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Länder

Kurdistan-Türkei: Vertriebene fordern Rückkehrrecht in ihre Dörfer

Von Brigitte Kiechle | 01.05.2005

Nach offiziellen Angaben der türkischen Regierung sind während des Krieges in den Kurdengebieten zwischen 1984 und 1999 in der Südosttürkei etwa 350.000 Menschen aus 3.428 Dörfern „evakuiert“ worden. Dies ist eine beschönigende Untertreibung der tatsächlichen Gegebenheiten.

 
Mit den Zwangsräumungen und der Zerstörung tausender Dörfer wollte die Armee die Unterstützungsstrukturen der PKK-Guerilla zerschlagen. Die Zivilbevölkerung in den umkämpften Regionen selbst wurde von den Militärs zum Feind erklärt und unmittelbares Objekt der Aufstandsbekämpfung. Während der Vertreibungsaktionen kamen Tausende ums Leben, Hunderte zählen zu den sogenannten „Verschwundenen“. Die Menschen mussten unter Zwang von einem Tag auf den anderen ihre Dörfer verlassen. Mitnehmen konnten sie nur was sie tragen konnten. Das Vieh wurde von den Militärs getötet, viele Dörfer vollkommen zerstört. Ein Zufluchtsort wurde ihnen nicht zugewiesen. Viele leiden noch heute an den traumatischen Erlebnissen. Die ganze Problematik wird erst deutlich, wenn man die wirklichen Vertreibungszahlen zur Kenntnis nimmt. Nach den Erhebungen von Nicht-Regierungsorganisationen wurden mehr als 3.700 Dörfer und Weiler geräumt. Die Zahl der Vertriebenen wird auf über 3 Millionen Menschen geschätzt. Es setzte eine Binnenmigration von den Dörfern in die kurdischen Städte und weiter in die West-Türkei ein. Viele versuchten vor der staatlichen Repression und Perspektivlosigkeit in ihrem Heimatland nach West-Europa zu fliehen.

Im Elend der Großstadt

Die meisten der Vertriebenen wohnen heute in den Elendsquartieren der Großstädte. Allein in Diyarbakir ist z.B. die Einwohnerzahl durch den Flüchtlingszustrom von ca. 300.000 im Jahr 1990 auf heute über eine Million angestiegen. Die hiermit verbundenen sozialen Probleme wie Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Armut liegen auf der Hand und lassen kaum Möglichkeiten zur Integration der Flüchtlinge. Diejenigen, denen es trotz aller Widrigkeiten in den letzten 10 bis 15 Jahren gelungen ist wenigstens ansatzweise in den Städten eine Lebensperspektive zu entwickeln, wollen heute nicht mehr zurück in die Dörfer. Dies gilt sicher auch für einen Großteil der jungen Leute, die ganz oder hauptsächlich in der Stadt aufgewachsen sind und mit den Lebensbedingungen in den Dörfern nicht vertraut sind. Für den überwiegenden Teil der Flüchtlinge ist die Rückkehr in die Dörfer jedoch immer noch das vorrangige Ziel. Der Hoffnungslosigkeit eines Lebens in den Armutsgürteln der Großstädte wird ein Leben auf dem Dorf mit Sicherung des Existenzminimums durch Selbstversorgung durch Vieh- und Landwirtschaft vorgezogen. Darüber hinaus geht es auch darum, dem türkischen Militär und der türkischen Regierung grundsätzlich das Recht abzusprechen mit dem Mittel der Entvölkerungspolitik dazu beizutragen, die kurdische Frage in ihrem Sinne zu lösen.
Die Türkei hat sich gegenüber der UN und der EU verpflichtet, für die freiwillige Rückführung der Vertriebenen zu sorgen. Im Vorfeld der Entscheidung über die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen wurden von der türkischen Regierung Erfolgsmeldungen nach Brüssel abgegeben: 125.000 Menschen seien bereits in ihre Dörfer zurückgekehrt. Entsprechend der offiziellen Darstellung, nach der es sowieso nur 350.000 Vertriebene gibt, wäre dies mehr als 1/3 der Betroffenen. Gemessen an den tatsächlichen Vertriebenenzahlen ist für Erfolgsmeldungen jedoch kein Anlass. Darüber hinaus wird von Betroffenenorganisationen wie dem MigrantInnenverein „Göc Der“ und auch Human Rights Watch selbst die Zahl 125.000 angezweifelt. Danach liegt die Zahl der Rückkehrer allerhöchstens bei 1/5 der offiziell genannten Zahlen, d.h. bei 25.000.
Die bisherigen Rückkehrprojekte des Staates haben nichts zur Lösung beigetragen. Nach Empfehlungen der UN von 2002 sollte eine besondere Behörde für die Rückführung der Vertriebenen eingerichtet werden,es bestand die Aufforderung, mit anderen Ländern in dieser Frage zu kooperieren und insbesondere die Vertriebenen zu entschädigen. Nichts davon wurde selbst von diesen unzureichenden Vorgaben bisher tatsächlich umgesetzt.

Projekt Großdorf-Siedlung

Zunächst bestand das Projekt der Regierung darin neue Großdorf-Siedlungen zu errichten. Dies würde die Möglichkeit noch besserer Überwachung der neuanzusiedelnden Menschen bedeuten, standen sie doch alle kollektiv vor ihrer Vertreibung unter dem Verdacht der PKK-Unterstützung. Die Großdorf-Siedlungen wurden von den Flüchtlingen verständlicherweise nicht angenommen. Dorthin umzusiedeln würde bedeuten, sich praktisch freiwillig unter Militärbeobachtung zu stellen. Die errichteten Model-Großdörfer befinden sich selbstverständlich in enger Anbindung an Militär- und Polizeikasernen, von denen insbesondere die Zufahrtsstraße zu den Dörfern leicht zu kontrollieren ist.
Auch das laufende „Rückkehr in die Dörfer“-Projekt kommt nur schleppend voran. Rückkehrwilligen, die z.B. als Mitglieder der DEHAP bekannt sind, wird die Rückkehr von Militärs und Dorfschützern verweigert. Unabhängig davon fehlen bisher alle von den Vertriebenen geforderten Mindestvoraussetzungen für eine Rückkehr. Dazu gehören:
Wiederaufbau der Dörfer
Viele zerstörte Dörfer sind nach wie vor völlig unbewohnbar. Es gibt darüber hinaus keinerlei Infrastruktur, weder Elektrizität, noch Schulen, noch Verkehrsverbindungen.
Abschaffung des Dorfschützersystems
Das Dorfschützersystem ist Teil der Aufstandsbekämpfung in den kurdischen Gebieten. Die Dorfschützer sind vom Staat angeworbene und bezahlte Milizionäre. Etwa 60.000 stehen derzeit immer noch in staatlichen Diensten und stellen in den Dörfern und den ländlichen Regionen die unterste staatliche Repressionsebene d
ar. Überwachung und Einschüchterung der Dorfbevölkerung gehört zu ihren Standardaufgaben. Die Dorfschützer beteiligen sich jedoch auch an Militäroperationen gegen die Guerilla und vermutete Unterstützer.
Rückkehrer sehen sich nach wie vor der Kontrolle und Unterdrückung durch die Dorfschützer ausgesetzt. Viele nicht zerstörte Dörfer wurden darüber hinaus zwischenzeitlich einfach von Dorfschützern „übernommen“. Sie verweigern den rechtmäßigen Besitzern von Haus und Land die Rückkehr.
Räumung der Landminen
Das Militär hat die Umgebung vieler Dörfer mit Landminen versehen, um den Zugang der Guerilla zu den Dörfern zu verhindern. Die Minen behindern nun Land- und Viehwirtschaft, stellen sie doch ein unkalkulierbares, meist tödliches Risiko dar. Die EU hat finanzielle Unterstützung für die Minenräumung zugesagt. Bis jetzt sind jedoch von türkischer staatlicher Seite keinerlei Bemühungen zur Räumung der Minen zu erkennen.
Entschädigung für die Vertriebenen
Bis zum Sommer 2004 mussten Rückkehrwillige unterschreiben, dass ihre Dörfer von der PKK zerstört wurden und sie auf jegliche Schadenersatzforderung gegenüber dem Staat verzichten. Für die meisten eine völlig unannehmbare Bedingung. Im Juni 2004 ist ein Gesetz zur Schadensregulierung für „Schäden im Zusammenhang der Terrorbekämpfung“ erlassen worden, mit dem zum ersten Mal prinzipiell die Möglichkeit der Entschädigung eingeräumt wird. Rechtsanwalt Ahmet Kalpak, Vorsitzender des MigrantInnenvereins „Göc Der“ in Diyarbakir bezeichnet das neue Gesetz als völlig unzureichend, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Zumindest der Rechtsweg sei damit eröffnet. Seine Organisation fordere die Betroffenen auf, entsprechende Anträge zu stellen und kooperiere auch mit Anwälten zur Durchsetzung der geltend gemachten Ansprüche. Bis jetzt sei jedoch noch völlig offen, in welcher Höhe und ob Entschädigungen bezahlt werden. Nur bei einem Todesfall im Zusammenhang der Terrorbekämpfung hat sich die Regierung bisher festgelegt: Den betroffenen Familien sollen 1.000 Dollar bezahlt werden! Haupthindernis bei der Durchsetzung von Schadenersatzzahlungen ist jedoch die Anforderung, den Schaden durch ein offizielles Protokoll über die Zerstörungen nachzuweisen. Dies dürfte praktisch unmöglich sein. Es ist nichts anderes als die Aufforderung an die Täter, von sich aus Beweise über ihre Verbrechen vorzulegen.

Sicherheitsgarantien

Für die Rückkehrer gibt es bisher keine ausreichende Lebenssicherheit. Bisher wird nur eine Rückkehr in Dörfer, die nicht weiter als 5 km von einer größeren Verbindungsstraße entfernt liegen, zugelassen. Die Dörfer können so jederzeit durch das Militär schnell erneut geräumt werden. Entscheidender ist jedoch, dass die Entvölkerungspolitik der ländlichen Gebiete im Südosten der Türkei offensichtlich immer noch fortgesetzt wird. So wurde auch in den letzten Jahren vereinzelt von Zwangsräumungen berichtet. Insbesondere nach dem Wiederaufleben der Kämpfe zwischen Armee und PKK seit Mitte 2004 nehmen Vertreibungsmaßnahmen im Zuge der Militäroperationen wieder zu. Offizielles Ziel der Operationen ist es, die militärischen Einheiten der PKK aufzureiben. In den Operationsgebieten wurde und wird die gesamte Gegend systematisch von Soldaten durchkämmt. Unter dem Vorwand der Durchsuchung wurden in mehreren Dörfern zielgerichtet Stallungen zerstört, es wurden Ernten angezündet, Brunnen und Quellen vergiftet um den Dorfbewohnern die Lebensgrundlage zu entziehen. Gleichzeitig wurde die gesamte Gegend zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Den Dorfbewohnern bleibt in dieser Situation nichts anderes übrig als ihre Dörfer zu verlassen. Die Regierung spricht wie immer in diesen Fällen von „Freiwilligkeit“.

Fazit

Die notwendigen Mindestgarantien für eine Rückkehr machen deutlich, dass die Rückkehrerfrage im gesamtpolitischen Kontext gesehen werden muss und auch nur so gelöst werden kann. Nur wenn die kurdische Frage insgesamt gelöst wird, kann es auch eine Perspektive für die Vertriebenen geben. Angesichts der bisherigen Verhältnisse in den kurdischen Dörfern wären mit einer Wiederbesiedelung der Dörfer auch neue Formen der Selbstorganisation und kollektiver Bewirtschaftungsmöglichkeiten zu diskutieren. Eingebettet in ein solch weitergehendes politisch-soziales Projekt könnte die Rückkehrerforderung zentrale Bedeutung für die weiteren Perspektiven des kurdischen Befreiungskampfes in der Türkei erhalten.

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