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Länder

Niederlande: Eine Stimme gegen den Neoliberalismus

Von Willem Bros | 01.07.2005

Das Ergebnis des holländischen Referendums zur EU-Verfassung setzt ein klares Zeichen gegen das neoliberale Projekt. Es handelt sich nicht um ein "Nein" zu Europa, zur europäischer Zusammenarbeit, Integration oder Union, sondern um ein "Nein" zum neoliberalen Europa, das durch die Verfassung in Stein gemeißelt worden wäre.

Dies soll nicht heißen, dass wir ??es mit einem eindeutig linken ??oder fortschrittlichen Abstimmungsergebnis zu tun haben. Auch traditionelle, christliche, nationalistische und rassistische Gefühle spielten eine Rolle. Aber mit Sicherheit dominierten sie die Kampagne nicht. Das "Ja" zum "Nein" eröffnet der niederländischen Anti-Globalisierungsbewegung neue Möglichkeiten.
Bei einer Wahlbeteiligung von 63 % stimmten fast 62 % der WählerInnen gegen die EU-Verfassung. Die Wahlbeteiligung für das erste landesweite Referendum war um die Hälfte höher als zu den Wahlen für das EU-Parlament 2004, wo weniger als 40 % der NiederländerInnen an der Wahl teilnahmen. […]Es gab nur um die 20 kleinere Gemeinden mit wohlhabenden EinwohnerInnen im Zentrum des Landes und im Süden in denen eine Mehrheit für die EU-Verfassung stimmte. Sonst waren überall die "Nein"-Stimmen in der Mehrheit.
Eine Klassenfrage
Die Klassenbasis des "Nein" war eindeutig. Je geringer das Bildungsniveau der WählerInnen, desto wahrscheinlicher war es, dass mit "Nein" gestimmt wurde. Wähler-Innen mit höherer Bildung stimmten zu 51 % "Nein"; unter den WählerInnen mit den niedrigsten Bildungsabschlüssen waren es 82 %. Je niedriger das Einkommen der WählerInnen desto größer war auch hier die Wahrscheinlichkeit das für "Nein" gestimmt wurde. Bei Frauen war die Wahrscheinlichkeit, dass sie für "Nein" stimmten, ebenfalls höher.
Unter den UnterstützerInnen der SozialdemokratInnen stimmten 55 % gegen die Verfassung, bei den niederländ. Grünen stimmten 52 % für "Ja". Sogar in der liberalen pro-EU Partei D66 stimmten 45 % gegen die Verfassung. […]
Gegen die Herrschenden
Das Ergebnis der Wahl ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass alle etablierten politischen Parteien – die Christdemokraten, die liberale VVD und die D66 sowie die Sozialdemokraten und die Grünen – die gemeinsam über 85 % der Sitze im Parlament verfügen – dazu aufriefen mit "Ja" zu stimmen. Die einzigen Abgeordneten, die zum "Nein" aufriefen, repräsentierten die Sozialistische Partei (eine Partei mit maoistischen Wurzeln, die in den letzten Jahren zur größten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie herangewachsen ist und über 8 von 150 Sitzen im Parlament verfügt), die kleinen orthodoxen protestantischen Parteien, die Reste von Pim Fortuyn"s Partei und ein einzelner rechter Abgeordneter, Geert Wilders, der sich von der VVD abgespalten hat.
Hinzu kommt, dass die gesamte Zivilgesellschaft sich hinter die Verfassung gestellt hatte: die Gewerkschaftsführung, die größten Umweltorganisationen, die kleinen und mittelgroßen Unternehmerverbände, Amnesty International, Greenpeace, verschiedene NGOs und sogar die Vereinigung der Automobilbesitzer. Nur eine sehr kleine Anzahl kleinerer Umwelt- und Tierrechtsorganisationen war gegen die Verfassung.
Das Ergebnis offenbart nicht nur eine klaffende Lücke zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen, sondern auch einen Riss in fast allen großen gesellschaftlichen Organisationen. Die Führungen unterstützten die Verfassung, während die Mitglieder sie ablehnten.
