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Länder

Gaza: Genozid und die Welt schaut zu

Von Urs Diethelm | 01.02.2009

Die Reduzierung  der militärischen Auseinandersetzung auf einen Krieg zwischen Israel und Hamas gibt ein falsches Bild der Ursachen dieses Krieges und zeigt keinen Ausweg für einen Frieden in Palästina.

Die Reduzierung  der militärischen Auseinandersetzung auf einen Krieg zwischen Israel und Hamas gibt ein falsches Bild der Ursachen dieses Krieges und zeigt keinen Ausweg für einen Frieden in Palästina.

Bereits am ersten Tag warf Israels Luftwaffe 100 Tonnen Sprengstoff über dem kleinen Gazastreifen ab. Am Ende der Militäroperationen wird kaum mehr ein Wohnhaus brauchbar sein und die 1,5 Millionen Menschen werden im Freiluftgefängnis Gaza nicht einmal mehr über den „Luxus“ einer Gefängniszelle verfügen können. Die Infrastruktur für Stromversorgung und Abwasserentsorgung ist zerbombt, die letzten landwirtschaftlichen Flächen zerpflügt und die Wirtschaftseinrichtungen in Ruinen. Das Leben im Gazastreifen war durch die jahrlange Abriegelung bereits schlecht, die massiven Bombardements und Artilleriebeschüsse haben ihn in ein Ruinenfeld verwandelt. Während noch hunderte von Toten aus den Trümmern geborgen werden, werden auch vielleicht die israelischen Kriegsverbrechen in unsere Medien vordringen.
Zerstörung palästinensischer Selbstbestimmung
Was ist Triebfeder dieser grenzlosen Zerstörungswut des israelischen Militärs? Warum lassen sich in Israel mit Kriegsgreul Regierungswahlen gewinnen? 93 % der jüdischen Israelis unterstützen laut einer Umfrage diesen Krieg. Die geölte Kriegspropaganda von den Angriffen von Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung ist bereits nach wenigen Tagen der Militäroffensive nur eine schwache und kaum überzeugende Erklärung  für diesen kollektiven Kriegstaumel geworden. Im israelischen Straßenverkehr sterben mehr Menschen als durch Kassam-Raketen, trotzdem wurden sie zum Kriegsauslöser hochstilisiert.

Die Idee eines religiös-ethnischen Staates mit einer jüdischen Mehrheitsbevölkerung hat seit der Staatsgründung Israels das Verhalten gegenüber den Palästinenser­Innen geprägt und ist heute allgegenwärtig im israelischen Alltag. Sie erklärt vor allem den Willen zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft. Vom israelischen Historiker und Nakba-Forscher Benny Morris stammt das Zitat, dass die Nakba oder die ethnische Säuberung der arabischen Einwohner­Innen 1947/48 noch vollendet werden muss. Der Historiker gehörte zu den ersten israelischen Forschern, die die geplante und systematische Vertreibung der Palästinenser­Innen durch die israelischen Gründungsväter dokumentierte.
Politiker­­Innen und Wissenschaftler­­Innen von heute versuchen sich in den Medien und auf Kongressen zu übertreffen, wer den besten Weg zu einem palästinenserfreien Palästina hat. Es ist kein Zufall, dass die mögliche Regierungschefin Livni Anfang Januar mit der Idee vom Transfer der in Israel lebenden Palästinenser­Innen in einen palästinensischen Staat auf Stimmenfang ging. Eine deutliche Mehrheit der jüdischen Staatsbürger­Innen ist für die Vertreibung der verbliebenen Palästinenser­Innen aus Israel. Der Gazastreifen wirkt in dieser Stimmung wie ein Mahnmal für die Geschichte der Vertreibung und Beständigkeit des palästinensischen Widerstandes, das zerstört werden muss. Die Bevölkerung im Gazastreifen besteht zu 2/3 aus 48er-Flüchtlingen und ihren Nachkommen. Sie kommen z. T. aus den Gebieten Israels, die ihre Kinder jetzt mit Kassamraketen beschießen.

Hinter den Militärschlägen ist keine konkrete langfristige Strategie Israels zu erkennen und die israelische Führung laviert zwischen Vertreibung der Menschen aus dem Gazastreifen nach Ägypten und einer Zweistaatenlösung mit einer abhängigen Bantustan-Regierung. Das einzige erkennbare Ziel dahinter scheint die Zerstörung einer selbstbestimmten palästinensischen Gesellschaft.
Und jetzt?
Doch was kommt, nachdem der Gazastreifen zerbombt ist? Riesige Mauern, Zerstörung der palästinensischen Wirtschaft, Verarmung durch Verhinderung der Verdienstmöglichkeiten und Einschließen von Millionen von Menschen in Ghettos, eine Eskalation der Unterdrückung der Palästinenser­Innen ist kaum mehr vorstellbar. Es ist nur deutlich, dass die israelische Regierung (die alte wie die zukünftige) unter einer Zweitstaatenlösung einen jüdischen Apartheidstaat mit einem palästinensischen Bantustan versteht.

Die Rolle der westlichen Regierungen, die während des Massakers in Gaza außer ein paar Ermahnungen stramm zu Israel gehalten haben, scheint sich auch auf die Unterstützung der zerstörerischen Politik Israels zu beschränken. Sie haben ihre Glaubwürdigkeit, Hüter der Menschrechte und des Völkerrechts zu sein, verspielt. Die Politik der westlichen Länder hat die befreundeten arabischen Regimes durch die Wut der eigenen Bevölkerung über den israelischen Gazakrieg in Bedrängnis gebracht. Auf den jüngsten arabischen Gipfeln in Katar und Kuwait versuchen sie, mit Milliarden für den Wiederaufbau des Gazastreifens die Stimmung zu besänftigen. Unklar ist es, ob ihnen das auch gelingt.
Aber auch die religiös verbrämte Kriegsrhetorik und -logik des palästinensischen Widerstandes (Hamas und Linke) lässt keine Strategie erkennen, die aus dieser Pattsituation herausführen könnte. Hamas geht zwar politisch gestärkt aus dem Gazakrieg hervor, ihre Siegesrufe täuschen aber nicht darüber hinweg, dass sie mit einer rein militärischen Strategie das Ziel eines Endes der Besatzung sowie Gleichberechtigung und Selbstbestimmung nicht gegen einen militärisch hochgerüsteten Unterdrücker durchsetzen kann. Abbas als Regierungschef eines palästinensischen Bantustans mit Fatah als Regierungspartei wird kaum nach seinen Blamagen im Gazakrieg politisch als Alternative taugen.

Ein solcher Krieg mischt die Karten der verschiedenen politischen Kräfte in diesem Konflikt neu. Wie diese sich verschieben oder ob es Israel, USA und Europa gelingt, wieder zum Status quo der Abriegelung und Besatzung zurückzukehren, werden die nächsten Wochen zeigen. Der Waffenstillstand wird so unbeständig sein wie zuvor, wo Israel sich schon das Recht herausgenommen hat, mit militärischen Mitteln zu zerstören, was ihnen nicht passt (Schmuggeltunnels und Elektrizitätswerke, Einrichtungen der Polizei und Fischerboote).

Der offensichtliche Mangel an Widerstandsstrategien gibt der radikalen Linken hier und in Palästina die Chance, sich wieder auf ihre antizionistische Geschichte zu besinnen und den Konflikt wieder grundsätzlicher zu betrachten. Gleichberechtigung der Palästinenser­Innen in Israel, Rückkehrrecht und Entschädigung der Vertriebenen, Ende der Besatzung und ein multinationaler, multireligiöser, demokratischer und sozialistischer Naher Osten könnte als Alternative zu religiösem Fundamentalismus (jüdischer oder islamischer Form) und imper­ialistischer Länderaufteilung werden.

Urs Diethelm ist Mitglied der SoAL (Sektion der IV. Internationalen) und der Palästina-Solid
arität Region Basel

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