Tibet. Einst aber haben sie das Gebiet gemeinsam beherrscht. Propagandakriege folgen selten den Gesetzen der Logik. Die chinesische Regierung betreibt 50 Institute für Tibetologie, finanziert tibetische Folkloregruppen und versucht auch sonst alles, um die vor allem im Westen verbreitete Romantisierung der kargen Hochlandregion zu nutzen. Die einheitliche Botschaft der chinesischen Tibetologie:

Mit gleichermaßen dubiosen Ansprüchen streiten die chinesische Regierung und der Dalai Lama über Tibet. Einst aber haben sie das Gebiet gemeinsam beherrscht.

Propagandakriege folgen selten den Gesetzen der Logik. Die chinesische Regierung betreibt 50 Institute für Tibetologie, finanziert tibetische Folkloregruppen und versucht auch sonst alles, um die vor allem im Westen verbreitete Romantisierung der kargen Hochlandregion zu nutzen. Die einheitliche Botschaft der chinesischen Tibetologie: Die buddhistischen Klöster florieren, der Wohlstand wächst und Tibet gehört seit 700 Jahren zu China, was nur von wenigen Extremisten der „Dalai-Clique“ bezweifelt wird.

Dass die Zufriedenheit der TibeterInnen, insbesondere der Mönche, so groß nicht sein kann, bewies der Aufstand im März. Auch die historischen Ansprüche sind fragwürdig, denn Kaiser Thogan Themur, dessen Tibet betreffende Dekrete aus dem Jahr 1362 als Beleg für die chinesische Herrschaft angeführt werden, war ein Mongolenherrscher, der China erobert hatte. Eigentlich könnte die mongolische Regierung daher fordern, dass der chinesische Staat sich auflöst und ihr sein Territorium unterstellt.

Doch auch die vom Dalai Lama formulierten Ansprüche sind dubios. Zwar distanziert er sich von der Feudalherrschaft der Mönchstheokratie über Tibet. Welche Rolle er zu spielen gedenkt, wenn er seine Ziele durchsetzen kann, und was er unter Autonomie versteht, verrät er jedoch nicht. Dass er „die Tibeter“ repräsentiert, gilt ihm und seinen Fans als selbstverständlich. Unter der chinesischen Diktatur lässt sich jedoch nicht feststellen, wie groß die Verehrung für den Dalai Lama tatsächlich ist.
Wellness-Spiritualität und Ethnoromantik
Eine „echte Autonomie“ fordert er auch für angrenzenden Provinzen Qinghai, Sechuan, Gansu und Yünnan. Nur etwa die Hälfte der Bevölkerung in diesem „Ost-Tibet“ sind TibeterInnen, die Frage, ob die anderen zu seinem Tibet gehören wollen, scheint „Seine Heiligkeit“ nicht zu kümmern. Überdies zeugt es weder von buddhistischer Bescheidenheit noch von realpolitischem Scharfsinn, für kaum mehr als fünf Millionen TibeterInnen, weniger als 0,5 % der Bevölkerung Chinas, gleich ein Viertel des Staatsgebiets zu fordern.

Den Propagandakrieg hat der Dalai Lama dennoch gewonnen, vielleicht gerade weil er es vermeidet, etwas anderes als wohlklingende Phrasen von sich zu geben. Mit Kalendersprüchen wie „Als menschliche Wesen wollen wir glücklich sein“ avancierte er zum Star einer globalen Wellness-Spiritualität, die problemlos zwischen den Börsennachrichten und einem Latte Machiato genossen werden kann. Der Dalai Lama, ein begnadeter PR-Statege, bedient die Sehnsüchte der EthnoromantikerInnen und hat auf diese Weise eine globale Solidaritätsbewegung um sich geschart.
Er ist jedoch der Erbe eines theokratischen Regimes, das noch Ende der vierziger Jahre Oppositionellen die Augen ausstechen ließ. Der Einmarsch der chinesischen Armee im Jahr 1951 wurde dann auch propagandistisch mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, die Feudalherrschaft in Tibet zu beenden. Tatsächlich diente der Einmarsch vor allem der Sicherung des strategisch wichtigen Hochlandes. Um es verwalten zu können, verbündete sich das stalinistische Regime mit der Mönchsoligarchie.
Mao, die „liebende Mutter“
Der jüngste Propagandacoup der chinesischen Regierung war die Veröffentlichung eines Telegramms aus dem Jahr 1951, in dem der Dalai Lama der chinesischen Regierung seine Unterstützung zusichert. Überdies habe er Lobgedichte über Mao Tse Tung verfasst und ihn u.a. als „liebende Mutter, die uns schützt“ bezeichnet. Dass Mao mit ähnlichen lyrischen Schmeicheleien antwortete, erwähnt die KPCh weniger gern.

Die chinesische Regierung musste jedoch feststellen, dass ihr Bündnis mit den Mönchen es schwerer machte, die armen Bauern/Bäuer­innen der Region zu gewinnen. Auf Dauer war im stalinistischen System kein Platz für die autonome tibetische Oligarchie, die ihrerseits nicht bereit war, sich unterzuordnen. 1959 kam es zum Aufstand, nach dessen Niederschlagung der Dalai Lama und seine Anhänger­Innen flohen. Nun erst wurde der Landbesitz der Klöster an die Bauern/Bäuerinnen verteilt. Im Exil entwickelte die religiöse Oligarchie den tibetischen Nationalismus. 1988 gab der Dalai Lama den Separatismus auf, seitdem fordert er Autonomie.

Der tibetische Protest gegen die Unterdrückung ist berechtigt. Vor allem während der sogenannten Kulturrevolution wurden Tausende Klöster zerstört und Dissident­Innen hingerichtet. Der von der chinesischen Regierung gefeierte Aufschwung des religiösen Lebens findet unter strikter staatlicher Kontrolle statt. Sogar die Wiedergeburt soll reglementiert werden. „Die Auswahl von Reinkarnierten muss die nationale Einheit wahren“, legt ein im vergangenen Jahr erlassenes Dekret der Behörde für religiöse Angelegenheiten fest, lässt allerdings offen, wie der Patriotismus des Kleinkindes, in dem der Dalai Lama nach tibetisch-buddhistischer Lehre wiedergeboren wird, überprüft werden soll.

Dennoch gehören die Klöster zu den am wenigsten kontrollierbaren Institutionen. Deshalb wurden sie offenbar zu Refugien der Opposition. Das allein sagt über die Orientierung der tibetischen Opposition noch wenig aus, die ebenfalls von buddhistischen Mönchen geführte Protestbewegung in Myanmar im vergangenen Jahr war ein Aufstand für soziale und demokratische Rechte. In Tibet gibt es jedoch deutliche Anzeichen für eine reaktionäre Orientierung.
Der Aufstand richtete sich weniger gegen Einrichtungen des chinesischen Staates als gegen Geschäfte, die von Han-ChinesInnen, aber auch von MuslimInnen betrieben werden. Nach offiziellen Angaben sind nur acht Prozent der Bevölkerung der „Autonomen Provinz” NichttibeterInnen, nicht registriert werden in der Statistik allerdings HändlerInnen, WanderarbeiterInnen und SoldatInnen. Die nachholende kapitalistische Modernisierung hat auch in Tibet eine Mittel- und Oberschicht hervorgebracht, für die die meist kapitalkräftigeren Geschäftsleute aus anderen Teilen des Landes unerwünschte KonkurrentInnen sind.

Die nationalreligiöse Ideologie soll die Unterschicht integrieren, die mit zugewanderten Arbeiter­Innen um Jobs konkurriert. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit unter den TibeterInnen überdurchschnittlich hoch, ein wichtiger Grund hierfür wird von der Tibet-Bewegung jedoch gern unterschlagen: Die TibeterInnen sind von der Vorschrift
ausgenommen, nur ein Kind bekommen zu dürfen. Entsprechend größer ist im Verhältnis zu anderen Teilen Chinas die Zahl der Jugendlichen, die von den Dörfern in die Städte strömen, dort aber keine Arbeit finden.
Gewehr und Gebetsmühle
Die chinesische Integrationspolitik setzt vor allem auf den Staatsapparat, dessen Kader zu 70% TibeterInnen sind. Die Aufständischen wurden von überwiegend tibetischen PolizistInnen verprügelt oder beschossen und stehen nun vor tibetischen RichterInnen. Diese einflussreiche Mittelschicht der „Kollaborateure” wurde nicht angegriffen. Die protibetische Bewegung schweigt über sie, wohl in der Hoffnung, diesen Apparat einmal übernehmen zu können.
Der Dalai Lama hat sich von der Gewalt distanziert, und die meisten ExpertInnen gehen davon aus, dass es sich nicht nur um taktische Rhetorik handelt. Offenbar gibt es eine jüngere Generation nationalreligiöser AktivistInnen, die mit der seit 50 Jahren erfolglosen Strategie des Dalai Lama unzufrieden sind. Das Probem ist jedoch nicht die Anwendung von Gewalt, die im Kampf gegen eine Diktatur meist unvermeidlich ist, sondern ihr Ziel.

Die Angriffe auf Angehörige anderer Minderheiten sind eine Folge der Ideologie eines „Groß-Tibet”. Der Aufstand fand auch in den vom Dalai Lama beanspruchten Nachbarprovinzen statt. Über die Rechte anderer Minderheiten – es gibt nach offiziellen Kriterien mehr als 50 in China – spricht „Seine Heiligkeit” nicht, ebensowenig über die demokratischen und sozialen Rechte der 1,3 Milliarden Chinesen.

Autonomie, ein föderales System, das dezentrale Entscheidung­en ermöglicht, ist unter bürgerlich-demokratischen Verhältnissen ein Mittel, marginalisierte Bevölkerungsgruppen zu stärken und „ethnische” Konflikte zu entschärfen. In einer Diktatur kann sie jedoch nur Kooperation der Oligarchien sein, in Tibet wäre sie eine Wiederauflage des Bündnisses von Gewehr und Gebetsmühle aus den fünfziger Jahren unter den neuen Produktionsbedingungen. Zur Meinungsfreiheit gehört, selbst wenn man dies als aufgeklärter Bolschewist hin und wieder bedauern mag, auch das Recht, reaktionären Lehren zu folgen. Die Forderung nach freier Religionsausübung ist berechtigt, zur Befreiung Chinas von der poststalinistischen Diktatur der KPCh wird die natonalreligiöse tibetische Bewegug hingegen keinen Beitrag leisten.
Katzen und Mäuse
Die Regierung zählt pro Jahr rund 50 000 „Unruhen”, von friedlichen Protesten einiger Dutzend städtischer UmweltschützerInnen bis zu den Revolten zehntausender Bauern/Bäuerinnen oder Arbeiter­Innen, die nur mit Waffengewalt niedergeschlagen werden können. Doch bislang alle Aufstände waren punktuelle Ereignisse, meist spontane Reaktionen auf staatliche Willkür- und Gewaltmaßnahmen. Ihr Machtmonopol hat die Regierung wahren können, durch die Integration neuer gesellschaftlicher Gruppen – ganz offiziell vertritt die „Kommunistische Partei” seit einigen Jahren auch die Interessen der UnternehmerInnen – und durch die Unterdrückung jeglicher Opposition und Dissidenz.

Der tibetische Aufstand hingegen erfasste mehrere Provinzen, es gibt eine Untergrundorganisation, die Polizei und Geheimdienste weder zerschlagen noch infiltrieren konnten. Die Integration der Mönchs­­oligarchie könnte sich als hilfreich für die Befriedung erweisen, allerdings müsste die KPCh dann eine organisierte und unabhängige Gruppe in ihre Reihen aufnehmen. Immer wieder wurden seit 1959 Geheimverhandlungen mit der „Dalai-Clique” geführt, die jedoch ergebnislos blieben. Ihre Integration gilt offenbar als zu gefährlich für das Machtmonopol, zumal die KPCh mit entsprechenden Forderungen anderer Minderheiten rechnen muss. Stattdessen wird die nationalistische Propaganda verstärkt.
„Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse”, sagte Deng Xiao-Ping Ende der siebziger Jahre zur Einleitung der marktwirtschaftlichen Reformen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die nunmehr kapitalistische Diktatur wird nur möglich sein, wenn es nicht um die Beuteverteilung unter den fetten Katzen geht, sondern die Mäuse sich zusammenschließen.

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