TEILEN
Länder

Frankreich: Verloren sind nur die Kämpfe, die man nicht führt

Von MiWe | 29.10.2005

Der Streik der Seeleute bei der SNCM und der Marseiller Hafenarbeiter zeigt uns, dass Hafenblockaden, Schiffsbesetzungen und sogar -entführungen keineswegs Requisiten aus der marxistischen Mottenkiste, sondern noch immer höchst probate Mittel im Klassenkampf sind. Indem sie über die üblichen Beschränkungen der Gewerkschaftsführungen hinausgehen und dabei doch zur Zusammenführung der diversen Einzelkämpfe und -bewegungen beitragen, sind sie wegweisend für die Mobilisierungen der Lohnabhängigen.

Der Streik der Seeleute bei der SNCM und der Marseiller Hafenarbeiter zeigt uns, dass Hafenblockaden, Schiffsbesetzungen und sogar -entführungen keineswegs Requisiten aus der marxistischen Mottenkiste, sondern noch immer höchst probate Mittel im Klassenkampf sind. Indem sie über die üblichen Beschränkungen der Gewerkschaftsführungen hinausgehen und dabei doch zur Zusammenführung der diversen Einzelkämpfe und -bewegungen beitragen, sind sie wegweisend für die Mobilisierungen der Lohnabhängigen.

Die Bilanz der ersten 100 Tage der Regierung Villepin war für die Beschäftigten und Arbeitslosen in Frankreich kaum ein Grund zum Feiern. Angetreten als „Kämpfer gegen die Arbeitslosigkeit“ und gleichzeitig moderater Gegenpart zu dem neoliberalen Hardliner Sarkozy änderte der Premierminister keinen Jota an der Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner Vorgänger. Er stellt der weiter steigenden Arbeitslosigkeit, stagnierenden Löhnen und verfallenden Kaufkraft das übliche neoliberale Programm entgegen: Steuererleichterungen für die Reichen, weitere Privatisierungen – etwa der Autobahnen und Verkehrsbetriebe -, Sozialabbau mit der drastischen Verschärfung der Zwangsmaßnahmen gegen Erwerbslose, und die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes in Betrieben unter 20 Beschäftigten. Auch kosmetische Maßnahmen, wie die auf Druck der Straße erfolgte Verpflichtung des hochprofitablen HP-Konzerns den geplanten Personalabbau mit Produktionsverlagerung nach Indien bei Strafe von Regressforderungen weniger umfangreich zu gestalten, ändern nichts an der negativen Resonanz in der Bevölkerung.

Die vielfältigen, oft im Gefolge der Kampagne gegen die EU-Verfassung entstandenen, Initiativen gegen den weiteren Abbau der öffentlichen Dienste und Sozialleistungen und deren Privatisierung setzten die Gewerkschaften unter Handlungsdruck. Dazu tragen auch die zahlreichen betrieblichen Kämpfe gegen Entlassungen und Werksschließungen bei Nestlé, Danone etc. sowie Bürgerinitiativen, wie z.B. zum Erhalt von Sozialwohnungen (Anstieg der Mieten um 20% seit 2001), bei. Dem Aufruf sämtlicher Gewerkschaftsverbände zu einem nationalen Aktionstag am 4. Oktober folgten in 150 Städten 1,2 Mio. Menschen, wobei neben den traditionell mobilisierungsstarken Verkehrsbetrieben und dem Erziehungswesen auch die Privatindustrie miteinbezogen werden konnte.
Der Streik der Seeleute
Überlagert wurden die Mobilisierungen von dem gleichzeitigen Konflikt um die Fährgesellschaft SNCM in Marseille. Deren jetzige defizitäre Bilanz rührt u.a. aus der 1996 etablierten Konkurrenz durch die low-cost Fährgesellschaft Corsica Ferries. Diese sahnt im lukrativen Touristentransport während der Saison mit obendrein staatlicher Subventionierung ab, während der SNCM der Ganzjahres- und der unrentable Frachtbetrieb obliegt und eine Abnahmepflicht der Fähren aus den staatlichen Werften besteht. Nach dem Willen der Regierung sollte diese zu 100% an den französisch-amerikanischen Finanzinvestor Butler – ein Studienfreund Villepins – zu einem Preis von 35 Mio. Euro (bei einem Vermögenswert von 450 Mio.) und einer zusätzlich vorgesehenen staatlichen Finanzspritze von 110 Mio. verschleudert werden. Unmittelbare Folge wäre die Entlassung von 400 der 2 400 Beschäftigten und die drohende Unterwerfung eines Teils der Beschäftigten unter das Billigflaggenregister, das – ähnlich wie die Bolkestein-Direktive – Beschäftigungsverhältnisse zu den Bedingungen des Herkunftslandes zulässt. Die mittlere Perspektive ist aus der hierzulande sattsam geführten „Heuschrecken“-Diskussion bekannt: Zerschlagung des Unternehmens, Verkauf der Filetstücke und Ausstieg des Investors nach 5 Jahren unter Mitnahme satter Profite sowie die Herstellung eines privaten Monopols.
Arbeitskampf gegen Privatisierung
Nach dieser Ankündigung riefen sämtliche dort vertretene Gewerkschaften zum Streik auf. Der Fährbetrieb wurde lahm gelegt, die Fähren besetzt und der Marseiller Freihafen und der Ölhafen durch die in Solidaritätsstreik getretenen Hafen- und Raffineriearbeiter blockiert. Davon waren auch benachbarte und korsische Häfen betroffen. Zugleich traten die ebenfalls von drohender Privatisierung betroffenen Beschäftigten der Marseiller Verkehrsgesellschaft RTM in Ausstand. Durch permanente Mobilisierung mit Kundgebungen und allgemeinen Aktionstagen gelang es, große Teile der Bevölkerung, die der offiziellen Politik überdrüssig sind und mit den Zielen der Streikenden sympathisieren, zu integrieren.
In dem Bewusstsein, dass nur die vereinte Aktion zum Erfolg führt, beteiligten sich auch Sektoren der Privatindustrie wie der von Massenentlassungen bedrohten STMicroelectronics und Nestlé. Am 4. Oktober gingen 100 000 Menschen auf die Straße, da allen Beteiligten – und nicht nur den Bewusstesten klar war, dass eine erfolgreiche Gegenwehr nur durch eine Vereinheitlichung aller laufenden und potentiellen Teilkonflikte möglich ist.

Trotzdem mussten sich die Seeleute nach 22tägigem Ausstand dem Ultimatum der Regierung, die mit der Entlassung aller Beschäftigten auf dem Wege eines Konkursverfahrens drohten, beugen. Entscheidend war hierbei die Schützenhilfe der nationalen CGT-Führung1 , deren Sektion die meisten Beschäftigten angehören. Statt die Auseinandersetzung zu einer landesweiten Angelegenheit im Kampf gegen Privatisierungen zu machen und die Stimmung der Bevölkerung, die zu 3/4 die Anliegen des Aktionstages vom 4. Oktober unterstützt, zu kapitalisieren, ließ sich Thibault auf Verhandlungen ein. Nachdem er einmal die Öffnung für das Privatkapital akzeptiert hatte, ging es nur noch um die Höhe der staatlichen Restbeteiligung und des Aktienstreubesitzes durch die Beschäftigten. Villepin dankte diese Konzilianz in eigener Weise, indem er erklärte, dass nach den Verhandlungen die Zeit für Entscheidungen gekommen sei und setzte die CGT mit der Konkursandrohung unter Druck. Unter dem Eindruck dieses Diktats wurde der Ausstand in einer Urabstimmung beendet.

Dennoch ist das Resultat dieses Kampfes nicht bloß eine Niederlage. Für die AktivistInnen aus Gewerkschaften und Komitees wird evident, dass sie nur auf ihre eigene Kraft, auf die einigende Dynamik aller Betroffenen und nicht auf die sozialpartnerschaftliche Logik der Führungen vertrauen können. In der Folge vollziehen sich Brüche zwischen den Apparaten und den AktivistInnen an der Basis und die Idee des Klassenkampfes wird wieder zu einer konkreten Perspektive.

1     Die CGT ist eine Gewerkschaft, die der Kommunistischen Partei Frankreichs nahesteht (Anm. d. Red.)

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite