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Leserbrief zum Interview mit Freerk Huisken, Avanti Juni 2009: Das Unbegreifliche begreifen

Von Pierre Vandevoorde & Franck Richard | 01.07.2009

Wir sind mit den Ausführungen von Freerk Huisken und seiner Kritik des bürgerlichen Bildungssystems und der Beschreibung der Verheerungen, die es in der Jugend anrichtet, zu 100 % einverstanden, insbesondere die Anforderungen an eine wahrhafte Bildungspolitik sind sehr gut auf den Punkt gebracht.

Wir sind mit den Ausführungen von Freerk Huisken und seiner Kritik des bürgerlichen Bildungssystems und der Beschreibung der Verheerungen, die es in der Jugend anrichtet, zu 100 % einverstanden, insbesondere die Anforderungen an eine wahrhafte Bildungspolitik sind sehr gut auf den Punkt gebracht.

Das bürgerliche Bildungssystem dient Huisken auch als Erklärung für die Schulmassaker in Winnenden, Erfurt und Emsdetten, wobei er die Amokläufer neben dem „Produkt von schulischen Lernvorgängen“ auch als Produkt von „außerschulischen Lernvorgängen“ sieht. Letztere präzisiert er in anderen Texten als die „frustrierenden Erfahrungen in Familie… und Bekanntenkreis“ und die  „Zumutungen von Familie…“. Wir wollen hier ansetzen, die Aufmerksamkeit auf diese „Zumutungen“ lenken und die psychologischen Ursachen der Amokläufe in den Vordergrund stellen.

Wir sprechen hier das Thema der Kindesmisshandlung an, wobei der Begriff nicht nur die körperliche Misshandlung meint, sondern sämtliche Formen von Missbrauch umfasst, die die Integrität des heranwachsenden Kindes nachhaltig verletzen. Wir folgen hier gänzlich dem Diskurs der Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller, die als Erste erkannt hat, dass ein Zusammenhang zwischen Kindesmisshandlung und Gewaltbereitschaft besteht. Die verheerenden Folgen der Traumatisierung des Kindes schlagen unweigerlich auf die Gesellschaft zurück, wenn die lebenswichtigen Bedürfnisse des Kindes frustriert werden. Und es kommt des Öfteren vor, dass ein Kind, anstatt Zuwendung, Achtung und Schutz zu genießen, für die Bedürfnisse Erwachsener ausgebeutet, geschlagen, gestraft, missbraucht, manipuliert, vernachlässigt, verspottet, gedemütigt und betrogen wird, ohne dass je ein Zeuge eingreift und zu Hilfe kommt. So wird die Integrität des Kindes nachhaltig verletzt. Die normale Reaktion wäre Schmerz, Zorn und Wut auf die Eltern. Aber da das Erlebnis der Schmerzen in der Einsamkeit unerträglich wäre, muss es diese Gefühle unterdrücken, die Erinnerung an das Trauma verdrängen und seine Angreifer idealisieren. Das Kind, das von frühester Kindheit an lernt zu meinen, Gewalt und Bestrafung zu verdienen und dies als Liebe zu verwechseln, weiß später nicht, was ihm angetan wurde.  Die nun von ihrem eigentlichen Grund abgespaltenen Gefühle von Zorn, Ohnmacht, Verzweiflung, Sehnsucht, Angst und Schmerz, verschaffen sich dennoch Ausdruck in zerstörerischen Akten.

In diesem Sinne handelt es sich bei den Amokläufern tatsächlich nicht um Menschen mit „geistigem Defekt“, sondern um Menschen, die in der Kindheit seelisch schwer verletzt wurden, diese Verletzungen aber, um zu überleben, verdrängen mussten. Später wird die Wut auf diese Verletzungen ausgelebt, jedoch nicht gegen die eigentlichen Verursacher, sondern in einem zerstörerischen Akt gegen sich und andere gerichtet.  Es ist die Verleugnung der durch die erlittene Gewalt entstandenen Leiden, die Tim K. in Winnenden zur wandelnden Zeitbombe und dann schließlich durch einen Anlass zum Gewaltverbrecher werden ließ. Die für den Gewaltausbruch verantwortlichen destruktiven Kräfte speisen sich also sehr wohl aus einem Hass gegen die Demütigungen des auf Gängelung und Zurichtung ausgerichteten Bildungssystems und insofern ist das Bildungssystem für die Amokläufe sicherlich verantwortlich (Tatort Schule). Aber mindestens genauso scheinen für uns die tiefer liegenden psychologischen Ursachen und die mächtigen archaischen Gefühle der Kindheit zugrunde zu liegen (Tatort Familie).

Die Thematik des Kindesmissbrauchs und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft hat im marxistischen Diskurs, gleich welcher Strömung, unseres Wissens noch keinen Eingang gefunden, obwohl unser Kompass, der Marx’sche Imperativ es gebietet, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Der revolutionäre Marxismus hat es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, neue theoretische Erkenntnisse und Anstöße neuer sozialer Bewegungen zu integrieren und im dialektischen Sinne alle wissenschaftlichen Fakten und Faktoren einzubeziehen, um die Welt zu erklären und zu erkennen. Die Aneignung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Auswirkungen des Kindesmissbrauchs, insbesondere das Werk von Alice Miller, gehört unserer Ansicht nach dazu.

*    Franck Richard, Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) Compiègne
*    Pierre Vandevoorde, NPA Louviers, Übersetzer des letzten Buches von A. Miller ins Französische.

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