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Länder

Frankreich – was kommt nach dem Nein?

Von MiWe | 01.07.2005

Die Ablehnung der EU-Verfassung durch eine deutliche Bevölkerungsmehrheit in Frankreich und den Niederlanden hat den politischen Fahrplan der europäischen Integration auf neoliberaler Grundlage vorerst außer Kraft gesetzt.

Die berechtigte Freude hierüber ??darf indessen nicht die Illusi-??on vermitteln, dass der Aktionsradius der internationalen Konzerne substantiell beeinträchtigt wäre und die Agenda des neoliberalen Umbaus in den betroffenen Staaten infrage stünde. Während das Ergebnis in Frankreich als Plebiszit gegen Chirac und seine Regierungspolitik verstanden werden kann, ist die Entscheidungsgrundlage in den Niederlanden vielschichtiger und eher von nationalistischen Motiven geprägt gewesen. Zwar verkörpert das Nein auch dort eine schwindende Zustimmung zur Regierung Balkenende und ist die soziologische Schichtung des Abstimmungsverhaltens ähnlich zu Frankreich, aber die öffentliche Diskussion wurde in den Niederlanden eher von den rechten und religiösen Formationen beherrscht.
Eine Analyse der Ergebnisse in Frankreich zeigt die zentralen Unterschiede vor allem hinsichtlich ihres Zustandekommens und – analog dazu – der Perspektiven, die sich aus der Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses ergeben.
Das Nein in Frankreich ist in allererster Linie der erfolgreichen Mobilisierung des linken Wählerstamms zu verdanken. 94% der Wähler der extremen Linken, 98% der KP-Wähler, 60% der Grünenanhänger und 56% des sozialdemokratischen Potentials haben mit Nein gestimmt. Umgekehrt votierten 76% der UDF- und 80% der UMP-Anhänger mit Ja. Auch der Blick auf die regionale Verteilung der Stimmen offenbart, dass es sich um ein Klassenvotum handelte: In den bürgerlich-wohlhabenden Städten wie Paris, Bordeaux, Straßburg oder Lyon wurde mehrheitlich mit Ja gestimmt, während die von Lohnabhängigen und kleinen Leuten dominierten Trabantenorte wie Seine-Saint-Denis oder Arbeiterstädte wie Lille und Calais Hochburgen des Nein waren. 81% der Arbeiter und 79% der Arbeitslosen stimmten mit Nein, hingegen nur 26% der Bezieher von Einkommen oberhalb von 4500 Euro.
Die Komitees für das Nein
Der Sensibilisierungsgrad der Bevölkerung kommt in der hohen Wahlbeteiligung zum Ausdruck. Nachdem in den letzten Jahren die Zahl der Nichtwähler gerade in der einfachen Bevölkerung von Wahl zu Wahl gestiegen war, lag diesmal die Beteiligung weit höher als bei den letzten Europawahlen. In erster Linie ist diese Mobilisierung auf die erfolgreiche Tätigkeit der über 1000 Komitees für das Nein zurückzuführen, die sich hinter dem im letzten Jahr von der Fondation Copernic lancierten "Aufruf der 200" gesammelt hatten. In klarer Abgrenzung zu nationalistischen und souveränistischen Tendenzen heißt es dort: "Angesichts der neoliberalen Globalisierung und der supranational agierenden Konzerne brauchen wir ein (einiges) Europa ?(aber eines), das sozialen Fortschritt, Demokratie, nachhaltige Entwicklung und Zusammenarbeit zwischen den Völkern (verkörpert)."
In diesen Komitees waren die extreme Linke (mit Ausnahme von LO), die PCF, die linken Flügel der Grünen und der PS sowie Gewerkschafts- und Basisaktivisten zusammengeschlossen. In zahllosen Veranstaltungen wurde über die Inhalte der Verfassung, die seitens der Befürworter in der Regel verzerrt und unvollständig wiedergegeben worden waren, aufgeklärt. Um der Abstraktion zu entgehen und konkrete Bezüge zur sozialen Realität herzustellen, wurde diese Arbeit mit dem Engagement in den parallel stattfindenden Auseinandersetzungen in Betrieben, Schulen, Krankenhäusern etc., den Abwehrkämpfen gegen Privatisierungen und den nationalen Mobilisierungen gegen Sozial- und Lohndumping verknüpft.
Weitermachen
Da das Ergebnis richtigerweise als Misstrauensvotum gegen die herrschende Politik begriffen wird, wird die Kampagne der Komitees fortgesetzt. In deren Mittelpunkt stehen zwei Themen. Auf der einen Seite die Neuverhandlung des europäischen Verfassungsvertrags mit sozialen Rechten und ohne das wirtschaftsliberale Kapitel III; der sofortige Rückzug der Bolkestein-Direktive statt ihrer bloßen Umformulierung; die Definition unionsweiter Rechte für die in einem EU-Land niedergelassener Immigranten und die europaweite "Legalisierung" des Aufenthaltsrechts der "illegalisierten" Einwanderer (sans papiers). Auf der anderen Seite werden der Rücktritt Chiracs und die Ausrufung sofortiger Neuwahlen gefordert, verbunden mit der Fortführung und Ausweitung aller sozialen Mobilisierungen. Für diese Perspektive setzen sich unsere GenossInnen von der LCR ein und haben bereits die Zustimmung von Attac und der Erziehungsgewerkschaft FSU erhalten.
Bevorzugter Ansprechpartner unter den politischen Parteien ist die PCF. Dies freilich ist nicht ohne Gefahren. Zum Ersten lastet dieser die Mitwirkung bei der neoliberalen Ausrichtung der französischen Gesellschaft im Rahmen ihrer Regierungsbeteiligung an (der damalige Verkehrsminister der PCF, Gayssot, hat selbst der Privatisierung von Verkehrsbetrieben Vorschub geleistet). Zum Zweiten schielt die PCF selbst wieder auf eine Neuauflage der "linken" Regierungsallianz und versucht sich unter Verweis auf wieder gewonnenes politisches Terrain in der gesellschaftlichen Linken lediglich stärker gegenüber der PS zu positionieren.
Diese selbst orientiert unumwunden auf den turnusgemäßen Wahltermin 2007 und versucht – nach Abstrafung des innerparteilichen Nein-Lagers – die sozialen Mobilisierungen zu kanalisieren oder abzuwürgen. Dies kann nicht verwundern, können doch selbst die Exponenten des Nein wie Fabius und Mélenchon auf eine blütenreine neoliberale Vergangenheit zurückblicken.
Chirac selbst zeigt sich von all diesen Entwicklungen unbeeindruckt. Sein neuer Ministerpräsident de Villepin verspricht die Schaffung "hunderttausender" neuer Jobs und setzt dabei auf weitere Privatisierungen und die Aufweichung des Kündigungsschutzes, das heißt auf eine Fortsetzung der bisherigen Politik, garniert mit sozialen Augentäuschungen. Die Unternehmer selbst sehen sich nach dem Referendum keineswegs in der Defensive. Ihr Verband Medef begreift den Ausgang vielmehr als Aufforderung, den neoliberalen Umbau zu forcieren. Und er hat insofern Recht, als die wahren Entscheidungsprozesse nicht durch die Verfassung geregelt sondern in den Vorstandsetagen beschlossen werden.

TiPP!
Zum Nachlesen: Die Erklärung des Politischen Büros der Ligue communiste révolutionnaire, französische Sektion der IV. Internationale, zum Sieg des Neins in Frankreich zur EU-Verfassung: www.rsb4.de

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