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Innenpolitik

Nicht mehr feucht hinter den Ohren

Von Moritz und Tom B. | 01.07.2006

Am 3. Juni demonstrierten in Berlin knapp 20 000 Menschen gegen Sozialkahlschlag und Massenarbeitslosigkeit. Bei der Demo, die unter dem Motto „Schluss mit den Reformen gegen uns“ stand, war das Wetter zwar mies aber die Stimmung kämpferisch. Seit Jahren sind „die deutschen Regierungen Motoren in Europa, die Massenentlassungen, Verarmung, Abbau sozialer Grund- und ArbeitnehmerInnenrechte zugunsten der Profitinteressen der europäischen Konzerne vorantreiben“, ist im Aufruf zu lesen.

Am 3. Juni demonstrierten in Berlin knapp 20 000 Menschen gegen Sozialkahlschlag und Massenarbeitslosigkeit. Bei der Demo, die unter dem Motto „Schluss mit den Reformen gegen uns“ stand, war das Wetter zwar mies aber die Stimmung kämpferisch.

Der Himmel über Berlin hat sich dunkel und bedrohlich zugezogen und schon vor Stunden sind die Dämme gebrochen und er gibt dicke Tropfen frei. Vor dem Roten Rathaus in Berlin füllt sich der Platz um die Bühne langsam. In Regelmäntel gehüllt und mit Fahnen und Transparenten bewaffnet kommen immer weitere Menschen, die gegen einen Dammbruch ganz anderer Art protestieren wollen. Seit Jahren sind „die deutschen Regierungen Motoren in Europa, die Massenentlassungen, Verarmung, Abbau sozialer Grund- und ArbeitnehmerInnenrechte zugunsten der Profitinteressen der europäischen Konzerne vorantreiben“, ist im Aufruf zu lesen. Aufgerufen haben viele Montagsinitiativen, Erwerbslosenorganisationen, einige Gewerkschaftsgliederungen und u.a. nach langem zögern  Attac und die Fraktion der Linkspartei im Bundestag. Außerdem hat fast die gesamte bundesdeutsche radikale Linke die Forderungen der Demo unterzeichnet.
Beweis der Handlungsfähigkeit
Doch das heißt leider noch längst nicht, dass zur Demo auch aktiv mobilisiert oder sie mitorganisiert wird. Und so stellen die realen OrganisatorInnen der Demo den Teil der sozialen Bewegungen dar, der Willens und in der Lage ist, Radikalität auch in Taten umzusetzen. Mit den Forderungen nach 10 Euro Mindestlohn, einem Grundeinkommen für alle Erwerbslosen von erst mal 500 Euro plus Unterkunftskosten und eine 30 Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich sind nämlich politische Erfordernisse formuliert, die unvereinbar mit dem derzeit herrschenden neoliberalen System sind und die einzig die soziale Lage der breiten Bevölkerungen wirksam verbessern können. Um dies durchzusetzen, ist aber eine annähernd ebenso breite Mobilisierung notwendig – wie das Beispiel Frankreich und der erfolgreiche CPE-Protest zeigt. Und selbst einen vergleichsweise kleine Protestmarsch wie den am 3. Juni hinzubekommen ist nicht einfach. So war es sehr schwierig überhaupt einen Termin für die Demo zu finden, die auf einen Beschluss der Frankfurter Konferenz 2005 zurück geht. Verschiedene Kräfte der sozialen Bewegung hatten in den frühen Stadien der Demo versucht, sie aktiv zu verhindern. Die anderen Bedingungen im Vorfeld erinnerten an die vom 1. November 2003, als 100 000 Menschen in Berlin demonstrierten.

