TEILEN
Länder

Israel/Palästina: Israels Doppelschlag gegen den Libanon und Palästina

Von Gilbert Achcar & Paola Mirenda | 01.09.2006

 {mosimage}

Dieses Interview wurde am 15. Juli 2006 geführt von Paola Mirenda für die italienische Tageszeitung Liberazione, die Zeitung der Partido della Rifondazione Comunista (PRC).

Dieses Interview wurde am 15. Juli 2006 geführt von Paola Mirenda für die italienische Tageszeitung Liberazione, die Zeitung der Partido della Rifondazione Comunista (PRC).

Frage: Seit vergangenen Mittwoch, hat die israelische Armee den Libanon belagert und das Land bombardiert, nachdem zwei ihrer Soldaten von einem libanesische Hisbollah-Kommando entführt und sieben weitere getötet worden waren. Israels Reaktion war zu erwarten, auch in ihrer Unverhältnismäßigkeit. Welche politischen und strategischen Gründe stecken hinter dieser Aktion der Hisbollah?

Achar:  Die Begründungen, die die Hisbollah für ihre Aktion abgegeben hat, sind vielfältig. Die erste Begründung betraf sowohl den Versuch eine Freilassung von Gefangenen zu erwirken – man vermutet, dass viele Libanesen sich in israelischer Haft befinden, obwohl von Israel offiziell nur zwei Inhaftierte zugegeben werden (zusätzlich zu etwa 10.000 palästinensischen Häftlingen) – als auch in Solidarität mit dem Kampf der Hamas in Palästina zu handeln, der von ähnlichen Beweggründen inspiriert wird wie der der Hisbollah, und um auf die anhaltenden Anschläge auf den Gazastreifen zu reagieren. Natürlich war es logisch mit dieser gewaltsamen Repressalie von Seiten Israels zu rechnen, in Anbetracht dessen, was es als Reaktion auf die Entführung eines weiteren Soldaten gegen Palästina unternommen hatte.

In dieser Krise sind viele Dimensionen enthalten: internationale Beobachter haben die mögliche Beteiligung Syriens und vor allem des Iran am Geschehen diskutiert, und welche Erwartungen es in Bezug auf die regionalen Kräfteverhältnisse gab. Teheran, dessen Einfluss auf die Hisbollah der gleiche ist wie der Moskaus auf die kommunistischen Parteien zur Zeit der internationalen kommunistischen Bewegung, befindet sich seit einiger Zeit in einem Wettstreit mit rivalisierenden arabischen Regierungen, um die sunnitische moslemische Meinung für sich zu gewinnen. Die provokativen Statements des iranischen Präsidenten Achmadineschad, seit seiner Wahl vor einem Jahr, waren ein Teil dieses Spiels, das zu Teherans Strategie gegenüber den USA passt, seit der amerikanische Druck im Atomstreit voll eskaliert ist. Aber in jedem Fall kann man sagen, das die Hisbollah, durch das, was sie getan hat, eine Machtdemonstration vorgeführt hat, deren Risiken sie teuer zu stehen kommen werden, wie es bereits für den gesamten Libanon der Fall ist.

F: Eine Machtdemonstration gegen Israel oder innerhalb des Libanon?

Achar:  Die Machtdemonstration zielt primär gegen Israel, weil Israel mit seinen Aktionen versucht,   die Widerstandsbewegungen sowohl in Palästina wie auch im Libanon niederzuschlagen. Die jüngsten Ereignisse lieferten einen Vorwand, um sowohl die Hisbollah wie auch die Hamas zu zerschlagen, und die Gewalt der israelischen Militärschläge kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Israel nimmt die gesamten Bevölkerungen als Geisel; das hat es mit dem palästinensischen Volk getan und das gleiche macht es nun auch mit den Libanesen. Es hat den Beiruter Flughafen bombardiert und eine Blockade über das Land verhängt: all dies wegen einer Aktion, zu der sich eine Gruppe im Libanon bekannt hat, nicht der libanesische Staat. Praktisch nimmt Israel in einer unverhältnismäßigen Reaktion die Gesamtbevölkerung als Geisel, mit dem Ziel seinen Gegnern den Boden unter den Füßen weg zu ziehen und die lokalen Kräfte zu zwingen gegen diese vorzugehen. Wenn dies tatsächlich Israels Kalkül ist, könnte es zurückschlagen, weil eine Militäraktion diesen Ausmaßes möglicherweise genau zum Gegenteil führen und die Bevölkerung mehr gegen Israel als gegen die Hisbollah radikalisieren könnte. Die mörderische Brutalität der israelischen Reaktion, die Schließung des Flughafens, die Seeblockade sind alles Akte, durch die die Bevölkerung in einer Revolte gegen Israel vereint werden könnte.

