TEILEN
Länder

Kampffähig im Krisenbogen

Von Harry Tuttle | 01.02.2005

Zielstrebig baut die EU ihre Militärmacht aus. Deutschland übernimmt dabei eine Führungsrolle.

Die Entscheidung sei ein erster Schritt zu einer europäischen Sicherheitspolitik „aus einem Guss“, frohlockte die grüne Abgeordnete Angelika Beer. Die Freude der ehemaligen verteidigungspolitischen Sprecherin der Grünen galt dem im November gefassten Beschluss, zunächst dreizehn EU-Kampftruppenverbände mit jeweils 1500 Soldaten für Militärinterventionen aufzustellen. Noch in diesem Jahr soll der erste Verband einsatzbereit sein, ab 2007 sollen zwei Einsätze gleichzeitig möglich sein.
Während des Kosovo-Krieges 1999 hatte Beer noch wortreich ihren „tiefen inneren Konflikt“ und ihre „Zerrissenheit“ beklagt. Mit dieser Schüchternheit ist es nun vorbei. Die Grünen können neue Militärinterventionen kaum noch abwarten. „Ich verhehle nicht: Aufgrund unserer nationalen Position wären wir gerne weitergegangen“, gestand Außenminister Joschka Fischer, als der UN-Sicherheitsrat keine Militärintervention im Sudan beschließen wollte.

Verpflichtung zur Aufrüstung

Weit konsequenter als unter Helmut Kohl wurde die Militarisierung der deutschen Außenpolitik unter Gerhard Schröder vorangetrieben. „Nationale Interessen“, etwa des Anspruchs auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, werden offensiver vertreten. Während Schröder es nicht mehr für unanständig hält, auch von wirtschaftlichen Interessen zu sprechen, sind die Grünen dafür zuständig, Militärinterventionen als „humanitäre Notwendigkeit“ darzustellen.
In militärischer Hinsicht ist Deutschland jedoch nur im Rahmen der EU handlungsfähig. Die Bundesregierung gehört deshalb zu den treibenden Kräften bei der Militarisierung der EU-Politik und der Bündelung der Militärmacht der EU-Staaten. Auch innerhalb der EU gibt es politische und wirtschaftliche Rivalitäten. Doch allen EU-Regierungen ist klar, dass sie allenfalls gemeinsam das Machtgefälle zu den USA aufholen können.
In der so genannten Verfassung der EU (die ein Vertrag zwischen souveränen Staaten ist) wird die Militärpolitik „aus einem Guss“ deshalb festgeschrieben. Die EU setzt sich das Ziel der „schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik“, sie verpflichtet alle Mitgliedsstaaten dazu, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik „aktiv und vorbehaltlos“ zu unterstützen. Die Mitgliedsstaaten „enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte“ und sind verpflichtet, für diese Ziele „zivile und militärische Fähigkeiten“ zur Verfügung zu stellen.
Aktive Friedenspolitik ist zwar ohnehin von keiner EU-Regierung zu erwarten, die „Verfassung“ würde sie aber auch gar nicht mehr gestatten. Mehr noch: In einer weltweit einmaligen Bestimmung werden die Mitgliedsstaaten sogar zur Aufrüstung bis in alle Ewigkeit verpflichtet: „Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.“ Überwacht wird das durch eine Europäische Verteidigungsagentur.

Missionen und Präventivkrieg

Die Entscheidung über Krieg und Frieden wird zwischen den Regierungen im Europäischen Rat und Ministerrat ausgehandelt. Damit renitente Abgeordnete und unerwartete Mehrheiten keine Störungen verursachen können, soll das europäische Parlament nur „gehört“ und „auf dem Laufenden gehalten” werden. Entscheidungsbefugnisse hat es nicht, eine weitere Schwächung des Parlaments zugunsten der Exekutive. Auch eine Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs ist nicht vorgesehen.
Kriegführung außerhalb des EU-Territoriums gilt mittlerweile als Selbstverständlichkeit. Die „Missionen“ dienen der „Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“, eine Zielsetzung, die weit über Verteidigung des Territoriums der Mitgliedsstaaten hinausgeht. Zudem ist weder eine Übereinstimmung mit dem Wortlaut der UN-Charta noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erforderlich.
Damit hat sich die EU die gesetzlichen Voraussetzungen für eine fast unbeschränkte Kriegführung, einschließlich des Präventivkrieges („Konfliktverhütung“), geschaffen. In zwei entscheidenden Punkten outet sich die EU sogar als noch militaristischer als die USA. Deren Verfassung kennt keine Aufrüstungsverpflichtung, und die Kontrolle des Parlaments über die Kriegführung des Präsidenten ist derzeit noch stärker als in der EU-„Verfassung“ vorgesehen. Allerdings arbeitet auch Bush fleißig daran, seine Kriegführung dem Zugriff nörgelnder Parlamentarier zu entziehen.

