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Ökologie

Multiple Chemikaliensensitivität (MCS): Ein Krankheitsbild der chronischen Multisystem-Erkrankungen

Von Johann Ätzer | 01.06.2007

Ein Fachbuch mit der obigen Überschrift als Titel beschäftigt sich mit MCS, einer Krankheit, deren gesellschaftliche wie medizinische Bedeutung offenbar weithin unterschätzt wird. Das Buch wurde einerseits als Abschlussarbeit eines Postgradualstudiums Toxikologie für Naturwissenschaftler an der Universität Leipzig geschrieben, andererseits handelt es sich um eine Stellungnahme eines Betroffenen aus eigener Erfahrung. Der Autor H.-U. Hill musste sich nach Frühpensionierung aus dem Dienst an einem mit PCB (Polychlorierten Biphenylen) hoch belasteten Wiesbadener Gymnasium zwangsläufig mit dem Thema Toxikologie beschäftigen, um seine Krankheitssymptome überhaupt zu verstehen.

Ein Fachbuch mit der obigen Überschrift als Titel beschäftigt sich mit MCS, einer Krankheit, deren gesellschaftliche wie medizinische Bedeutung offenbar weithin unterschätzt wird. Das Buch wurde einerseits als Abschlussarbeit eines Postgradualstudiums Toxikologie für Naturwissenschaftler an der Universität Leipzig geschrieben, andererseits handelt es sich um eine Stellungnahme eines Betroffenen aus eigener Erfahrung.

Der Autor H.-U. Hill musste sich nach Frühpensionierung aus dem Dienst an einem mit PCB (Polychlorierten Biphenylen) hoch belasteten Wiesbadener Gymnasium zwangsläufig mit dem Thema Toxikologie beschäftigen, um seine Krankheitssymptome überhaupt zu verstehen.

Die Schulbehörde erkannte die Schadstoffbelastung als Ursache der Krankheit nicht an und bescheinigte ein „psychosomatisches Syndrom als Folge von Arbeitsüberlastung“ – ein Urteil das viele Betroffene hinzunehmen haben. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf: Eine Anerkennung einer chronischen Krankheit als Folge von Schadstoffbelastungen hätte eine Lawine von Schadensersatzansprüchen gegenüber Herstellern, Anwendern und Arbeitgebern, hier den Schulträger, zur Folge.

Deshalb mauern die Behörden im Einklang mit der Industrie und halten die Fakten unter Verschluss. Gutachten, die Schadstoffe als Krankheitsursache bestätigen, werden einfach ignoriert, so wie auch im Fall des Autors H.U. Hill, bei dem ein Biomonitoring eine hohe Belastung von PCB im Blut nachwies, die sich nach Ausscheiden aus dem Schuldienst um 70 Prozent verminderte.
Hochgiftiger Alltag
Im Alltag des „modernen“ Lebens sind die Menschen in immer größerem Ausmaß mit teilweise hochgiftigen Chemikalien konfrontiert. Chemie ist in immer mehr Verbrauchsgütern enthalten, die u. a. durch die wie Pilze aus dem Boden schießenden Drogerie- und Baumärkte in der Umwelt verteilt werden. Für fast jedes Alltagsproblem bietet die Chemieindustrie Hilfsmittel und Problemlöser an: Desinfektions- und Reinigungsmittel, Pestizide aller Art für die Zimmerpflanzen und den Hausgarten, Insektizide gegen Stechmücken, Imprägnierungssprays für Kleider und Schuhe, Lösungsmittel, Farben und Lacke, Möbelpolituren, Spachtelmassen, Fugendichtmassen, Kleber, Holzschutzmittel, usw.

Hinzu kommen die chemischen Belastungen aus der Umwelt, die man nicht mehr selbst durch bewusstes Verbraucherverhalten kontrollieren kann: Schadstoffe in Luft, Wasser, Lebensmitteln, Boden. Genannt seien hier nur die wichtigsten aktuellen Problemstoffe: In den 90er Jahren trat eine neue Generation von Schadstoffen auf, die so genannten POPS, Persistant Organic Polluants: Chlorparaffine, Phthalate, Flammschutzmittel (Brom-Halone), Bromdiphenyl­ether, Nonylphenol-Verbindungen in Lebensmittel-Verpackungen, Moschus-Verbindungen in Parfümen, Tributylzinn und Verwandte, usw.

Diese Stoffe haben drei fatale Eigenschaften gemeinsam: sie sind persistent, d.h. umweltstabil, sie sind hoch toxisch mit vielfältigen negativen Wirkungen auf den Organismus, und sie reichern sich wegen ihrer Fettlöslichkeit in der Nahrungskette sowie bevorzugt im Nervensystem des Menschen an.

Die Chemiebranche produziert inzwischen neue Stoffe, die ebenso gefährlich sein sollen: Sie gelten als krebserregend, hormonell wirksam und wirken hemmend auf die Fortpflanzung. Dazu gehören Triazin-Herbizide wie Atrazin, Phenyl-Harnstoffe, Nitro-Aromaten, Chloralkyl-Phosphate und Chloraniline.

All diese Stoffe sind mit zunehmender Tendenz sowohl in der Umwelt als auch im menschlichen Organismus nachweisbar, dank immer empfindlicherer analytischer Technik. Gleichzeitig nimmt in den letzten Jahren die Zahl der Menschen mit unspezifischen Beschwerden sowie mit chronisch-entzündlichen Krankheiten deutlich zu. Nach Angaben des Chemical Sensitivity-Networks (csn, http://www.csn-deutschland.de) wird der Anteil der Bevölkerung mit Chemikalien-Überempfindlichkeit in den USA auf 15 bis 30 Prozent geschätzt, davon sollen 4 bis 6 Prozent am schweren Krankheitsbild MCS (Multiple Chemikalien-Sensitivität) erkrankt sein. In Deutschland sind diese Zahlen vermutlich nur unwesentlich geringer.

Das vorliegende Buch richtet sich in erster Linie an HausärztInnen, HeilpraktikerInnen und medizinisches Personal, aber auch an Betroffene und Interessierte. Das Buch fasst die wissenschaftlichen Fakten zum Krankheitsbild MCS zusammen und stellt die Krankheitsmechanismen im Immun-, Nerven- und Hormonsystem zusammenhängend dar.
Der fachliche Anspruch muss schon deshalb hoch sein, weil die „Gegenseite“ jede Spekulation und jeden unbegründeten „Freispruch“ von eigentlich psychiatrischen Fällen als „Opfer der Chemieindustrie“ begierig aufgreifen und abqualifizieren würde.
Was ist MCS?
Die Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) erweist sich als eine komplexe, chronische neuro-endokrino-immunologische Entzündungskrankheit mit starker Beeinträchtigung der Funktionen des Nerven-, Hormon- und Immunsystems und erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Auswirkungen.

Die Erklärung für die Ursachen der Krankheit ist zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen – wirtschaftliche, industrielle und staatliche Institutionen auf der einen Seite, Patienten- und Umweltorganisationen sowie Teile des Gesundheitswesens auf der anderen Seite − verständlicherweise nach wie vor umstritten. Je nach den angewandten wissenschaftlichen Kriterien bezweifelt die industrieabhängige Seite weiterhin, dass es grundsätzlich eine kausal begründete Krankheitsursache für MCS sowie auch eindeutige oder einheitliche Biomarker für MCS gibt, und stellt damit das gesamte Krankheitsbild in Frage. Dagegen betont die andere Seite, d.h. namhafte internationale UmweltmedizinerInnen, dass die wissenschaftlichen Befunde ausreichen, um MCS von anderen, ähnlichen Krankheiten diagnostisch eindeutig abzugrenzen. Viele Studien liefern hinreichende wissenschaftliche Befunde, um einen komplexen Sensibilisierungsmechanismus durch Fremdchemikalien im neuro-endokrino-immunologischen Regulationssystem anzunehmen.

Wenn auch verschiedene MCS-Varianten   feststellbar sind, so haben diese doch gemeinsame Merkmale. Alle Varianten von MCS können gegenüber verwandten entzündlichen Multisystem-Erkrankungen entsprechend den Kriterien nach Cullen durch die typischen zwei Phasen
des Krankheitsverlaufs abgegrenzt werden.

In der Phase I erfolgt eine unspezifische Sensibilisierung gegenüber Fremdstoffen durch eine einmalige Exposition von hohen Konzentrationen oder durch lang andauernde Expositionen niedriger Konzentrationen bestimmter Chemikalien, gefolgt von einer länger dauernden Phase II, in der unspezifische Symptome durch die alltäglichen akuten Expositionen mit niedrigen Konzentrationen von anderen Chemikalien ausgelöst werden.