Die Polder-Kultur
Um diese Entwicklung verstehen zu können, bedarf es eines Blickes zurück auf die politische Entwicklung der letzten Jahre in den Niederlanden. Seit dem zweiten Weltkrieg waren die niederländischen Regierungen Koalitionsregierungen mit den Christdemokraten als Zentrum, entweder im Bündnis mit der VVD oder den Sozialdemokraten. Damit war 1994 Schluss, als die Christdemokraten eine spektakuläre Niederlage erlitten, woraufhin eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und liberalen Parteien ins Amt kam.
Unter der Führung des früheren Gewerkschaftsführers Wim Kok führte diese Regierung im Verlauf von 8 Jahren umfassende neoliberale Reformen durch. Eine Folge dieser "violetten" Periode (so benannt nach der Mischung aus sozialdemokratischem rot und liberalem blau) war eine weitreichende Entpolitisierung. Politische Differenzen zwischen den großen Parteien wurden fast unsichtbar. Die in den Niederlanden schon immer starke Kultur der Beratung und des Konsens (das Polder-Modell), bedeckte die politische Landschaft wie ein bleiernes Tuch.
Mit dem Aufstieg des rechten Populisten Pim Fortuyn wurde dieses Tuch auf einmal wegerissen. Furtuyns Kreuzzug gegen Multikul- turalismus und den Islam sammelt die Mittelschichten um sich, die entsprechend ihres wirtschaftlichen Aufstiegs der letzten Jahre den dazugehörigen politischen Einfluss wollten.
Aber Fortuyns Durchbruch war, dass er zusätzlich viele weniger gebildete weiße NiederländerInnen ansprach, deren Sicherheitsgefühl durch die Abwicklung des Sozialstaates und die Wirtschaftsliberalisierung untergraben worden war. Diese Menschen, die traditionsgemäß WählerInnen der Sozialdemokratie waren, hatten ihr Vertrauen in die Linke vollständig verloren. Nach seiner dramatischen Ermordung kurz vor der Wahl im Jahre 2002 fand seine Revolte teilweise ihren Niederschlag in einem besseren Wahlergebnis für die von Jan Balkenende geführten Christdemokraten. Balkenende formte ein neues Kabinett mit der liberalen VVD und den Resten von Fortuyns LPF. Die ständigen Patzer und Skandale der LPF führten dazu, dass sie durch die nicht ganz so weit rechts stehende D66 ersetzt wurde.[…]
Letztes Jahr zeigten die massiven Proteste gegen die Regierungspläne zur Rentenreform, dass die Wahrheit nicht so einfach ist. Die in den letzten Jahren stark geschwächten Gewerkschaften wurden zu Mobilisierungen gezwungen. Dies führte zu jedermanns Übererraschung zur größten Gewerkschaftsdemonstration in der niederländischen Geschichte, die ca. eine halbe Millionen Menschen in Bewegung setzte. Die politische Wirkung dieser Mobilisierung wurde mit der Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh durch einen Islamisten wieder weitesgehend zunichte gemacht. […]
Der Verlauf der Kampagne
Bevor die Kampagne begann, schien die Zustimmung zur Verfassung bereits sicher zu sein. In den ersten Umfragen waren ca. 20 % bereit mit "Ja" zu stimmen und nur 10 % waren gegen die Verfassung. Wenn man die Unterstützung durch die politischen und sozialen Organisationen berücksichtigt, schien es kein Problem darzustellen, die Zustimmung zur Verfassung zu erringen.
[…] Erst als die "Nein"-Kampagne in den Umfragen in Führung ging, fühlte sich die Regierung genötigt in Aktion zu treten. Sie tat dies auf ungewöhnlich grobe und einschüchternde Weise. Sie griffen tief in die Staatskasse, um die Regierungskampagne zu finanzieren und ihre Äußerungen schienen nur dem Zweck zu dienen, die Bevölkerung zum "Ja" zu zwingen.