Da die Gewerkschaftsbürokratie, die damals nicht mobilisiert hatte hinterher in argen Zugzwang kam, kündigte sich zu dieser Demo, den Druck der Mobilisierung schon verspürend, vorsichtshalber Frank Bsirske (ver.di-Vorsitzender) als Redner an. Sicherlich nicht ohne bei seinen Kollegen der oberen Gewerkschaftsetagen anzuecken, denn es gab einen Beschluss des DGB-Vorstandes, die Demo explizit nicht zu unterstützen. Angeblich verärgert durch einen Artikel in der jungen Welt, zog der Grüne Bsirske aber sein Angebot fadenscheinig zurück. Wann hat sich ein Gewerkschaftsboss schon einmal ernsthaft etwas aus einem Artikel in der jungen Welt gemacht?
So hörten die DemonstrantInnen am rot-roten Rathaus nicht Bsirske, aber dennoch einige beeindruckende, teilweise trotz eines 3-Minuten-Kozepts zu langen Reden. Den Anfang machte ein Studierender aus Frankreich. Er berichtete von den erfolgreichen Protesten gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE) und rief zu einer europaweiten Vernetzung der Proteste gegen den Sozialkahlschlag auf. Die nasse Masse quittierte das mit tosendem Applaus. Als Vorletzter redete ein Vertreter der Ordensleuten für den Frieden über die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems. Um den Hals hatte er ein Schild auf dem stand: „Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen!“ Der betagte Mann erwähnte in seiner ergreifenden Rede die Hoffnung, dass es noch zu seinen Lebzeiten überwunden würde. Am Jubeln vor der Tribüne war zu erkennen, dass nicht wenige Menschen wünschten, er möge Recht behalten.
Gute Mobilisierung außerhalb
Der Zug, der größtenteils von außerhalb Kommenden, setzte sich dann mit etwas Verspätung in Bewegung. Ungefähr 500 waren mit dem Sonderzug aus NRW angereist, die anderen mit Bussen, die überall im Bundesgebiet abfuhren. Die Mobilisierung in Berlin klemmte. Anders als beim 1. November 2003 hielt sich die Berliner PDS ganz aus der Demo raus. Kein Wunder, richtete sich der Protest doch auch gegen sie. So hat sie selbst den Beweis angetreten, dass der Plan der Linkspartei.PDS parlamentarischer Arm der sozialen Bewegung zu sein, mit Regierungsverantwortung unvereinbar ist. Doch die Bewerbung der Demo klemmte nicht nur in Berlin. Hatte der RSB im Vorfeld der Demo, den 3. Juni als Kristallisationspunkt der Abwehrkämpfe gesehen, die mit dem ver.di-Streik und den vielen betrieblichen Auseinandersetzungen geführt wurden, zeigte die Zusammensetzung der TeilnehmerInnen ein anderes Bild. Der übergroße Teil wurde durch die Erwerbslosenstrukturen mobilisiert. Es gelang nicht – anders als 2003 – die Betriebe nennenswert zu mobilisieren. Der ver.di-Streik wirkte anders als gedacht nicht motivierend; zu groß waren die Anstrengungen des wochenlangen Arbeitskampfes. Ein anderer Teil der Gewerkschafts- und Betriebslinken war leider offensichtlich zu sehr in dem Parteibildungsprozess der Linkspartei involviert, um für die Demo zu streiten. So konnte auch kein nennenswerter Druck auf unteren Gewerkschaftsetagen ausgeübt werden. Die Erwerbslosen-Gliederungen von ver.di hingegen mobilisierten fast vollständig.

Trotzdem rollte ein bunter Zug durch die Straßen Berlins. Die breite der Forderungen zahlte sich aus. Der Protestmarsch wirkte auf AktivistInnen ganz verschiedener Bewegungen anziehend. Aus NRW kamen Studierende, die gerade gegen Studiengebühren kämpfen. Die Forderung nach ausfinanzierten Unis ohne Zugangsbeschränkungen konnten auch sie unterschreiben.
Und nicht zuletzt war dies und die Forderung nach hohen Sozialstandards in Europa die Verbindung zu den Kämpfen in Frankreich, die der Demo erst endgültig zum Durchbruch verhalfen. Doch mit noch mehr Forderungen lag die Formulierung aus Frankfurt goldrichtig. Erst unmittelbar um dem 3. Juni wurde klar, dass die Bundesregierung mit dem Einsatz im Kongo ernst macht. „Stopp aller Kriegsvorbereitungen“ heißt es im Anruf mit Blick auf den Iran.
Auch in Berlin: Unser Protest und ihre Knüppel
Die Forderungen waren auch für die eher autonom geprägte Linke anziehend. Unter den Protestierenden befand sich ein großer „Wir wollen alles“-Block. Dieser war heftigen Attacken seitens der Polizei ausgeliefert. Es wurde geschlagen, getreten, mit Pfeffer gesprüht. Mit
der Begründung der angeblichen Durchsetzung der polizeilichen Auflagen der Demo, wurden dem Block durch marodierende Polizeigruppen u.a. sämtliche Transparente systematisch entrissen – unter billigender Inkaufnahme schärfster Gewalt. Der gesamte Zug aller TeilnehmerInnen zeigten sich solidarisch. Es ging erst wieder weiter, wenn die Polizeiaktion vorerst beendet schien. Dies wurde vom Menschen aus dem Block einhellig als wohltuend beschrieben.
Auch das Eingreifen des RSB fand durch die Polizeiprovokationen ein jähes Ende. Der große Info-Stand des RSB wurde durch vor einer Polizeiprovokation zurückweichender AktivistInnen des „Wir wollen alles“-Blocks überrannt. Die Verantwortung hierfür trägt allein die Polizei. Nichtsdestotrotz war der RSB mit einem vergleichsweise großen, gut sicht- und hörbaren Block vertreten. Die anderen trotzkistischen Organisationen entschieden sich im Block der Linkspartei zu laufen und waren somit leider nicht sichtbar.

