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Im Gespräch mit Wassylyna und Mia:

Interview mit einer ukrainischen und einer russischen Sozialistin

Von Mia (Russische Sozialistische Bewegung) und Wassylyna (Soziale Bewegung Ukraine) | 10.02.2024

An der Tagung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die Ende Oktober in Amsterdam stattgefunden hat, haben zwei jüngere Genossinnen teilgenommen, die Organisationen aus der Ukraine und aus Russland repräsentiert haben. Genoss:innen von der Organisation Anti*Capitalist Resistance haben mit Wassylyna von Sozialnyj Ruch (SR) und mit Mia von der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSD) über den Krieg und die Aktivitäten ihrer Organisationen gesprochen.

Wie seid ihr in die Politik eingestiegen?

Wassylyna: Mein Interesse an politischem Aktivismus entstand während meines Studiums der Urbanistik, bei dem wir häufig marxistische Theorien zur Analyse verschiedener Prozesse, die unseren Lebensraum beeinflussen, verwendet haben. An der Universität waren wir mit vielen jungen fortschrittlichen Menschen aus ganz Europa zusammen und durch ähnliche Kämpfe als internationale Studierende geeint, wir haben eine Gewerkschaft für die Studierende unseres Fachbereichs initiiert und für gleiche Studiengebühren für europäische und nicht-europäische Studenten gekämpft. Ich habe mich Sozialnyj Ruch angeschlossen, weil Theorie allein nicht ausreicht und weil ich den Drang verspürte, vor Ort aktiv zu werden. Angesichts der verheerenden aktuellen Herausforderungen ist die ukrainische Gesellschaft extrem anfällig, aber definitiv offener für Veränderungen. Natürlich können die Dinge nicht mehr so weitergehen wie bisher. So wird zum Beispiel viel mehr über Korruption diskutiert, und Journalist:innen decken Beispiele auf den höchsten Machtebenen auf, so dass man das Gefühl hat, dass sich die Dinge langsam ändern.

Mia: Mein Interesse an der Politik begann während meiner Schulzeit. Als ich 14 Jahre alt war, geschah die Annexion der Krim. Das war der Moment, in dem ich anfing, mich mit Nachrichten zu beschäftigen und politischen Kommentatoren zuzuhören. Allerdings waren mir die Unterschiede im politischen Spektrum kaum bewusst. Die Opposition in Russland ist überwiegend liberal, so dass für viele die Begriffe „Liberalismus“ und „Demokratie“ gleichbedeutend sind. Wie viele Menschen in meinem Alter war ich gegen Putin, gegen die Konservativen, für freie Wahlen, für Bürgerrechte und gegen Korruption. Ich nehme an, dass meine Zeit an der Universität in diesem Sinne wichtig war. Ich habe angefangen, viel mehr über Geschichte und Politik zu lesen, und konnte mich aus einer viel kritischeren Perspektive an politischen Debatten beteiligen. Seit 2021 habe ich mich auch außerhalb des Studentenrats und der Universität politisch engagiert. Ich war Wahlbeobachterin bei den Parlaments- und Kommunalwahlen 2021 und begann, mich an den Aktivitäten der RSD zu beteiligen. Bald darauf wurde ich Vollmitglied.

Welche Position vertritt Sozialnyj Ruch gegenüber der Regierung Selenskyj?

Wassylyna: Die Haltung der Regierung ist klar: Sie kämpft für die Souveränität der Ukraine, und das findet bei den Menschen viel Unterstützung. Aber wir als Organisation stehen der politischen Ausrichtung der Regierung, die mit neoliberalen Reformen und massiven Kürzungen der öffentlichen Ausgaben einhergeht, äußerst kritisch gegenüber. In Sozialnyj Ruch finden wir Wege, um zu diesen Fragen zu aktiv zu werden. Die Menschen stehen zusammen, um das Land zu verteidigen, aber das bedeutet nicht, dass Selenskyj einhellige Unterstützung hat.

Leider haben die Oligarchie und das ausländische Kapital einen erheblichen Einfluss auf unseren derzeitigen Präsidenten. Die derzeitige Regierung war nicht in der Lage, den Übergang von einer auf Profit basierenden Wirtschaft zu einer Kriegswirtschaft zu vollziehen, die für die Bereitstellung von Verteidigungskapazitäten und die Lösung humanitärer Probleme geeignet wäre. Die Suche nach Verbündeten unter den internationalen Partnern, vor allem unter den reichsten Staaten, die ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen (wie die USA), könnte der Unterstützung der Ukraine schaden und in den Ländern des globalen Südens Verwirrung stiften. Wir glauben nicht, dass unsere Regierung in der Lage ist, Fehler zu korrigieren. Deshalb sind Druck von der Basis und politische Kritik aus einer linken Perspektive dringend erforderlich. Die wichtigsten Prioritäten des Staates sollten auf dem Schutz der Interessen der Menschen, der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Förderung der globalen Solidarität gegen Unterdrückung beruhen.

Welche Kampagnenarbeit leistet die Russische Sozialistische Bewegung?

Mia: Kampagnenarbeit ist für unsere Genoss:innen in Russland aufgrund des repressiven Regimes schwierig. Wir versuchen, im Rahmen der Gesetze zu arbeiten, weil wir die Aktivist:innen nicht gefährden wollen. Unsere Hauptziele sind jetzt, die oppositionelle politische Diskussion nach links zu verlagern und den Menschen praktische Unterstützung zu geben. So haben wir beispielsweise mit unabhängigen Gewerkschaften in Russland zusammengearbeitet. Es gibt eine Gewerkschaft für Zusteller:innen, die wir bei der Organisierung unterstützen. Wenn die Aktivist:innen und führende unabhängigen Gewerkschafter:innen inhaftiert werden, organisieren wir Hilfe ‒ finanziell und durch Medienkampagnen.

Wir arbeiten aktiv in der „Universitätsplattform“ mit, die Professor:innen und Student:innen zusammenbringt, um ihre Rechte und Freiheiten zu verteidigen. Wir versuchen, Gemeinschaften aufzubauen und einen Raum für politische Diskussionen zu schaffen, um die Atomisierung der russischen Gesellschaft zu überwinden. Selbst in repressiven Regimen gibt es immer noch Kämpfe und Probleme, die vor Ort ausgefochten werden. Wenn möglich, schließen wir uns mit Basisinitiativen zusammen, um die Rechte der Menschen gegen die Lobbyarbeit der Bauunternehmen zu verteidigen und um uns gegen die Zerstörung der Natur zu wehren. Auch die feministische Plattform sowie die antikoloniale und dekoloniale Arbeit innerhalb unserer Bewegung haben für uns Priorität; dies ist uns angesichts der Invasion in der Ukraine besonders wichtig. Was oft übersehen wird, ist, dass die indigene Bevölkerung in Russland ausstirbt, während unsere Regierung einen Kolonialkrieg gegen die Ukraine führt. Indigene Bevölkerungsgruppen leben oft in armen Randgebieten Russlands, wo die Menschen in Armut und Schulden versinken. Die Mobilisierung [für die Armee] findet überproportional in den armen Regionen des Landes statt, wo die Menschen unter Druck gesetzt werden, der Armee beizutreten, um ihre Schulden zu begleichen; dort sind sie oft nicht in der Lage, sich zu wehren, und haben sie weniger Informationsquellen als der Rest der Bevölkerung.

Was ist mit dem Krieg?

Wassylyna: Wir unterstützen das Recht der Ukrainer:innen auf Widerstand gegen die Invasion und Kolonisierung. Einige Mitglieder von Sozialnyj Ruch haben sich den Streitkräften angeschlossen und kämpfen gegen die russische Armee. Es gibt im Moment keine anderen praktikablen Optionen für separate Kampfmilizen und -einheiten.

Einige Linke sagen, dass der Konflikt in erster Linie ein Stellvertreterkonflikt zwischen Imperialisten ist; stimmt ihr dem zu?

Wassylyna: Wir sehen dies nicht als Stellvertreterkrieg. Es ist in erster Linie ein Krieg des Volkes für die nationale Befreiung. Zu Beginn der groß angelegten Invasion organisierten sich die Menschen selbst, taten alles, was sie konnten, um sich der Besatzung zu widersetzen, sprachen mit den Soldaten und ältere Frauen bastelten selbstgemachten Sprengstoff. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten ‒ LGBT+-Menschen und Frauen, Künstler:innen, Arbeiter:innen und Akademiker:innen ‒ schlossen sich der Armee an, um für das Recht der Ukrainer:innen auf Selbstbestimmung zu kämpfen.

Mia: Einige Linke haben diesen falschen Pazifismus, und sie setzen bei der Betrachtung des Kriegs eine ideologische Brille auf, die die Situation für die realen Menschen vor Ort eher verdunkelt als klärt. Natürlich haben die Ukrainer:innen das Recht, sich zu verteidigen; sie sind die Hauptopfer in diesem Konflikt. Das Etikett „Stellvertreterkrieg“ räumt den Ukrainer:innen selbst keine Handlungsmöglichkeiten ein. Wer Verhandlungen und einen Waffenstillstand fordert, muss sich darüber im Klaren sein, auf welcher Grundlage. Das Problem ist, dass niemand Russland den Preis diktieren würde, den es für den Frieden verlangen würde. Aber einige Linke wollen den Ukrainer:innen die Bedingungen diktieren und sagen, sie müssten ihre nationale Souveränität opfern, indem sie Annexionen akzeptieren. Und warum?

Wie stark ist die extreme Rechte in der Ukraine?

Wassylyna: Die extreme Rechte kann immer noch eine Bedrohung für einige Einzelpersonen und soziale Bewegungen darstellen, aber im Allgemeinen lehnt die ukrainische Gesellschaft autoritäre und chauvinistische Ideen ab, da diese Ideen die Grundlage des russischen Imperialismus sind. Darüber hinaus sind der Einfluss und die Sichtbarkeit rechtsextremer Bewegungen in der Ukraine im Vergleich zu westlichen Gesellschaften, z. B. Deutschland, weniger stark. Derzeit sind rechtsextreme Aktivist:innen in der großen Politik nicht vertreten, aber wir müssen darauf vorbereitet sein, rechtsextremen Interessen in Zukunft zu widerstehen. Die Geschichte zeigt, dass Kriege leider eine günstige Grundlage für die Verbreitung hasserfüllter Ideologien bilden. Dennoch hat die ukrainische Gesellschaft bewiesen, dass sie durch ihre Vielfalt gestärkt wird und nicht durch die Kultivierung von ethnischem Nationalismus und nationaler Isolation.

Wird die Ukraine den Krieg gewinnen?

Wassylyna: Natürlich! Das ist der einzige Weg, das Land zu befreien. Wir müssen vorrangig die russische Invasion beenden. Wir brauchen auf jeden Fall mehr Waffen, denn dies ist ein echter Kampf, und diese Dinge sind wichtig.

Wie können die internationale Arbeiterbewegung und die Linke helfen?

Wassylyna: Wir haben das Europäische Netzwerk Solidarität mit der Ukraine, das sich wöchentlich trifft. Es hat internationale Besuche von Delegierten aus verschiedenen Ländern gegeben. Es gab eine gute Kampagne für den Schuldenerlass der Ukraine und kürzlich für die Freilassung des ukrainischen Menschenrechtsaktivisten Maksym Butkewytsch, der von den russischen Streitkräften gefangen genommen und gefoltert wurde, bevor er zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Alles, was die Menschen tun können, um Informationen über Menschen wie Butkewytsch zu verbreiten und Druck auf Russland auszuüben, ihn freizulassen, kann helfen. Wir würden uns sehr wünschen, dass die internationale Linke der Ukraine fortschrittliche Lösungen anbietet, die uns einen gerechten Wiederaufbau und eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen würden. Die Menschen in der Ukraine wollen in Frieden und unter menschenwürdigen sozialen Bedingungen leben, und dafür ist es notwendig, den Einfluss der Oligarchie zu beseitigen, alle wirtschaftlichen Ressourcen in öffentliches Eigentum zu überführen und die Auslandsschulden zu erlassen.

