Geboren für große Chancen
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Aufregende Zukunft im Zerrspiegel des „Spiegel“

Geboren für große Chancen

Von Manuel Kellner | 04.01.2022

Pünktlich zu Heiligabend 2021 brachte der „Spiegel“ eine wahrlich programmatische Titelgeschichte: „Übermorgen wird’s was geben. So aufregend wird die Zukunft unserer Kinder. Geboren für die großen Chancen.“ Denn zwar drohen große Katastrophen, aber dennoch kann sich alles zum Guten wenden. Natürlich! Kinder werden geboren. Und in keiner Geburtsanzeige steht „… bedauern wir, die Geburt unseres Kindes mitteilen zu müssen.“ Das kann kein Zufall sein.

Tatsächlich lässt sich, wie dieser Beitrag von Ullrich Fichtner nicht zu Unrecht behauptet, die Zukunft nicht voraussagen. Der polnische Sciencefiction-Autor und Futurologe Stanislaw Lem schrieb dazu: „Ein Verzicht auf Prognosen ist unmöglich, die Prognosen aber zeichnen sich durch große Unsicherheit aus.“ Überhaupt ist ratsam, wie ein bekanntes Bonmot lautet, zumindest nichts zu prophezeien, was die Zukunft betrifft…

Außerdem hatte Tolkien (der Autor des „Herrn der Ringe“) ein erhellendes Kunstwort geprägt, nämlich das der „Eukatastrophe“. Was soll das heißen? Die Vorsilbe „eu“ steht im Griechischen für „gut“. Eine „Eukatastrophe“ ist somit eine dramatische Wendung zum Besseren. Ullrich Fichtner bringt dafür nicht wirklich ein Beispiel. Das bleibt also mir vorbehalten – am Ende dieser Erwiderung.

Aber nehmen wir die Klimakatastrophe durch die rasante Erwärmung der Erdatmosphäre. Die muss natürlich nicht kommen, es gibt dazu Alternativen. Die gängigste ist der Ausbruch des Supervulkans unter dem Yellowstone-Naturpark in den USA. Geologisch ist der überfällig. Er kann morgen erfolgen oder in 10.000 Jahren. Wenn das passiert, wird die Bevölkerung der heutigen USA – die mindestens – unter einer meterhohen heißen Ascheschicht umkommen.

Global folgt dem eine Art nuklearer Winter. Es wird saukalt. Lebensmittel können kaum noch angebaut oder sonst wie gewonnen werden. Der ganze elektrische und elektronische Schnickschnack bricht wohl zusammen. Das Gesundheitswesen auch. Wohl denen dann, die gut bewaffnet sind. Wehe denen, „die ohne Waffen und die ohne Hoffnung sind“, wie ich einmal Louis Aragon nachgedichtet hatte. Wie sollen die an trinkbares Wasser, an Nahrungsmittel und wärmende Kleidung herankommen?

Das Kind, das heute geboren wird, sagt Ullrich Fichtner, wird dank der immer höheren Lebenserwartung wohl Weihnachten 2100 erleben und unheimlich viele Dürren, Waldbrände, Überflutungen und Extremwetterlagen erdulden. Es wird, was Deutschland und vergleichbare Länder betrifft, in einer überalterten Gesellschaft leben. Es ist mit Eltern aufgewachsen, die zu 75% nicht glauben, dass es ihm besser gehen wird als es ihnen ergangen ist. Und doch ist es für „große Chancen geboren“?

Große Probleme häufen sich, und Ullrich Fichtner benennt sie. Er prangert den „Wahnsinn“ an, „den ungeheuerlichen Stoffwechsel der globalen Wirtschaft noch weiter zu steigern.“ Sollten wir also nicht einfach damit aufhören? „Das Problem ist: Die gängige und weiterhin herrschende Logik setzt genau das voraus.“ Es ist aber so, dass der ganze „wilde Tanz der Überproduktion“ in einer „Endlichkeitskrise steckt, der man auch im schnellsten Tesla nicht mehr entkommt.“ Das habe sich noch zu wenig „herumgesprochen“. Die „dominierenden ökonomischen Lehren“ und das ihnen zugrundeliegende „vorherrschende einfältige Menschenbild“ bedürfen „dringend einer Korrektur.“

Ja, hat denn das alles vielleicht etwas mit der kapitalistischen Produktionsweise zu tun? Tatsächlich. Die „Systemfrage“ des 19. Und 20. Jahrhunderts ist nicht erledigt, sagt Fichtner. Die neuen Sozialbewegungen und die Weltsozialforen hatten sie in den 2000er Jahren neu aufgeworfen. Mit der Finanzkrise 2007/2008, die „Billionenwerte in Rauch aufgehen ließ“, dämmerte vielen, dass Karl Marx allem Anschein nach recht hatte. „Die Systemfrage stellt sich“ heute wieder, diesmal „in einer ökologischen Variante. Ist der Kapitalismus am Ende? Muss er weg?“

Zu einer so wenig weihnachtlich anmutenden Botschaft mag sich Fichtner nicht durchringen. Angesagt sei vielmehr „eine ökologisch getriebene Perestroika des Kapitalismus, eine Neuausrichtung der Marktwirtschaft weg vom Zerstörerischen, hin zum Nichtverbrauchenden, Bewahrenden.“ Warum die Marktwirtschaft zu bewahren sei, sagt er nicht. Immerhin: Dass viel zu viele T-Shirts auf dem Müll landen, könne nicht durch das Verhalten der Verbraucher:innen verhindert werden. Es sollten weniger produziert werden, und dafür müsse die Politik mit entsprechenden Regelungen sorgen.

