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Länder

Niederlande: Das Ende von zwanzig Jahren Stillhalten

Von Korrespondent | 01.11.2004

Am 2. Oktober demonstrierten in Amsterdam über 300 000 Lohnabhängige gegen die Politik der rechtsbürgerlichen Regierung unter Premierminister Balkende. Damit war das soziale Stillhalteabkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften von Anfang der achtziger Jahre aufgekündigt.

Am 2. Oktober demonstrierten in Amsterdam über 300 000 Lohnabhängige gegen die Politik der rechtsbürgerlichen Regierung unter Premierminister Balkende. Damit war das soziale Stillhalteabkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften von Anfang der achtziger Jahre aufgekündigt.

Einige Zehntausende konnten erst gar nicht zur Demonstration und Kundgebung in die Innenstadt gelangen. Die Bahn war im Stau stecken geblieben und die meisten Zufahrtsstraßen waren völlig verstopft.

Die ArbeiterInnenbewegung meldet sich zurück

Wohl wenige in den Niederlanden hatten die hohe Beteiligung an der Demonstration gegen die Machenschaften der konservativen Regierung unter Balkenende erwartet. Zwar gab es schon Wochen vor den 2.Oktober viele Aktionen darunter massive Streiks. Allein im Rotterdamer Hafen gab es 50.000 Ausfalltage, was für holländische Verhältnisse eine hohe Anzahl ist. Doch selbst die Linken konnten noch nicht so recht glauben, dass die fast zwei Jahrzehnte dauernde klassenpolitische Ruhephase zu Ende gehen würde.
Diese, nach so langer klassenpolitische Ruhe verständlichen Befürchtungen dürften mit der TeilnehmerInnenzahl von über 300.000 und den Streiks und Aktionen der TransportarbeiterInnen und der öffentlichen Verkehrsbetriebe eineinhalb Wochen nach der Großdemo verflogen sein. Am 2. Oktober haben ca. 1,87 % der niederländische Bevölkerung von 16,5 Mio. demonstriert. Auf die Bevölkerungszahlen der BRD bezogen (ca. 82 Mio.), hätten in Deutschland an einem Tag etwa 1,5 Millionen demonstrieren müssen. Damit meldet sich die niederländische ArbeiterInnenbewegung zurück!

20 Jahre Co-Management

Dass auch die Linken so vorsichtig waren, kam nicht von ungefähr. Die Gewerkschaften predigten in den letzten 20 Jahren vor allem Co-Management und Standortsicherung. In den Tarifverhandlungen (CAO = Central Akkoord Onderhandelingen = Zentrale Verhandlungsübereinkunft) setzten sie auf einvernehmliche Lösungen ohne Kampfmaßnahmen. Ähnlich wie bei uns in Deutschland trockneten die gewerkschaftlichen Basisstrukturen zunehmend aus. Gewerkschaftlich aktiv zu sein schien, noch mehr als in Deutschland, “altmodisch” und “verstaubt”. Die Gewerkschaften wurden als ein “Auslaufmodell” angesehen. Die potentielle Kraft der Gewerkschaften verringerte sich so stark, dass viele schon nicht mehr mit den in der völligen Bedeutungslosigkeit verschwindenden niederländischen Gewerkschaften rechneten.

Kein genereller Kurswechsel

Freilich, noch ist eine generelle Kursänderung der Gewerkschaftsspitzen von ABVKABO nicht in Sicht. Die BürokratInnen möchten nichts lieber als so schnell wie möglich wieder an den Verhandlungstisch mit der Regierung zurückzukehren. Ob es aber gelingen wird, die Wirkung des Massenprotestes und die dadurch entstandenen Stimmung der Massen auf die Schiene von Verhandlungen um Korrekturen an der Regierungspolitik zu lenken und damit weitgehend zu neutralisieren, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

Die Grenzen des Polder-Modells

Was ist geschehen, dass nach zwanzig Jahren relativer Ruhe und dem in der ganzen EU herumgereichten Vorbild des so genannten “Polder-Modells”, eben dieser “Stillhaltepakt”, plötzlich dermaßen massiv in Frage gestellt wurde?
Anfang der 80. Jahre des letzten Jahrhunderts schloss die damalige Regierung mit den Gewerkschaften einen Stillhaltepakt ab, das “Polder-Modell” war geboren.
Es zeichnete sich u.a. durch folgende Merkmale aus:
· der prozentual an der arbeitenden Bevölkerung größte Anteil an LeiharbeiterInnen in ganz Europa
· die offiziellen Statistiken der Arbeitslosigkeit in den Niederlanden blieben auf einem europaweit recht niedrigen Niveau
· Natürlich wurde die Kehrseite dieses “Job-Wunders” verschwiegen: Abbau der Löhne und Sozialstandards. Das zwang die in diesem Sektor Beschäftigten, zwei bis drei Teilzeitjobs am Tag zu nachzugehen, um über die Runden zu kommen. Damit wurde die Arbeitslosenstatistik entlastet.
· Ein immer schlechter werdendes Gesundheitssystem (lange Wartezeiten für akute Operationen, großer Personalmangel in den Krankenhäusern) und, und, und…
Dieses Modell der neoliberalen Deregulierung wurde als das Beispiel für ganz Europa verkündet.
Erst Anfang der 90. Jahre fanden für kurze Zeit gewerkschaftliche Mobilisierungen statt. Danach war erneut 10-12 Jahren Ruhe – bis heute! Gleichzeitig rutschte die offizielle bürgerliche Politik der sozial-liberalen Koalition der Partij van de Arbeid (P.v.d.A = niederländische Sozialdemokratie) mit zwei weiteren kleineren bürgerlichen Parteien unter Premier Kok nach rechts ab.

Härtere Gangart

Letztere waren es, die vor ca. 4 Jahren mit der verschärften Gangart der massiven Umsetzung des sozialen Deregulierungsplans der EU anfingen und mit dieser Politik den Übergang zu einer streng liberal-bürgerlich-rechten Regierung VVD/LPF vorbereiteten. Der sensationelle Wahlerfolg der rechtspopulistischen Liste Pim Fortuyn (LPF) vor gut zwei Jahren, blieb durch seine Ermordung nur ein häßliches Zwischenspiel. Die LPF hat sich im Parlament weitgehend zersetzt. Dennoch kann sie sich mit dem “Erfolg” brüsten, dass Pim Fortuyn zeitlebens mit seiner rechten Propaganda, vor allem gegen die im europäischen Vergleich damals noch “liberale” niederländische Ausländer- und Asylpolitik, für einen in der niederländischen Geschichte in dieser Art nicht gekannten Rechts-Rutsch, gesorgt hat. Eines der Resultate ist, dass die Niederlande nach Dänemark und noch vor der BRD, die repressivste und härteste Asyl- und Ausländerpolitik in der EU betreiben.

Auswirkungen der Krise

Auch die niederländische Ökonomie leidet unter der kapitalistischen Krise. Wie überall in Europa, hat sich die Regierung dem neo-liberalen “Gesundungsmodell” verschrieben: Abbau der Sozialleistungen, niedrigere Löhne, eine noch weitere Ausdehnung des Niedriglohnsektors, Rentenkürzungen und weiterer R(D)eformierung des Gesundheitsbereiches.
Aber anscheinend hat sich in den letzten Jahren der sozialen Unmut derart aufgestaut, dass es nur eines kleiner Funkens bedurfte, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Sicher die Mobilisierung ist beschränkt. Zu lange wurde die niederländische ArbeiterInnenklasse dem Klassenkampf entwöhnt. Noch zu unterentwickelt ist das politische Klassenbewusstsein und die Mobilisierung fand statt vor dem Hintergrund des oben geschilderten Rechts-Rutsches der niederländischen Gesellschaft in den letzten Jahren. Aber für die Verhältnisse in den Niederlanden, das ja immer als relativ gesellig, pragmatisch, ja mitunter gleichgültig und schon gar nicht als Land von politische Leiden
schaften und einer großen Protestkultur gilt, ist dieser Massenprotest fast eine halbe Revolution.

Der Auslöser

Ausgelöst wurden die Aktionen und Streiks der Gewerkschaften durch einige zynische Bemerkungen des Premierministers Balkenende gegen Arbeitslose und gegen SozialhilfebezieherInnen. Die Gewerkschaften FNV, CVN und De Unie, initiierten eine landesweite Aktionseinheit “Keer het Tij” (wörtlich: Kehre die Tide, singemäß: Kehren wir die Zeiten um oder: Zeit für eine Zeiten-Wende). Die Demonstration am 2. Oktober sollte eine erste Ausweitung der Aktionseinheit von der gewerkschaftlichen Basis in den Betrieben und Büros auf andere gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen: Es wurden neben den Organisationen der “Auskehrungsberechtigten” (Arbeitslosen/SozialhilfeempfängerInnen und RentnerInnen) auch die StudentInnen und MieterInnen zur Teilnahme aufgerufen. Der Erfolg spricht für sich – aber auch dafür, dass es anscheinend höchste Zeit war, die soziale Wut aus den Betrieben, Büros und Wohnungen, Altenheimen und Krankenhäusern auf die Straße zu bringen.

Unklare Aussichten

Wie es weiter geht, ist noch unklar. Werden auch die derzeit stattfindenden Streiks, wenigstens von der Beteiligung her, zu einem Erfolg, so könnte sich tatsächlich in unserem jahrelang so ruhigen Nachbarland noch einen heißer Herbst entwickeln.
Die Anti-Hartz-IV-Proteste in Deutschland haben wohl auch eine (kleine) Rolle in der Mobilisierung für den 2 Oktober gespielt! Nicht nur war es der bewusst gewählte gleiche Tag, an dem die Anti-Hartz-Bewegung hier ihre Demo machte. Auch fanden zwei Wochen vor dem 2. Oktober erste “Montagsdemos” in den Niederlanden statt. Ein hoffnungsvolles Zeichen. Der Funke des Klassenkampfes ist wieder einmal über eine Grenze gesprungen. Der Klassenkampf ist doch international!

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