Ein Minister erklärte, dass die Ablehnung der Verfassung den Frieden in Europa gefährdet. Auch Auschwitz und Srbrenica mussten als Argumente für das "Ja" herhalten. Den NiederländerInnen wurde gesagt, sie würden zu den Witzfiguren Europas werden, wenn sie mit "Nein" stimmten. Diese Argumente einer Regierung, die nur 18% Zustimung bei Umfragen erreichte, halfen nur der Kampagne für das "Nein". Das "Nein"-Lager bestand aus vier Komponenten:
Den rechtsextremen Positionen des wildgewordenen, Liberalen Geert Wilders, der versucht, eine Art Nachfol
ger Pim Fortuyns zu werden.
Die kleinen protestantischen Parteien vermissten die Erwähnung von Europas christlicher Tradition in der Verfassung. Ansonsten machte aus ihrer Sicht eine weitergehende Integration in der EU momentan keinen Sinn, womit auch eine gemeinsam Verfassung hinfällig ist.
Die stärkste politische Kampagne kam zweifellos von der Sozialistischen Partei. Ihre Kampagne konzentrierte sich auf die Rettung der Niederlande vor einem europäischen Superstaat in dem Holland nur eine weitere Region wäre.
Zu guter letzt gab es noch das Comité Grondwet Nee (Komitee Nein zur Verfassung), ein kleines Bündnis linker AkivistInnen die eine klar fortschrittliche Kampagne führten. Grondwet Nee argumentierte, dass ein anderers Europa als Alternative zum neoliberalen und militaristischen Europa möglich und nötig ist. Trotz seiner bescheidenen Größe und Ressourcen spielte Grondwet Nee eine beträchtliche Rolle in der Kampagne und verhalfen dem linken "Nein" zu mehr Öffentlichkeit. Damit verhinderten sie auch die Dominanz der rechten, nationalistischen Fraktion der VerfassungsgegnerInnen.
Welches "Nein" hat gewonnen?
Natürlich spielten alle möglichen Motive eine Rolle bei der Ablehnung der Verfassung: breite Ablehnung der Regierungspolitik und von PolitikerInnen im Allgemeinen, Widerstand gegen die regelmäßige Einmischung von Brüssel, Angst vor dem Verlust nationaler Identität, christliche und nationalistische Motive und die Verärgerung, die die Arroganz des Lagers der BefürworterInnen hervorrief. […]
Es ist schwierig zu entscheiden, welche Motive die entscheidenden waren. Jedoch ist es klar, dass Wilders mit seiner anti-muslimische, anti-türkische Kmapagne nicht die dominierende Rolle spielte. Relativ unumstritten ist auch die Einschätzung, dass es keine Anti-EU-Kampagne war, sondern eine Ablehnung der Art, wie die EU momentan funktioniert.
Folgen des Sieges
Das Ergebnis des Referendums wird weitreichende Folgen haben. Nach dem "Nein" in Frankreich und Holland ist die Verfassung gescheitert. Zudem wird das Ergebnis weitreichende Konsequenzen für die politische Landschaft der Niederlande haben. Die Linke hat jetzt eine Chance, neue Initiativen in der EU-Diskussion zu beginnen. Der Vorschlag von Grondweet Nee, eine nationale Versammlung abzuhalten, die eine demokratische Diskussion zur Zukunft Europas führt, hat bisher keine Reaktion hervorgerufen. Jedoch wurde ein Antrag der SP für eine breite gesellschaftliche Diskussion zur EU vom Parlament angenommen. Welche Form diese Diskussion haben wird, ist noch nicht klar.
Es ist auf jeden Fall wichtig, dass die Vorschläge, die aus dieser Diskussion entstehen, wieder Gegenstand eines Referendums werden. Zudem müsssen auf europaweiter Ebene Diskussionen geführt werden, z.B. im Europäischen Sozialforum, und das Instrument der Referenden muss weiter demokratisiert werden.

Übersetzung: Lex Schmidt

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