Die bei MCS-PatientInnen wirksamen symptomauslösenden Konzentrationen liegen um 3 bis 6 Größenordnungen niedriger als diejenigen, die bei nicht-sensibilisierten Personen Reizwirkungen auslösen (Ashford, Miller, 1998). Dabei haben die Patienten eine unspezifische Überempfindlichkeit gegenüber einem großen Spektrum von Chemikalien erworben.

Diese unspezifische chemische Sensibilisierung entwickelt sich innerhalb von Monaten nach der auslösenden Exposition und bleibt über Jahre bestehen. Die unspezifische Überempfindlichkeit gegen ein großes Spektrum von körperfremden Stoffen unterscheidet das Krankheitsbild MCS eindeutig von dem einer chronischen Chemikalien-Allergie, bei dem spezifisch reagierende Antikörper (IgE) oder Antigen-spezifische zytotoxische T-Zellen nachweisbar sind. Verschiedene hormonelle und nervliche Rückkopplungskreise führen zur Verstärkung der Symptome und zu einer Absenkung der Wirkungsschwelle von Fremdchemikalien.

Damit bestätigt sich die in früheren Publikationen geäußerte Vermutung, dass es sich bei MCS um eine Überlastung der Anpassungsfähigkeit des Immun-, Nerven und Hormonsystems und damit des gesamten Organismus als Folge von chemischem Stress handelt.
Gesundheitspolitische Aspekte
Auch wenn die fachliche Faktenlage bezüglich MCS und anderer Formen der Chemikalien-Überempfindlichkeit erdrückend ist, weigert sich nahezu das gesamte Gesundheitswesen in Einklang mit Pharma- und Chemieindu­­­­­­strie Fremdchemikalien generell als Krankheitsursache anzuerkennen.

Die Umweltmedizin ist in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite die lediglich fünf „umweltmedizinischen Ambulanzen“ an den großen Universitätskliniken, die für sich selbst mit dem Qualitätsurteil der „evidence based medicine“ (EBM) ein Alleinvertretungsrecht geltend machen, und auf der anderen Seite die als „Nischen- oder Komplementärmediziner“ abqualifizierten Umweltmediziner, die umweltmedizinische Krankheitsbilder nach dem internationalen Stand der Forschung anerkennen und entsprechend behandeln. Die EBM-AnhängerInnen behaupten in Einklang mit der Chemischen Industrie, dass es für Chemikalien-Überempfindlichkeit einschließlich MCS immer noch keine „schlüssigen Beweise“ gebe, und dass noch Forschungsbedarf bestehe. Sie ignorieren schlicht den aktuellen Forschungsstand.

Mit entsprechender Begründung ordnet z.B. Professor Eikmann von der umweltmedizinischen Ambulanz der Uni-Klinik Gießen nach eigenen Angaben regelmäßig etwa 90 Prozent der von Hausärzten dorthin überwiesenen Umweltpatienten als psychiatrische Fälle ein und schickt sie in entsprechende Behandlung mit Psychopharmaka, wie z.B. Neuroleptika, die erwiesenermaßen das Krankheitsbild MCS verstärken. Mitglieder von Selbsthilfegruppen berichten hierüber wahre Horrorgeschichten. Eikmann betreibt somit offenbar systematisch ärztliche Kunstfehler.

Kein Wunder, wenn die Ärztekammern die „offiziellen“ Umweltambulanzen als einzige Adressen zur Behandlung umweltmedizinischer Krankheiten bei den Hausärzten angeben und andere Kliniken, die MCS anerkennen, schlicht boykottieren.
Da steckt System dahinter, ebenso wie beim Gutachter-Unwesen an den Gerichten: Die dortigen Listen enthalten stets Adressen von Gutachtern, die sich in Prozessen zur Anerkennung von Berufskrankheiten im Sinne der Arbeitgeber „bewährt“ haben. Gutachter, die Chemikalien-Überempfindlichkeit oder gar ausdrücklich MCS als Krankheitsbild bescheinigen, gelten als fachlich unqualifizierte „Komplementär-Mediziner“ und werden aus den Listen der Gerichte gestrichen. Es funktioniert, das System – noch!

 

TiPP!
Das Buch von H.U. Hill ist im Shaker-Verlag 2005 erschienen

ISBN: 3-8322-4583-9

 

 

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