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Frankreich: Gründungskongress der NPA – Ein großer Schritt nach vorn

Von Daniel Berger | 01.03.2009

Unmittelbar nach der erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampagne von 2007 hatte die LCR (franz. Sektion der IV. Internationale) zur Bildung einer neuen antikapitalistischen Partei aufgerufen. So manche waren skeptisch und viele glaubten, dass dieser Prozess nicht nennenswert über die bisherige Organisation hinausgehen würde. Die Erwartungen bei dem Gründungskongress der Nouveau Parti Anticapitaliste am 6.-8. Februar 2009 wurden in jeder Beziehung weit übertroffen.

Unmittelbar nach der erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampagne von 2007 hatte die LCR (franz. Sektion der IV. Internationale) zur Bildung einer neuen antikapitalistischen Partei aufgerufen. So manche waren skeptisch und viele glaubten, dass dieser Prozess nicht nennenswert über die bisherige Organisation hinausgehen würde. Die Erwartungen bei dem Gründungskongress der Nouveau Parti Anticapitaliste am 6.-8. Februar 2009 wurden in jeder Beziehung weit übertroffen.

Die neue Organisation ist in allen Departements vertreten und umfasste zum Zeitpunkt des Kongresses 9 123 Mitglieder in 467 Komitees (die LCR hatte etwa 3 500 Mitglieder.) Sie zieht antikapitalistische Menschen aus ganz unterschiedlichen Kreisen an. Beispielhaft für diesen Prozess ist der bekannte politische Aktivist Raoul Marc Gennard, der sich bei der letzten Präsidentschaftswahl noch für die gemeinsame Kandidatur von José Bové ausgesprochen hatte, sich im Verlauf der letzten anderthalb Jahre radikalisierte und auf dem Kongress der NPA ein klares antikapitalistisches, revolutionäres Programm befürwortete.
Vier Grundsatzdokumente
Mit Bewunderung konnten die über 650 Delegierten und die insgesamt ca. 300 Gäste die sehr demokratische und gleichzeitig professionelle Kongressorganisation verfolgen. Die vier Hauptdokumente waren nach der ersten nationale Zusammenkunft im vergangenen Juni in den Gründungskomitees vor Ort diskutiert worden. Über 1 000 Änderungsanträge wurden gestellt und in den nationalen Koordinierungskommissionen beraten, um für den Kongress einen handhabbaren Modus für die Abhandlung der Anträge zu entwickeln. Was in den nationalen Vorbereitungskommissionen nicht einstimmig angenommen oder abgelehnt wurde, wurde automatisch den Kongresskommissionen unterbreitet, an denen jeweils zwischen 100 und 300 Delegierte teilnahmen.

Anträge, die von der Antragsberatungskommission einstimmig abgelehnt worden waren, konnten dennoch von den AntragstellerInnen in der großen Kongresskommission (mit einer Für- und einer Gegenrede) zur Abstimmung gestellt werden. Knapp unterlegene Anträge konnten anschließend auf dem Kongressplenum zur Abstimmung gestellt werden. So wurde zwar relativ viel Zeit für die Behandlung der Änderungsanträge genutzt, aber alle Beiträge der Gründungsmitglieder sollten ernst genommen werden. Jede und jeder sollte die Möglichkeit bekommen, „mit seinem Baustein etwas zu dem neuen Gebäude beizutragen“, wie es ein Delegierter mir gegenüber erklärte.

Das absolut transparente Verfahren wurde durch moderne Technik unterstützt. Zusätzlich zum Abdruck aller Dokumente und Änderungsbeiträge wurden die jeweils zur Diskussion stehenden Passagen sowie die Abstimmungsergebnisse auf eine Großleinwand projiziert (sowohl in den Kommissionen wie im Plenum). In der Kommission „Politische Orientierung“ kamen allein in der zweiten Runde 62 RednerInnen zu Wort und im Plenum wurde die Gesamtorientierung zur Debatte gestellt. Dabei konnten nur Delegierte mit einem Mandat von ihrem Komitee für den jeweiligen Antrag sprechen. Aber bei den Abstimmungen gab es ganz selbstredend kein imperatives Mandat, sonst hätten politische Debatten und Versuche, andere zu überzeugen, keinen Sinn.
Grundsätze der Partei
Beispielhaft für die Debatte über die vier Hauptdokumente (Grundsätze der Partei, Statuten, Politische Resolution und Europawahlen) sei hier auf die Diskussion über die Grundsätze der Partei (principes fondateurs) verwiesen.  Hier ging es um die klare Kennzeichnung des Kapitalismus als ein System, das die gesamte Menschheit und den Planeten bedroht, darum, wie die GenossInnen sich eine andere Welt vorstellen, und um die Notwendigkeit der politischen Organisierung in einer Partei, die für die Emanzipation kämpft. Eine wichtige Debatte entwickelte sich an der Definition dessen, was die GenossInnen der NPA als Zielvorstellung definieren. In der Plenumsdebatte standen sich deswegen 3 Losungen gegenüber: „Sozialismus“; „Ökosozialismus“ und „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.  In der ersten Abstimmung erzielten sie 263, 185 und 186 Stimmen. In der zweiten Abstimmung (als sich wie bei anderen Fragen, nur die jeweils best platzierten gegenüberstanden) wurde dann mit deutlicher Mehrheit für die Losung „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ gestimmt und dann in der Schlussabstimmung von 540 Delegierten bei einer Gegenstimmen und 49 Enthaltungen angenommen.
Minderheiten
Das soll nicht heißen, dass es keine Minderheiten gibt, die mit der Gesamtorientierung ihre Probleme haben. Die Minderheit der von Lutte Ouvrière ausgeschlossenen Fraktion Étincelle  wollte ihre politische Organisation in der NPA beibehalten, um unter eigenem Namen weiterhin ihre Betriebsflugblätter herausbringen. Dieses Netzwerkverständnis, unter dem Schirm der Partei verschiedene Aufbauprojekte zu verfolgen, wurde mit großer Mehrheit (406 : 97) abgelehnt. Es wird von allen der Wille zum Aufbau einer gemeinsamen Organisation erwartet, selbstverständlich ohne Abstriche an interner Demokratie.

Die andere Minderheit um Christian Piquet artikulierte sich, wie schon in der Vergangenheit als langjährige Minderheit der LCR, an der Frage möglicher Bündnisse bei Wahlbeteiligungen, aktuell bei den Europawahlen. Diese Minderheit möchte gerne mit der KPF und der neu gegründeten Linkspartei (Parti de Gauche – PdG) des aus der sozialistischen Partei ausgetretenen Senators Mélenchon eine gemeinsame Liste zu den Europawahlen aufstellen. Dabei soll es seitens der NPA „keine Vorbedingungen“ geben. Die übergroße Mehrheit des Kongresses sieht aber in einer reinen Wahlabsprache (die auf viele Stimmen und Abgeordnete gerichtete ist) kein vertretbares Ziel, weil es auf die Organisierung der Kämpfe und der außerparlamentarischen Opposition ankommt. Nur wenn diese gefördert werden, sind gemeinsame Wahllisten vertretbar und das setzt „dauerhafte gemeinsame Aktivitäten“ voraus, wie es Samy, einer der Berichterstatter der Mehrheit ausdrückte. Der Änderungsantrag der Minderheit wurde mit knapp 90 % der Delegiertenstimmen abgelehnt.
Aktionseinheit
Das heißt nicht, dass es keine Bemühungen um gemeinsame Aktivitäten mit der KPF oder der PdG geben wird. Im Gegenteil. Zu den Aktivitäten beim nächsten landesweiten Aktionstag am 19. März wird das eine große Rolle spielen und selbst zu den Wah­len wird es Gespräche geben. Aber hier machen sich die GenossInnen der NPA wenig Illusionen, weil die parlamentaristisch orientierten Parteien KPF und PdG gar kein Interesse an einer dauerhaften gemeinsa
men außerparlamentarischen Front haben, was für die NPA eine Voraussetzung für eine gemeinsame Kandidatur ist.
Olivier Besancenot
Kaum etwas dokumentiert den Charakter der neuen Partei mehr als die konkrete Rolle von Olivier Besancenot, einem der drei Sprecher der Partei. Er ist durch seine vielfältigen Auftritte bei allen größeren sozialen Auseinandersetzungen wie auch in den Fernsehdebatten bekannt und hat in der Bevölkerung großen Zuspruch. Beim Gründungskongress traf er verspätet ein, weil er zur gleichen Zeit an einer Streikversammlung bei der Post teilnahm – Olivier ist Briefträger und aktiv am Streik beteiligt. In seiner verspäteten Einleitung zur politischen Lage betonte Olivier, dass die NPA ein Produkt der politischen Lage in Frankreich ist, dass die NPA aber auch ihrerseits auf die politische Lage einwirkt.

In den Tagen davor und erst recht während des Kongresses berichteten praktisch alle Medien ausführlich über die NPA. Auf allen Fernsehkanälen wurden Ausschnitte des Kongresses gezeigt, Le Monde brachte zwei volle Seiten mit Debattenbeiträgen (für und gegen die NPA) von bekannten Intellektuellen usw. Praktisch alle linken Organisationen Frankreichs waren vertreten, die KPF verteilte am Samstag an alle Delegierten kostenlos ihre Zeitung Humanité, was noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Aus dem Ausland waren ca. 100 internationale Gäste von befreundeten Organisationen (großenteils Sektionen der Vierten Internationale) angereist. Aufgrund der großen Zahl wurden die Grußbotschaften nicht vorgetragen, sondern in den Kongressunterlagen abgedruckt.

Auf dem Kongress wurde nur zwei Ausnahmen gemacht: Zum Auftakt berichtete Patrice Ganot im Namen der CERCASOL über den seit dem 20. Januar laufenden Generalstreik auf Guadeloupe (ehemalige französische Kolonie) und wurde dafür enthusiastisch gefeiert. Die zweite Ausnahme: Palästina. Hier sprachen Nasser al Kafrana für die PFLP und Michel Warschawski, Leiter des Alternativen Informationszentrums in Jerusalem. Wie aufbauend, dass ein Palästinenser und ein Israeli nacheinander mit ihren eigenen Worten den gleichen internationalistischen Inhalt vermittelten und deswegen mit stehenden Ovationen gefeiert wurden.
Rouge wird jetzt eingestellt, ab der zweiten Märzwoche wird die Zeitung der neuen Organisation erscheinen, auf 12 Seiten und im Zuschnitt mehr auf breitere Bevölkerungskreise ausgerichtet. Das Theorieorgan der LCR, Critique communiste, wird ebenfalls eingestellt. Das neue monatliche Organ wird zusammen mit der Redaktion von Contre-Temps erstellt, die von Daniel Bensaïd, einem der führenden Intellektuellen Frankreichs und Mitglied der LCR, angestoßen worden war. Sie versammelt in ihrer Redaktion bedeutende Intellektuelle, die sich jetzt positiv auf die NPA beziehen.
Der Name
Für den Namen der neuen Organisation gab es über 100 Vorschläge. Am Ende blieben zwei übrig: Parti Anticapitaliste Révolutionnaire (PAR) und Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapitalistische Partei). NPA setzte sich schließlich mit 316 zu 264 hauptsächlich deswegen durch, weil seit etwa einem Jahr dieser Name viel gebraucht und in den Medien weit verbreitet ist. Die Delegierten wollten nicht schon wieder einen neuen Namen in die Welt setzen.

Die Partei wird sich in der Praxis bewähren müssen, in den täglichen Kämpfen wie auch in den großen Aktionstagen, beispielsweise am 19 März. Aus diesen Gründen wird es sich in Zukunft noch mehr lohnen als in der Vergangenheit, immer wieder nach Frankreich zu schauen, nicht weil wir deren Aktivitäten kopieren könnten, aber weil dies doch die eine oder andere Anregung geben kann.

Nähe Infos mit Dokumenten und Videos unter: www.npa2009.org

 

Mitgliedschaft
Die neue Organisation hat auch ihre Schwächen, die nicht losgelöst von der allgemeinen politischen Lage und den Bedingungen für politische Arbeit sind. Die Beschäftigten des privaten Sektors machen nur 50 % der Mitgliedschaft aus (der staatliche Sektor ist in Frankreich sehr groß). Nur 35 % der Mitglieder sind Frauen. Die Parität von 50 % ist aber auf allen Leitungsebenen gewahrt. Das neue ZK umfasst etwa 190 Personen und ist deswegen so groß, weil alle „Sensibilitäten“ (informelle politische Strömungen) und Regionen angemessen vertreten sein sollen, was zumindest am Anfang nicht ganz einfach auszutarieren ist.

 

 

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