Mia: Wir appellieren an die Genossinnen und Genossen in aller Welt, vor allem aber in der westlichen Welt, wo die Politik offener ist und man mehr öffentliche Diskussionen führen kann: Wir wollen nicht, dass das russische Regime gewinnt; das wäre eine Katastrophe für die Ukraine und Russland. Es gibt einen Präzedenzfall für die Aufhebung von Sanktionen gegen russische Oligarchen in Europa (z. B. den Chef der Alfa Bank, Michail Fridman). Wir fordern, die Sanktionen gegen russische Kapitalisten aufrechtzuerhalten und dass das Geld für den ukrainischen Widerstand, russische zivilgesellschaftliche Organisationen und den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg verwendet wird. Wir rufen auch zur internationalen Solidarität mit den politischen Gefangenen auf. Darunter befinden sich Linke, Anarchisten, Antifaschisten und Gewerkschaftsorganisatoren. Wir begrüßen Aktivitäten, die uns dabei helfen, Geld zu sammeln, um denjenigen zu helfen, die politisches Asyl benötigen, und denjenigen, die bereits inhaftiert sind. Verfolgte Aktivist:innen entkommen oft, aber sie fliehen schließlich nach Kasachstan und in andere Länder, die unter russischem Einfluss stehen, wo sie inhaftiert werden und ihnen dann die Abschiebung zurück nach Russland droht. Gleichzeitig sind die Visabestimmungen sehr restriktiv, und die Verfahren dauern sehr lange. Die Grenzen zu den EU-Ländern sind faktisch geschlossen, und das vereinfachte Verfahren zur Erlangung von Visa wurde gestrichen. Es ist notwendig, diejenigen zu unterstützen, die politisches Asyl benötigen ‒ diejenigen, die sich weigern, in den Krieg geschickt zu werden und zu fliehen. Es ist notwendig, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament aufzufordern, ein einheitliches Konzept für die Gewährung von internationalem Schutz für russische Bürger:innen, die von Verfolgung bedroht sind, zu beschließen.

Was meint ihr zu der Sitzung des Internationalen Komitees?

Wassylyna: Es war sehr wichtig, hierher zu kommen und die Argumente der verschiedenen Organisationen zu hören. Es gibt sicherlich einige Beiträge, denen meine Organisation nicht zustimmen würde. Aber ich bin auch daran interessiert, innerhalb der SR zu diskutieren, wie wir unsere Politik und unsere Ideen auf der Grundlage dessen, was ich gehört habe, weiterentwickeln können.

Mia: Es gab einige positive, aber auch einige negative Aspekte. Positiv ist, dass alle offen für andere Positionen sind und mehr über die Positionen der RSD und über die Vorgänge in Russland wissen wollen. Ich kritisiere jedoch, dass wir lediglich politische Meinungen austauschen; die Linke verbringt so viel Zeit damit, über Begriffe zu streiten, etwa darüber, ob etwas imperialistisch ist oder nicht. Aber wo bleibt die praktische Solidarität? Wir müssen uns mehr darüber austauschen, was wir vor Ort tun. Es kann nicht nur um ideologische Positionen gehen.

Dieses Interview ist am 21. Dezember 2023 auf der Webseite der Organisation Anti*Capitalist Resistance (England und Wales) veröffentlicht und von Wilfried übersetzt worden. Auf Französisch ist es auf Europe Solidaire Sans Frontières zu lesen, auf Kastilisch auf Viento Sur.

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