Was Fichtner als Ursachen der Überproduktion benennt, liegt im Bereich der Mentalitäten. Die Leute wollen zu viel und sehen nicht ein, dass es sich zu bescheiden gilt. „Deutsche Ideologie“ nannten schon Marx und Engels das. Nicht die materiellen Verhältnisse sind das Problem, sondern die falschen Vorstellungen in den Köpfen, falsche „Logiken“, falsche „Menschenbilder“.  Für jemanden, der die Gespenster von Marx und Engels heraufbeschwört wie Ullrich Fichtner, ist schon bemerkenswert, dass in seinem Beitrag weder gesellschaftliche Klassen noch Klasseninteressen vorkommen.

Doch das heute geborene Kind wächst in einer Welt auf, die sich immer mehr „entmaterialisiert“. Es kauft nicht mehr T-Shirts für sich selbst, sondern für seinen Avatar in den immer mehr perfektionierten virtuellen Welten. Aber haben diese virtuellen Welten nicht auch eine materielle Basis, und das nicht zu knapp? Ullrich Fichtner wäre kein typischer „Spiegel“-Autor, wenn er das nicht in aller gebotenen Flapsigkeit einräumen würde. Er zitiert Ulrich von Weizsäcker, der wusste, dass „die Digitalisierung … den Energieverbrauch noch weiter in die Höhe treibt.“ Die Gewinnung der für die digitalen Apparate nötigen „seltenen Erden“ durch mörderische Kinderarbeit erwähnt Fichtner so wenig wie die hunderten Millionen Menschen, die in der kapitalistischen Weltwirtschaft mittels Hungers und Mangelernährung „entmaterialisiert“ werden.

Um die Einsicht in den nötigen Systemwechsel voranzutreiben, meint Fichtner, müsse die aus den kleinen Zirkeln heraus und mehrheitsfähig gemacht werden. Dafür müsse zunächst anerkannt werden, welche Segnungen die kapitalistische Wirtschaftsweise zumindest einem großen Teil der Menschheit gebracht habe. Alle diese schönen Sachen, die Fortschritte der Medizin, diese großen Potenziale. Nun, Letzteres sagten Marx und Engels schon 1848 im „Manifest der kommunistischen Partei“ mit Bezug auf das ungeheure Wachstum der Arbeitsproduktivität in der kapitalistischen Produktionsweise. Doch sagten sie auch, dass diese Produktivkräfte zunehmend in Zerstörungskräfte umschlagen müssen, wenn sie nicht unter die Kontrolle der assoziierten Produzentinnen und Produzenten gebracht werden.

Davon sagt Ullrich Fichtner natürlich nichts. Dafür beschließt er seinen Beitrag mit Berufung auf Hannah Arendt mit der „frohen Botschaft“, die vom geborenen Kind ausgeht: „Es bringt die Gewissheit, dass das Leben weitergeht. Dass es immer Zukunft gibt, Hoffnung geben muss. Dass die Möglichkeit der Rettung selbstverständlich besteht.“ Wer wollte dem widersprechen? Ich jedenfalls nicht.

Bloß gibt es nur dann Hoffnung, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen mit allen anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten erkennen, wessen Interessen die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen vorantreiben. Nicht umsonst sollen – um nur ein Beispiel zu nennen – die in der Erde verbliebenen fossilen Energieträger möglichst vollständig herausgeholt und verbrannt werden, denn sie sind ein ungeheures Kapital der großen Energiekonzerne und müssen daher „verwertet“ werden – koste es die Menschheit, was es wolle.

Die Klasse der Kapitaleigentümer:innen zieht ihre Profite aus der Ausbeutung von Menschen, die sie zu Arbeitskräften degradieren und aus der Ausbeutung der Natur, die sie nur als Ansammlung von Rohstoffen behandeln kann. Gepeitscht von der Konkurrenz müssen ihre Mitglieder immer „weiter, höher, schneller“, immer mehr expandieren. Sie sprengen so die Endlichkeit der Erde und die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen. Ohne den Sturz der Kapitalherrschaft gibt es keine Hoffnung. Und das wäre die „Eukatastrophe“: Die Totengräber:innen der kapitalistischen Produktionsweise werden die Geburtshelfer:innen einer lebenswerten menschlicheren Welt – wenn das noch geht.

Die Hoffnung stirbt zuletzt – aber Revolutionäre kämpfen auch ohne Hoffnung.

Manuel Kellner

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