Ich weiß nicht ganz sicher, was das wirkliche politische Kalkül der Hisbollah war, aber sie haben sicherlich eine groß angelegte Reaktion von Israel erwartet, das den Libanon vorher bereits mehrmals besetzt hatte. Aus diesem Grund scheint mir in ihrer Aktion ein deutliches Element an „Abenteurertum“ zu liegen, um so mehr, als das Risiko, das sie damit eingegangen sind, die Gesamtbevölkerung trifft. Sie sind tatsächlich ein hohes Risiko eingegangen, indem sie einen Angriff auf Israel begonnen haben, mit dem Wissen um die enorme Schlagkraft und die Brutalität der Armee, und die Bevölkerung könnte sie für den neuen Krieg und die neue Invasion verantwortlich machen, deren Preis die libanesische Bevölkerung zu zahlen hat.

Nachdem dies klar ist, muss betont werden, dass die prinzipielle Verantwortung für die Eskalation der ganzen Lage bei Israel liegt. Mit ihrem vollkommen widerlichen Verhalten, besonders im Gazastreifen, hat es jüngst einen neuen Höhepunkt erreicht. Nach der Entführung eines Soldaten durch eine palästinensische Gruppe hat die israelische Armee Dutzende und nochmals Dutzende von palästinensischen Zivilisten getötet. Israel kann ungestraft palästinensische Zivilisten verhaften und entführen, aber sobald einige Palästinenser einen ihrer Soldaten kidnappen, um ihn für einen Austausch zu benutzen, greift es zu ungezügelter Gewalt, nimmt ein ganzes Volk als Geisel und bombardiert inmitten einer weltweiten Krisensituation den dicht besiedelten Gazastreifen. Dies ist die Hauptquelle für die Instabilität der ganzen Region – dieses gewaltsame und arrogante Verhalten von Israel, das sich in vollem Einklang mit dem gleichermaßen gewaltsamen und arroganten Verhalten befindet, das die USA im Irak an den Tag legen.

F: Welche Position hat die libanesische Regierung gegenüber der Aktion der Hisbollah? Israel hat beschlossen die ganze Regierung für diese Aktion verantwortlich zu machen, trotz der Dementis des libanesischen Premierministers.


Achar:  Israels Politik besteht genau darin, die ganze Bevölkerung als Geisel zu nehmen, wie ich gesagt habe, hat es dies mit den Palästinensern getan; dies wird im Falle Libanon sogar noch deutlicher, weil die Hisbollah zwar tatsächlich an der Regierung teilnimmt, aber nur minimal beteiligt und eigentlich sogar in der Opposition ist. Die libanesische Regierung wird von einer Mehrheit dominiert, die mit den Vereinigten Staaten alliiert ist und die nun das ganze Ausmaß der Heuchelei der Bush-Administration zu spüren bekommt, die immer, wenn es darum geht gegen Syrien zu opponieren, behauptet, vom Schicksal des libanesischen Volkes betroffen zu sein. Die derzeitige Regierung des Libanon für die Aktion der Hisbollah verantwortlich zu machen, selbst nachdem sich die Regierung offiziell davon distanziert hat,
ist auf der einen Seite eine Demonstration von Israels diktatorischer Politik und auf der anderen ein Zeichen für Israels Entschlossenheit, den Libanesen einen Bürgerkrieg aufzuzwingen, so wie es es mit den Palästinensern versucht. In beiden Fällen will Israel einen Teil der lokalen Gesellschaft zwingen – die Fatah in Palästina und die Regierung im Libanon – Israels Hauptfeinde, die Hamas und die Hisbollah zu zerschlagen, anderenfalls werden sie selbst zerschlagen.

F: Was verbindet die Bewegungen der Hisbollah und der Hamas?

Achar:  Sie haben eine ähnliche Ideologie und eine radikale Opposition gegen Israel. Die Hamas sind sunnitische Moslems, während die Hisbollah schiitische Moslems sind, beide sind mit Syrien und dem Iran alliiert. Die Hisbollah entstand 1982 nach der israelischen Invasion im Libanon und die Hamas während der ersten Intifada 1987/88. Die Existenzgrundlage von beiden ist ihre Opposition gegen Israel, der nationale Kampf gegen den Besetzer ihrer Territorien, der Kampf gegen den gemeinsamen Feind Israel, sowie gegen die Vereinigten Staaten, die hinter Israel stehen.

Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten ist im Irak wegen der innenpolitischen Faktoren prekär, hat aber für die gesamte Region ansonsten keine große Bedeutung. Diese Spaltung zeigte sich im vergangenen Jahr auch im Libanon, aber in einer weit weniger gewaltsamen Weise, als die Mehrheit der sunnitischen Gemeinschaft, die von Hariri geführt wird, der mit den Saudis und den USA verbündet ist, sich in Opposition zur Mehrheit der Schiiten befand, die von der Hisbollah angeführt wird. Aber diese Spaltung kann in den Ländern, in denen nicht (wie im Irak und im Libanon) beide Gemeinschaften präsent sind, kaum ein wichtiger Faktor werden. In Palästina gibt es fast keine Schiiten.

Diese solidarische Beziehung der Hisbollah mit der Hamas gab es weder mit der PLO noch mit der  palästinensischen Autonomiebehörde, als sie noch von Arafat geführt wurde. Die Hisbollah hatte nie irgendwelche Sympathie für Arafat und noch weniger für Mahmoud Abbas, in denen sie nicht die gleiche radikale Opposition gegen Israel gefunden haben, die sie in der Hamas sehen, der sie nicht vorwerfen, die palästinensische Sache zu verraten. Der wachsende Einfluss der Hamas in Palästina wurde von der Hisbollah und vom Iran als Sieg begrüßt, und der Iran war der erste Staat, der den Palästinensern finanzielle Hilfe zugesagt hat, als sie von westlicher Hilfe abgeschnitten wurden.

F: Wie wird die libanesische Bevölkerung auf die Ereignisse reagieren? Wird sie sich mit der Hisbollah solidarisieren oder wird sie diese für ihre Leiden verantwortlich machen?

Achar:  Die Basis der Hisbollah sind natürlich die Schiiten (die Schiiten sind die größte Minderheit unter den libanesischen Gemeinschaften, von denen keine eine Mehrheit bilden kann). Aber bestimmt sind viele aus der sunnitischen Minderheit mit ihren Aktionen, als Zeichen der Solidarität mit der Hamas und den Palästinensern, einverstanden, wobei die Brutalität von Israels Reaktion diese Solidarität noch verstärkt. Auf der anderen Seite wird wahrscheinlich die Feindschaft der anderen libanesischen Minderheiten, außer den Schiiten – der christlichen Maroniten, der Sunniten, der Drusen, etc. — gegen die Hisbollah noch verstärkt werden, weil sie sich durch diese einseitige Entscheidung der Hisbollah gefährdet sehen und glauben für deren Entscheidung die Opfer bringen zu müssen. Die Gefahr besteht natürlich, dass sich die sektiererische Spaltung im Libanon weiter vertiefen wird und dass dies letztlich zu einem neuen Bürgerkrieg führen könnte. Die entscheidende Frage ist, ob sich die libanesische Regierungsmehrheit dem Diktat Israels mit der Folge eines neuen Bürgerkrieges beugen wird, oder sich dazu durchringt, ihren Schwerpunkt gegen die israelische Aggression zu legen und die Einheit des Landes zu erhalten. Im Augenblick scheint diese zweite Option vorherrschend zu sein. Man kann nur hoffen, dass dies so bleiben wird. Der internationale Protest gegen den israelischen Doppelschlag kann einen starken Beitrag dazu leisten, diese Option für einen gemeinsamen Widerstand zu stärken.


Gilbert Achcar ist im Libanon aufgewachsen und lehrt Politische Wissenschaften an der Universität von Paris VIII. Seine jüngsten Arbeiten sind Eastern Cauldron (2004), The Israeli Dilemma (2006) und The Clash of Barbarisms (2. Ausgabe  2006); ein Buch mit seinen Gesprächen mit Noam Chomski über den Nahen Osten, Perilous Power, erscheint bei Paradigm Publishers.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite