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Länder

Nein zur EU-Verfassung verschärft politische Krise

Von MiWe | 01.06.2005

Zum dritten Mal innerhalb eines Jahres hat die französische Bevölkerung dem Präsidenten Chirac und seiner Regierung Raffarin die rote Karte gezeigt.

 

Bei unerwartet hoher Wahlbeteiligung haben 55% der französischen Bevölkerung die EU-Verfassung per Volksentscheid abgelehnt und damit nicht nur das politische Projekt der europäischen Integration auf neoliberaler Grundlage vor mittelfristig kaum überwindbare Hindernisse gestellt. Vor allem die Privatisierungspolitik der französischen Regierung sorgte für die außergewöhnlich große Mobilisierung. Selbst unverhüllte politische Einmischung von außen – vornehmlich durch die europäische Sozialdemokratie und neoliberal gewendete „Intellektuelle“ – konnte den sich in den letzten Monaten abzeichnenden Trend nicht umkehren. Widerwärtig war vor allem die Gleichschaltung der Medien, die nahezu exklusiv EU-Befürwortern geöffnet waren und Gegenpositionen zensierten.
In den vergangen Jahren entwickelten sich bereits viele Widerstandsaktionen gegen die Privatisierungspolitik, so dass die Herstellung eines „Binnenmarktes mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ in weiten Bevölkerungsteilen nur die Ablehnung der EU-Verfassung fördern konnte. Auch die Festschreibung der unter dem Druck der internationalen Finanzmärkte EU-weit vorgenommenen Kürzungen der Sozialausgaben oder die auf Grundlage von Produktionsverlagerungen vorgenommenen Massenentlassungen konnten schwerlich die Herzen der Lohnabhängigen erwärmen.

Breite Kampagne von links

Die Kampagne für die Ablehnung des Vertragswerks wurde am entschiedensten von der radikalen Linken geführt, allen voran von der LCR, unsrer französischen Schwesterorganisation. Lutte ouvrière (LO) allerdings sprach sich nur in ihrer Zeitung gegen die EU-Verfassung aus, am Aufbau der Bewegung beteiligte sie sich nicht. Es beteiligten sich die PCF, die sozialen Bewegungen und Teile der Grünen, der Gewerkschaften und der PS. Die Veranstaltungen stießen auf breiteste Resonanz (im Pariser Zenith und in Toulouse versammelten sich 5-6000 TeilnehmerInnen, in Rouen nahmen viermal so viele Menschen wie an der parallel stattfindenden Veranstaltung mit Bayrou und Sarkozy teil).
Es dominierte ganz eindeutig das linke Nein. Die Argumente des rechten Neins spielten in der Öffentlichkeit eine kaum wahrnehmbare Rolle. Chirac ging in seinen Beiträgen aber hauptsächlich auf die chauvinistischen EU-Gegner ein und versuchte, ihre Bedenken zur eigenen Handlungsmaxime zu erklären.
Das „Nein“ ist in einer Reihe zu sehen mit den Protesten und Streiks der letzten Monate (etwa am Pfingstmontag; der Pfingstmontag war von der Regierung unter dem Vorwand, das Gesundheitswesen stärken und eine Wiederholung des gesundheitspolitischen Desasters während der Hitzewelle 2003 vermeiden zu wollen, zum Arbeitstag erklärt worden). Zur Vermeidung absehbarer Streiks mit entsprechenden Auswirkungen auf das Referendum war diese Maßnahme freilich von etlichen Unternehmensleitungen selbst vorbeugend unterlaufen worden – letztlich ein nutzloses Kalkül.
Chirac wird auch diesmal den Weg kosmetischer Reformen nicht überschreiten und für die von Arbeitslosigkeit, Reallohnverlusten und Ausgrenzung Betroffenen wird es unerheblich sein, ob ihnen Raffarin oder Sarkozy weiteren Verzicht aufnötigt. Insofern bedarf es keiner sonderlichen Prophetie, dass die herrschende Klasse Neuwahlen als kurzfristigen Ausweg aus der politischen Krise anstreben wird – in der sicheren Hoffnung, dass dann die Allianz des Nein zerbrechen und die Teile, die schon zuvor Bestandteil der „Gauche plurielle“ waren, wieder ins Lager der Sachwalter der Bourgeoisie zurückkehren werden. Illusionen hierüber bereits im Vorfeld zu zerstreuen und weiter auf die „Regierung der Straße“ zu setzen, konkrete Mobilisierungen also voranzutreiben, wird die Aufgabe der RevolutionärInnen sein.

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