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Nigeria: General gegen Generalstreik

Von Harry Tuttle | 01.12.2004

Im letzten Moment entschloss sich die Regierung Nigerias zu einem Kompromiss und vermied so einen Generalstreik. Doch die Konfrontation ist nur aufgeschoben.

Im letzten Moment entschloss sich die Regierung Nigerias zu einem Kompromiss und vermied so einen Generalstreik. Doch die Konfrontation ist nur aufgeschoben.

Ein Kind, das in Nigeria geboren wird, hat eine 80prozentige Chance, seinen fünften Geburtstag zu erleben. Hat es diese erste Hürde genommen, wird es mit 64prozentiger Wahrscheinlichkeit lesen lernen. Etwas höher ist seine Chance, zu jenen NigerianerInnen zu gehören, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Von diesem Einkommen müssen unter Umständen noch Verwandte versorgt werden. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind seine Eltern mit weißen Haaren sieht, ist gering. Denn die durchschnittliche Lebenserwartung liegt nur knapp über 50 Jahren.
Muhammadu Sani Idris wurde zwölf Jahre alt. Am 11. Oktober starb er von mehreren Kugeln getroffen in der nordnigerianischen Stadt Kaduna. Er hatte sich in der Nähe einer Gruppe von Streikenden aufgehalten, als die Polizei das Feuer auf die unbewaffnete Menge eröffnete.

Öl und Oligarchie

Der nigerianische Gewerkschaftverband Nigeria Labour Congress (NLC) hatte die Bevölkerung aufgerufen, während des viertägigen Generalstreiks Mitte Oktober zu Hause zu bleiben, um Konflikte mit der Polizei zu vermeiden. Dennoch kam es vereinzelt zu Demonstrationen, die von der Polizei sofort attackiert wurden. Kurz vor dem Beginn des Streiks hatten Geheimdienstler zudem den NLC-Präsidenten Adams Oshiomhole festgenommen, doch der Einschüchterungsversuch misslang. „Ich bin an sie gewöhnt, seit ich mit 17 oder 18 Jahren mit der Gewerkschaftsarbeit begonnen habe“, kommentierte Oshiomhole trocken.
Der NLC forderte eine Rücknahme der Preiserhöhungen für Benzin, Diesel und das zum Kochen verwendete Kerosin. Allein im September war der Benzinpreis von 43 auf 53 Naira (33 Eurocent) gestiegen. Dies wirkt sich auf fast alle Lebensbereiche aus, denn die Preise für Fahrten zur Arbeit erhöhen sich ebenso wie die Kosten für die Zubereitung einer Mahlzeit, und wegen der höheren Transportkosten steigen die Lebensmittelpreise.
Die NigerianerInnen waren umso weniger bereit, die Preiserhöhung zu akzeptieren, als Nigeria, wie alle Förderstaaten, vom Anstieg des Ölpreises profitiert. Die Oligarchie kann in diesem Jahr Mehreinnahmen von knapp fünf Milliarden Dollar erwarten, für die Subventionierung der Brennstoffpreise werden derzeit noch etwa zwei Milliarden Dollar ausgegeben. Doch im Rahmen der Deregulierungspolitik soll auch der Benzinpreis angehoben werden.
In den vergangenen Jahren gelang es dem NLC immer wieder, mit Generalstreiks eine teilweise Rücknahme der Preiserhöhungen zu erzwingen. In diesen Kämpfen agierte der Gewerkschaftsverband als Vertretung nicht nur der organisierten ArbeiterInnen, über die Labour Civil Society Coalition (LASCO) wird auch das Millionenheers von Tagelöhnern, Kleinhändlern und anderen nicht regulär Beschäftigten einbezogen. Insbesondere diese Marginalisierten können sich einen Streik eigentlich kaum leisten, denn sie sind auf ihre täglichen Einnahmen angewiesen. Dennoch werden die Streikaufrufe weitgehend befolgt. Im Oktober beklagte Informationsminister Chukwuemeka Chikelu die „negative Wirkung“ des Generalstreiks auf die Wirtschaft.
Nachgeben wollte die Regierung zunächst jedoch nicht. Der NLC hatte angekündigt, den als „Warnstreik“ bezeichneten viertägigen Ausstand wieder aufzunehmen und, anders als im Oktober, auch auf die Ölindustrie auszuweiten. Kurz vor dem geplanten Streikbeginn am 16. November rang sich die Regierung dann doch noch zu einem Kompromiss durch und senkte den Benzinpreis um zehn Naira. Der Streik wurde daraufhin ausgesetzt.

Solidarisierung in Afrika

Die Konfrontation wurde damit jedoch nur aufgeschoben. Die Regierung hält an ihren Deregulierungsplänen fest und sie glaubt auch, ein Mittel gegen den sozialen Protest gefunden zu haben. Per Gesetz soll der NLC in Branchen- und Betriebsgewerkschaften zerlegt werden, die nicht mehr in der Lage sein würden, einen Generalstreik zu organisieren. Geplant ist auch eine Einschränkung des Streikrechts.
Der Gesetzgebungsprozess stockt jedoch, denn selbst viele Anhängern Obasanjos halten diese Maßnahme für zu extrem. Zudem kam es zu internationalen Protesten, die Obasanjo, der eine Führungsrolle in der afrikanischen Politik beansprucht, sehr ungelegen kamen. Beim Gipfel der Afrikanischen Union im September protestierten afrikanische Gewerkschaftsdelegierte in einer gemeinsamen Erklärung gegen Obasanjos Versuch, den NLC zu zerschlagen. In Südafrika demonstrierten im Oktober 500 Mitglieder des Gewerkschaftsverbandes Cosatu gegen die Verhaftung Oshiomholes und die Weigerung Obasanjos, mit dem NLC zu verhandeln.
Der Ausgang des Kampfes um den Benzinpreis und die Legalität des NLC hat deshalb nicht allein für Nigeria Bedeutung. Dort kann nur die Gewerkschaftsbewegung der Bevölkerung wenigstens eine minimale Teilhabe an den Öleinnahmen des Landes erkämpfen und die repressive Politik der Regierung blockieren. Ein erfolgreicher Kampf würde auch die Gewerkschaftsbewegung in anderen afrikanischen und ölfördernden Staaten ermutigen. Die Zerschlagung des NLC dagegen wäre eine Niederlage für die weltweite Gewerkschaftbewegung, die nicht nur unter Diktaturen und autokratischen Regimes ständig mit neuen und repressiven Gesetzen konfrontiert ist.

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