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Linke

Leserbrief: Neue und alte Feindbilder

Von Jan, Leipzig | 01.01.2009

Die Leserbriefe, mit denen der Beitrag des Genossen Gabriel kritisiert wird, schießen über das Ziel hinaus und offenbaren eine wenig reflektierte Haltung, die sich fälschlicherweise als aufklärerisch versteht. Was hier an Äußerungen gegen anders Denkende und Empfindende getroffen wird, kann von den Betroffenen als Beleidigung verstanden werden und ist schon deshalb nicht emanzipativ.

Die Leserbriefe, mit denen der Beitrag des Genossen Gabriel kritisiert wird, schießen über das Ziel hinaus und offenbaren eine wenig reflektierte Haltung, die sich fälschlicherweise als aufklärerisch versteht. Was hier an Äußerungen gegen anders Denkende und Empfindende getroffen wird, kann von den Betroffenen als Beleidigung verstanden werden und ist schon deshalb nicht emanzipativ.

Zum Islam: Der Islam ist die einzige Religion, die von den herrschenden Eliten in den imperialistischen Zentren permanent angegriffen und verteufelt wird. Die Bourgeoisie hat kein Problem mit dem Islam, weil dieser frauenfeindlich wäre, denn das ist sie selbst immer gewesen. Dass der Islam an sich frauenfeindlich ist, sogar die „frauenfeindlichste Religion“, wird nichtmal ansatzweise belegt. Alle Klassengesellschaften sind patriarchale Gesellschaften und sexistische Verhaltensweisen können nur von Menschen praktisch ausgeübt werden, die dann dazu in einer bestimmten Interpretation ihrer jeweiligen Offenbarung eine Bestätigung finden oder eben anderswo. Dass es wie bei allen Religionen auch im Islam – gerade in Ermangelung einer dogmen-bildenden Institution wie der Kirche – unzählige (auch sozialistische) Ausrichtungen gibt, sollte bedacht werden, bevor man 1,3 Mrd. Menschen pauschal als unzurechnungsfähig deklariert. Übrigens: Das Kopftuch-Gebot entspringt dem Judentum und findet sich auch in den frühchristlichen Paulusbriefen wieder: „Will sie sich nicht bedecken, so schneide man ihr auch das Haar ab“ (1.Kor. 11,6).

Der Grund für die Angriffe der christlichen Bourgeoisien auf den Islam ist: Er hat die meisten AnhängerInnen in den unterentwickelt gehaltenen Ländern, er ist die Religion der Arm­en in der Welt und der MigrantInnen in den Metropolen. Allein das zeigt schon die Absurdität einer Islamkritik aus „Gerechtigkeit“ („wir kritisieren ja alle Religionen“). Die Millionen AfrikanerInnen etwa, die zu Beginn der Neuzeit von den „christlichen“ Sklavenhändlern nach Amerika verschleppt wurden, übernahmen machtlos, die Religion ihrer Herren, vermischt freilich mit eigenen Glaubensbestandteilen und mit eigener Interpretation. Diejenigen, die heute – vor allem aus ökonomischem Druck – in die imperialistischen Zentren einwandern und dies in der Regel schon mit rassistischer Unterdrückung bezahlen, gehören auch schon einer Religion an. Sie geben diese dann aber oft nicht zugunsten eines in der Tat dekadenten westlichen „Way of life“ oder eines auf fünf Tage pro Jahr beschränkten „Christentums“ auf. Das können ihnen die hiesigen Herrschenden nicht verzeihen. Dass sich innerhalb der vielfältigen islamischen Kultur auch reaktionäre Strömungen ausbilden, ist Produkt der permanenten Aggression des „aufgeklärten“ Westens gerade gegen Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Auch hat schon der europäische Kolonialismus das Gesicht der islamischen Kultur verändert. Doch in einem Leserbrief wird die effektive Gewaltrichtung im imperialistischen Weltsystem einfach umgedreht: „Die Islamisten drängen auf breiter Front in alle Welt…“. Der Bezug auf unsere Genossinnen und Genossen in Mindanao ist falsch. Gerade sie unterstützen das Recht der muslimischen Bangsamoro-Bevölkerung auf nationale Selbstbestimmung! Die Forderung (?) von Gabriel nach „Staatsknete“ für den Islam legt von daher ganz einfach den rassistischen Charakter dieses Staates offen. Doch warum sollten wir stellvertretend für die Muslime in der BRD derartiges fordern? Sie selbst wollen ja in der Regel maximal vom Staat in Ruhe gelassen werden.

Zum Thema Religion und Sozialismus: Der aufgemachte Gegensatz zwischen Religiosität einerseits und Fortschritt andererseits ist nur vordergründig plausibel, davon zeugen nicht nur Thomas Müntzer und Ernst Bloch. So war der irische Revolutionär James Collony ein bedeutender Marxist und zugleich praktizierender Katholik. Die Socialist Party of America hatte über 20 Jahre einen „Pfaffen“ als Vorsitzenden. Die Indígena, Sozialistin und Methodistin Casimira Rodríguez gehörte der Regierung Morales in Bolivien an. Viele christliche Basisgemeinden gehören zu den letzten Rückzugspunkten, wo überhaupt noch über das Unrecht in der Welt, über Alternativen zur kapitalistischen Mentalität reflektiert wird. Die Ansicht, die Religiosität würde abnehmen, wenn nur weniger Gotteshäuser vorhanden wären, mechanisiert Bewusstseinsprozesse, wie überhaupt die Ausblendung der Notwendigkeit der subjektiven Reproduktion von Gedanken. Warum haben wir in Italien ständig Generalstreiks und in Ostdeutschland nie, wenn der Glaube die Ursache für Passivität ist? Eine Forderung von Religionsfreiheit unter der Bedingung, dass nicht missioniert werden dürfe, ist Zensur und herablassend gegenüber den Gläubigen und schafft erst die vermeindlichen Opfer, da ihnen die Fähigkeit zu einer kompetenten Meinungsbildung abgesprochen wird.

Das Problem einer positiven normativen Moralbegründung, das sich auch bei jeder Kapitalismuskritik stellt, soll hier gar nicht thematisiert werden. Auch übten die Menschen in der kommunistischen Gesellschaft des Neolithikums (Bsp. Catal Hüyük) sakrale Handlungen aus, obwohl es keine herrschenden Manipulateure gab. Ebenso wartet Engels‘ These, die Wissenschaft würde schon bald Leben selbst erzeugen können, seit 128 Jahren darauf, aus dem Kinderparadies des Materialismus abgeholt zu werden. Die völlige Kohärenz von Bewusstseinszuständen ist letztlich ein frühbürgerliches Phantasma. Und so kann es uns nicht hilfreich sein, immer neue und alte Feindbilder zu finden, bzw. aufzuwärmen.

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