Afrika im Visier

Auf absehbare Zeit werden die USA die stärkere Militärmacht bleiben. Sie geben derzeit etwa 400 Milliarden Dollar (3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) jährlich für militärische Zwecke aus, und in dieser Summe sind die Ausgaben für die ebenfalls zum Teil militarisierten Geheimdienste und den Irakkrieg nicht einmal enthalten. Alle EU-Staaten gemeinsam geben 172 Milliarden Dollar für ihre Armeen aus, das entspricht 1,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Diesen Anteil auf das US-Niveau zu steigern, also fast zu verdoppeln, dürfte politisch kaum durchsetzbar sein.
Zudem wird die Effizienz der EU-Rüstungsausgaben durch die nationale Trennung der Industrie gemindert. An der Lösung dieses Problems wird eifrig gearbeitet. Die Entwicklung einer EU-Rüstungsindustrie durch den Zusammenschluss nationaler Unternehmen, erfolgreich praktiziert bereits beim Luft-, Raumfahrt- und Rüstungskonzern EADS, gehört zu den Prioritäten europäischer Politik.
Relativ weit vorangeschritten ist auch der Aufbau von EU-Kampftruppen. Beim EU-Gipfel in Köln wurde 1999 die Aufstellung einer „Schnellen Eingreiftruppe“ (Rapid Response Force) beschlossen, die aus 80 000 SoldatInnen bestehen soll. Mit 18 000 SoldatInnen und 108 von 383 Kampfflugzeugen stellt die Bundeswehr das mit Abstand größte Kontingent der Truppe.
Die nun beschlossene Aufstellung kleinerer Kampftruppenverbände ist eine Ergänzung dieses Konzepts. Unermüdlich behaupten die verantwortlichen Politiker, sie sollten vor allem für „humanitäre“ Einsätze unter UN-Mandat zur Verfügung stehen. Etwas offenherziger verkündet das Bundesverteidigungsministerium, dass sie „unter anderem für Einsätze der Vereinten Nationen zur Verfügung stehen sollen.“
Wo und wie „unter anderem“ noch interveniert werden soll, lassen die Verantwortlichen offen. Die „Schnelle Eingreiftruppe“ soll in einem Radius von 4000 Kilometern einsatzfähig sein. Dieses Gebiet deckt sich recht genau mit dem so genannten Krisenbogen, der sich nach Ansicht westlicher Militärstrategen über das nördliche Afrika, den Nahen Osten und den Kaukasus erstreckt. Die kleineren und mobileren Einsatzgruppen wären aber auch außerhalb dieses Gebietes kampffähig. Recht deutlich wird bek
undet, dass die EU insbesondere Afrika ins Visier nehmen will.

Abkehr von der NATO

Obwohl Militärs und Politiker nicht müde werden, das Gegenteil zu betonen, bedeutet die größere Eigenständigkeit der EU-Militärmacht eine tendenzielle Abkehr von der NATO. Die Schwächung des mächtigsten westlichen Militärbündnisses könnte ein Anlass zur Freude sein. Doch die Militarisierung der EU-Politik dürfte die Zahl der Kriege und Militärinterventionen eher erhöhen.
Nicht Pazifismus, sondern konkurrierende wirtschaftliche und politische Interessen brachten Deutschland und Frankreich zur Ablehnung des Irakkrieges. Und wenn die EU in den Beziehungen zum Iran auf Diplomatie setzt, während die US-Regierung den Recherchen des Journalisten Seymour Hersh zufolge einen Militäreinsatz zur Zerstörung der iranischen Atomanlagen vorbereitet, so ist der Hintergrund die europäische Hoffnung auf gute Geschäfte mit dem Regime der Ayatollahs.
In den internationalen Beziehungen stellt sich die EU gerne als friedliche Alternative zu den USA dar. Der militärische Rückstand soll so in politisches Kapital umgemünzt werden, zumal das Image der USA derzeit schlechter denn je ist. Was an Panzern und Bombern fehlt, soll durch ökonomische Einflussnahme kompensiert werden. Der Anteil der EU am Welthandel liegt mit über 20 Prozent fast fünf Prozent über dem der USA. Auch bei der „Entwicklungshilfe“, die meist eher politischer Einflussnahme und der Schaffung ökonomischer Abhängigkeiten dient als der Bekämpfung der Armut, hat die EU die Nase vorn. Schon steht der Dollar als globale Leitwährung zur Disposition. Sollte beispielsweise der Ölhandel in Euro abgewickelt werden, würde das die Position der USA empfindlich schwächen.

Mitsprache über Atomwaffen

Ohne die Fähigkeit zu „robusten Interventionen“ kommt jedoch keine imperialistische Führungsmacht aus. Für die EU geht es derzeit noch nicht um groß angelegte Invasionen in der Art des Irakkrieges. Im Mittelpunkt des Interesses stehen Interventionen zur Kontrolle von Bürgerkriegsstaaten, für die vergleichsweise kleine Truppenkontingente wie die EU-Einsatzgruppen notwendig sind. Bei solchen Interventionen wurden bislang jedoch nie mehr als 20 000 SoldatInnen eingesetzt.
Die „Schnelle Eingreiftruppe“ mit ihren 80 000 SoldatInnen erscheint für diese Zwecke also etwas überdimensioniert. Betrachtet man die Truppe als erstes Kampfkontingent, dem weitere Einheiten folgen könnten, wäre die EU auch in der Lage, einen größeren Krieg zu führen. Dass Frankreich, ebenso wie die USA, sein Atomwaffenarsenal modernisieren und „mini nukes“ (Nuklearwaffen mit begrenzter Sprengkraft, die nicht gleich ganze Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar machen) herstellen will, spricht ebenfalls für aggressive Pläne. Über die gemeinsame Militärpolitik dürfte auch Deutschland Mitspracherecht über das Atomwaffenarsenal der EU erhalten.
Die EU-Staaten nutzen jede Gelegenheit, zuletzt die Tsunami-Katastrophe, zur Imagepflege für ihr Militär. SoldatInnen sollen als humanitäre Helfer und Retter in der Not erscheinen, die eigentlich nur so nebenbei ein Gewehr tragen. Doch die Konkurrenz und die Konflikte in der Weltpolitik verschärfen sich. Die Politiker der EU verzichten auf die brachiale Rhetorik eines George W. Bush und den rabiaten Humor eines Donald Rumsfeld, ihre Waffen aber sind nicht weniger tödlich und ihre Ziele nicht weniger imperialistisch als die der USA.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite