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Daniel Tanuro zum Ukraine-Krieg:

Wir brauchen eine Linke, die stolz sagt: “From Ukraine to Palestine, occupation is a crime”

Von Daniel Tanuro | 02.04.2024

Der westliche Imperialismus unterstützt die Ukraine und Israel nicht in gleichem Maße. Die Beweise für diesen Unterschied sind so zahlreich, dass man sie nicht alle aufzählen kann. Bedingte Unterstützung für die Ukraine, bedingungslose Unterstützung für Israel. Israel wird ständig mit den modernsten Waffen beliefert. Für die Ukraine nur tröpfchenweise Lieferung bestimmter Waffen. Israel hat die uneingeschränkte Freiheit, außerhalb seiner Grenzen Tausende von Zivilisten zu ermorden. Für die Ukraine die Verpflichtung, die gelieferten Waffen nicht gegen Ziele in Russland einzusetzen …

Selenskyj versucht, seine “Verbündeten” davon zu überzeugen, diese Ungleichbehandlung zu beenden. Das Leben der Ukrainer ist genauso viel wert wie das Leben der Israelis, sagte er im Wesentlichen. Daher sollten sie auf die gleiche Weise geschützt werden, ihnen ebenfalls ein “iron dome” angeboten werden und so die “Demokratie” verteidigt werden. Selenskyj ist der Meinung, dass die USA, die EU, Israel usw. gemeinsam gegen den “Terrorismus” von Putin, den Mullahs und der Hamas vorgehen sollten. Dies ist seine geopolitische Vision. Selenskyj versteht nicht, warum sein Plädoyer nicht überzeugt. Der Grund ist einfach: Der westliche Imperialismus unterstützt Israel bedingungslos, weil Israel im Gegensatz zur Ukraine ein kolonisierender Staat ist. Das hat überhaupt nichts mit der Verteidigung der “Demokratie” zu tun (Israel ist keine Demokratie!).

Aus historischen Gründen identifizieren die Menschen bei uns den Kolonialismus mit Übersee. Die Erfahrung mit dem Kolonialismus von Imperien auf dem eigenen Kontinent wird gerne vergessen. Das ist die Erfahrung der Ukraine. Sie ist seit langem Opfer der kolonialen Begehrlichkeiten der sie umgebenden Mächte (nacheinander Österreich-Ungarn, das zaristische Russland, dann die stalinistische UdSSR, dann Nazi-Deutschland und dann wieder Russland).

Nach 1991 nutzte das ukrainische Volk den Zusammenbruch der UdSSR, um sich durch drei aufeinanderfolgende politische Revolutionen sein demokratisches Existenzrecht zu erobern. Der russische Imperialismus hat jedoch nie aufgegeben, es wieder unter das Joch zu zwingen. Das ist das Hauptziel des Krieges, den er seit über zwei Jahren (in Wirklichkeit seit 2014) gegen das Land führt.

Das erklärt die Zweideutigkeit der “Verbündeten der Ukraine”: Einerseits wollen sie nicht, dass der imperialistische Rivale Russland gewinnt (weil das die “westliche” Welthegemonie zugunsten der Achse China-Russland gefährden würde); andererseits wollen sie auch nicht – und wahrscheinlich noch weniger -, dass das ukrainische Volk gewinnt (weil das alle imperialistischen Hegemonien gefährden und die riesige Russische Föderation destabilisieren würde, was ihre Fähigkeit, ihre natürlichen Ressourcen an den kapitalistischen Weltmarkt zu liefern, gefährden würde).

Washington betrachtet Moskau als rivalisierende Herrschaftsmacht und Kiew als Teil der kolonialen Welt, ein Land, das von kapitalistischen Mächten beherrscht und aufgeteilt werden soll. Hier liegt die Quelle der unterschiedlichen Behandlung. Trotz ihrer Rivalitäten sind sich die Imperialismen in einem Punkt einig: In der Ukraine, in Palästina und überall müssen diejenigen, die gegen die Unterdrückung kämpfen, niedergeschlagen werden.