Die Abschlusskundgebung, auf der u.a. Tom Adler, Betriebsrat bei Daimler Chrysler sprach, haben viele Teilnehmer­Innen dann leider nicht mehr bis zum Ende erleben können, weil sie zu ihren Bussen mussten. Vielen sah mensch die Anstrengung der Demo an. Kein Wunder, fast alle waren bis auf die Haut durchnässt. Aber alle gingen mit einem guten Gefühl nach Hause – und die Polizeiaktionen, die an oberster Stelle ein Minister des SPD-PDS-Senat zu verantworten hat, haben genau ihr Gegenteil erreicht. Verfasste Berichte einzelner Teilnehmer­Innen erzählen von einem unglaublich starken „Wir“-Gefühl auf der Demo. In einem Bus aus Hamburg mit vielen sich unbekannten Menschen, überlegte ein Demonstrant hin- und her, ob er ein Lied anstimmen sollte. Er traut sich. In sein „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ stimmt der ganze Bus ein, sogar der Fahrer. Der Bus kam als eine Gruppe an seinem Zielort an – Folgetreffen geplant.

Spendenaufruf für den Sonderzug
Die Demonstration am 3. Juni war ein Erfolg. Wirklich aus der gesamten Bundesrepublik und aus Berlin waren 20.000 Menschen zusammengekommen, die gemeinsam ein Zeichen gegen die Regierung, die die Menschenwürde mit Füßen tritt, gesetzt haben.
Zwar waren es nur wenige Organisationen, regionale, wie das Projekt Neue Linke (Aachen), das Rhein-Main-Bündnis und bundesweite mit ihren Untergliederungen und Initiativen wie das Aktionsbündnis Sozialproteste, das Erwerbslosen Forum Deutschland und der Revolutionär Sozialistische Bund, die diese Demonstration voll und ganz zu ihrer Sache gemacht haben, schon ab Januar an den Vorbereitungen beteiligt waren und sämtliche Kräfte ihrer Organisationen in das Gelingen der Demonstration gesteckt haben. […]
Ein wichtiges Symbol für die Mobilisierung war der Sonderzug aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin. […]
Am Dienstag der Woche wurde der Preis im Angebot für den Sonderzug unerwartet erhöht, und nur durch anwaltliche Hilfe konnte die Vorlage eines, zwar erhöhten, dennoch einigermaßen reellen Angebotes für den Sonderzug überhaupt durchgesetzt werden. […]
Wir werden rechtlich gegen das Geschäftsgebaren der Eisenbahngesellschaft vorgehen. Wir werden, sobald Informationen vorliegen, über den Fortgang der juristischen Auseinandersetzung auf der Homepage der Demonstration www.protest2006.de informieren.
Trotz der beschriebenen widrigen Umstände fuhr eine Zahl von immerhin 500 Passagieren mit dem Sonderzug nach Berlin. Für eine Deckung reichte das freilich nicht aus, so dass Finanzierungsdefizite im zweistelligen Tausender Bereich resultieren. […] Wir rufen daher alle Organisationen dazu auf, sich gemeinsam an der Begleichung der Fehlbeträge zu beteiligen, damit auch in Zukunft ähnliche gemeinsame solidarische Projekte möglich sind!
Kostenbeiträge bzw. Spenden bitte überweisen auf das allgemeine Konto der Demonstration:
Spendenkonto:
Laura von Wimmersperg, Berliner Sparkasse,  BLZ: 100 500 00, Konto: 60 102 191 81, Stichwort „Sonderzug“ bitte nicht vergessen!
Um die hohen ausgelegten Summen ausgleichen zu können, schlagen wir folgende Richtwerte für solidarische Spenden bzw. die Umlage unter den Unterzeichnenden Organisationen vor: Einzelpersonen (10-20 EUR), Beiträge von Organisationen und Untergliederungen 100, 200 oder auch 300 EUR je nach Finanzkraft. […]
Das Vorbereitungsplenum der Berlin-Demonstration am 3. Juni 2006


 

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