Selenskyj versteht nichts von diesen Klassenfragen, weil er ein bürgerlicher, neoliberaler Politiker ist. Auf seine Weise ist er auch ein Campist. Er bildet sich ein, dass der westliche Imperialismus im Gegensatz zum russischen Imperialismus die Ukraine nicht länger als Kolonie behandeln, sie voll in die EU integrieren und dem ukrainischen Volk die volle Möglichkeit geben könnte, sich auf dem ihm international zuerkannten Territorium weiter zu emanzipieren. In Wirklichkeit haben die “Verbündeten” der Ukraine nicht wirklich diese Absicht. Für sie ist die Ukraine ein Markt, kein Volk. Ihre Strategie besteht darin, den Mut und die Bestrebungen des ukrainischen Volkes zu manipulieren, um sie für ihre eigenen imperialistischen Interessen zu nutzen. Der Schlüssel zu dieser Strategie ist die Aussicht auf eine territoriale Teilung der Ukraine, d. h. auf einen Kompromiss mit der Diktatur Putins. Ein solcher Kompromiss wird jedoch zwangsläufig auf Kosten des Rechts des ukrainischen Volkes auf Emanzipation gehen, mit dem Risiko, den Schwung zu brechen, der es seit dreißig Jahren trotz aller Hindernisse vorantreibt.

Es gibt verschiedene Sichtweisen auf den fraglichen Kompromiss. Die Mehrheit der westlichen kapitalistischen Führer weigert sich scheinheilig zu sagen, wo sie den Schwerpunkt legen. Einerseits sagen sie, dass diese Entscheidung allein bei den Ukrainern liegt, andererseits regulieren sie den Tropfenzähler der Hilfe je nach dem Ausmaß des Verzichts, zu dem sie sie zwingen wollen. Die radikalsten sind Trump, die meisten US-Republikaner, Salvini in Italien, Wilders in den Niederlanden, die AFD in Deutschland, der ungarische Orban, der RN, d.h. die Mehrheit der extremen Rechten (Meloni spielt ein subtileres Spiel…). Sie wollen offen den Hahn zudrehen, einige verbergen kaum ihre Solidarität mit Putin. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass sich dieser extremen Rechten in der Praxis eine campistische Linke anschließt, die die Waffenlieferungen an die Ukraine anprangert … im Namen des “Pazifismus”. Dabei handelt es sich natürlich um einen verfälschten Pazifismus: Diese campistische Linke verbirgt (schlecht) ihre Unterstützung für den russischen Aggressor (oder für China, das den Aggressor aus dem Hintergrund unterstützt).

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Selenskyj selbst am Ende … nicht zu einem Hindernis in den Augen des Westens wird. Ist er gefügig genug für den Imperialismus? Das ist die Frage. Im Februar 2022 weigerte sich Selenskyj, mit dem von Biden angebotenen “Taxi” aus der Ukraine zu fliehen, und forderte “Waffen”. Seitdem hat er immer wieder betont, dass er die gesamte Ukraine, einschließlich des Donbass und der Krim, befreien wolle. Nun erlaubt er sich, die Forderungen der USA, die russischen Ölraffinerien nicht weiter zu zerstören, zu ignorieren … Wenn er so weitermacht, ist es nicht ausgeschlossen, dass der Westen eines Tages versuchen wird, ihn loszuwerden, so neoliberal und israelfreundlich er auch sein mag. Um an seine Stelle einen “realistischen” Politiker zu setzen, der nur und weise das tut, was der Imperialismus vom Präsidenten einer seiner Neokolonien erwartet. Sollte dies geschehen, wäre es nicht verwunderlich, wenn das Gefühl, von den “Demokratien” verraten worden zu sein, einen rechtsextremen nationalistischen Schub in der Ukraine anheizen würde. Ein echter Schub, nicht der dieser sogenannten “Ukronazis”, die nur in Putins grober Propaganda existieren. Das Panorama ist ziemlich düster. Mehr denn je brauchen wir eine echte Linke. Eine Linke, die Internationalismus nicht mit Campismus verwechselt. Eine Linke, die stolz sagt: “From Ukraine to Palestine, occupation is a crime” (Von der Ukraine bis Palästina: Besatzung ist ein Verbrechen).

Veröffentlicht von Daniel Tanuro auf seiner Facebook-Seite am 20. April 2024; deutsche Überstzung von Justin Turpel.

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