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Betrieb & Gewerkschaft

Es gibt keine Alternative zum Mindestlohn!

Von Daniel Berger | 01.11.2004

Die Frage des Mindestlohns wird zunehmend zur Nagelprobe für die Handlungsbereitschaft und Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in Deutschland. In typischer Bürokratenmanier wird zurzeit ein unmöglicher Spagat vollzogen: Eine Sperre gegen weitere Lohnsenkungen zu erwirken, ohne dafür kämpfen zu wollen.

Die Frage des Mindestlohns wird zunehmend zur Nagelprobe für die Handlungsbereitschaft und Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in Deutschland. In typischer Bürokratenmanier wird zurzeit ein unmöglicher Spagat vollzogen: Eine Sperre gegen weitere Lohnsenkungen zu erwirken, ohne dafür kämpfen zu wollen.

„Jeder, der Arbeit sucht, findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt…“ , so Hans-Werner Sinn, Direktor des Münchner Ifo-Instituts1. Dieser von der Politik so hofierte Vertreter neoliberaler Wirtschaftsweisen plädiert dafür, die Bruttolöhne um 10-15% zu senken, bei gering Qualifizierten sollen es sogar 30% sein. Der Zynismus kennt keine Grenzen. Und dieses Wunschpaket sind keine leeren Worte. Mit Hartz IV wird zum ersten Mal festgeschrieben, dass Langzeitarbeitslose zu Löhnen um ein Drittel unter Tarif arbeiten müssen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue Verhandlungen auf Betriebsebene bekannt werden, bei denen eine Standortsicherung über Lohnsenkungen erreicht werden soll.

Pfändungsfreigrenze

Sinn und Zweck dieser konzertierten Aktionen ist die Gewöhnung an sinkende Einkommen und die endgültige Entkoppelung von der politischen Bezugsgröße Existenzminimum. In der Vergangenheit konnten Sozialgerichte zwar nicht genau sagen, unter welchem Niveau ein Lohn sittenwidrig ist, aber diese Kategorie spielte immerhin noch eine gewisse Rolle.2 So bildet bisher auch die staatlich festgelegte Pfändungsfreigrenze (heute bei 930 Euro netto) einen Bezugsrahmen, den zu unterschreiten argumentativ schwer fällt. Noch! Denn wenn erst einmal ein ständig wachsender Teil der Lohnabhängigen trotz Vollzeitstelle unter der Armutsgrenze lebt, sinkt diese Größe nicht nur statistisch. Sie wird vor allem politisch als irrelevant angesehen, weil doch schon so viele Lohnabhängige darunter arbeiten.

Sicherung Mindestlohn

Die Tarifverträge sind in der Vergangenheit kein ausreichendes Sicherungsinstrument gegen Armutslöhne gewesen. Sowohl die Untersuchung der Bundesregierung vom Frühjahr 2004 wie auch das Tarifarchiv des WSI belegen, dass Dutzende von Tarifverträgen Lohnhöhen weit unter dem Existenzminimum festschreiben.
Deshalb muss ein wirkliches Sicherungsinstrument eingeführt, genauer: erkämpft werden, das den Menschen den Weg aus der Armut ermöglicht, bzw. das das zunehmende Abgleiten größer werdender Teile der ArbeiterInnenklasse unter das Existenzminimum verhindert. Nach Lage der Dinge kann dies nur in einer gewerkschaftsübergreifenden, breite Teile der Gesellschaft erfassenden Mobilisierung durchgesetzt werden – jedenfalls dann, wenn es ein Mindestlohn sein soll, von dem mensch auch leben kann.
Aber genau eine solche breite Mobilisierung ist nicht im Sinne der Gewerkschaftsbürokratie, und das aus zwei Gründen: Zum einen müsste sie dann zugeben, dass sie in der Vergangenheit mit ihrer Unterschrift Löhne abgesegnet hat, die teilweise noch nicht einmal die Hälfte des Existenzminimums erreichen.
Zum anderen will die Gewerkschaftsbürokratie unter allen Umständen den Kampf vermeiden. Konfliktvermeidung ist das oberste Ziel. Deshalb wird seit Wochen im DGB um einen Weg gerungen, der die Bundesregierung veranlassen soll, in einer Weise tätig zu werden, die dem DGB und den Einzelgewerkschaften das Kämpfen erspart, ihnen aber Platz am Verhandlungstisch einräumt. Damit meinen sie, in den Augen der Kollegen ihr Gesicht wahren zu können. Deswegen geht es dort nur um zwei Varianten, eine so verheerend wie die andere:

Bärendienst für GeringverdienerInnen

Entweder die Regierung senkt die Schwelle zur Umsetzung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Dann würden die jeweils niedrigsten Löhne in einer Branche bzw. für eine spezielle berufliche Tätigkeit zum Mindestlohn erklärt. Hier spekulieren die Gewerkschaften vor allem darauf, dass es – vergleichbar zum Entsendegesetz in der Bauindustrie – von Seiten der „Unternehmer“ ein ähnlich gelagertes Interesse gibt (um „Schmutzkonkurrenz“ und so genannte Dumpinglöhne zu verhindern).
Oder das Gesetz von 1952 über die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen soll angewendet werden. In beiden Fällen geht es der DGB-Führung darum, einen Weg zu finden, der keiner Zustimmung der CDU im Bundesrat bedarf.
Beide Wege sind politisch katastrophal, weil sie die niedrigen Löhne zusätzlich legitimieren. Sie würden also den arbeitenden Armen einen Bärendienst erweisen. Hinzu kommt, dass sie mindestens bei Modell 1 die Kooperation der „Unternehmer“ voraussetzt. Die stellen aber genau das heute nicht in Aussicht, gerade weil sie sich so stark und in der Offensive fühlen, dass sie mit weiteren Lohnsenkungen rechnen. Ein eingeführter Mindestlohn wäre dann eine Schwelle, die sie nur mit halblegalen Ausweichmethoden unterschreiten könnten.

Branchenübergreifender Lohn

Demgegenüber braucht es einen breiten Kampf für einen branchenübergreifenden gleichen Lohn für alle und zwar auf einem Niveau, von dem mensch leben kann. Nur wenn die Forderung vereinheitlichend wirkt, nur wenn Millionen die Nützlichkeit einsehen (und nicht befürchten müssen, dass dieser Lohn als Bezugspunkt zur Angleichung nach unten dient) werden sich Viele engagieren und wird ein solcher Kampf erfolgreich zu führen sein.
Hier ist ein langer Atem gefragt, aber die aktuellen Diskussionen gerade bei der IG BAU zeigen, dass sich in der Gewerkschaft einiges tut und zwar gegen die Linie des DGB (s. Kasten-nur Printausgabe)

Höhe entscheidend

Die aktuelle Debatte zeigt wieder einmal, dass eine Forderung nur in ihrer Gänze Sinn gibt, oder sie wird in ihr Gegenteil verkehrt. Die gesetzliche Festlegung auf einen Mindestlohn von z. B. 5 Euro würde also ähnlich wirken wie der Mindestlohn in den USA, wo zwar eine Schwelle gegen ein weiteres Absinken eingezogen ist, wo aber die Löhne eines bedeutenden Teils der so genannten gering Qualifizierten auf einem Niveau unterhalb der Armutsgrenze verbleiben. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Kampf für einen akzeptablen Mindestlohn keinen Sinn macht. Denn dann dürften wir auch keine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich anstreben, weil es in der Vergangenheit auch Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohn- und Personalausgleich (also mit Lohnverlust und Arbeitsverdichtung) gegeben hat.
Die Einführung eines Mindestlohns von heute 10 Euro – mindestens jährlich anzuheben gemäß der Steigerung der Lebenshaltungskosten – würde aus den Hungerlöhnen ein Einkommen machen, von dem mensch wenigstens leben kann. Heute arbeiten laut WSI 2,4 Millionen Menschen im ausgesprochenen Armutsbereich. 12 % der Vollzeitbeschäftigten können kaum die eigene Existenz sichern.
Ein Mind
estlohn von 10 Euro hingegen würde alle diese Bereiche abdecken und – z.T. mit sehr bedeutenden Lohnanhebungen – etwa 8 Millionen Beschäftigte betreffen (eigene Berechnungen). Ein solcher Mindestlohn würde auch die gesamte Lohntabelle, also auch die Löhne so genannter qualifiziert Beschäftigter, von unten her stützen (von wegen der Argumentation in der bürgerlichen Gesellschaft, was den Abstand zu den „Ungelernten“ angeht).

Arbeitszeitverkürzung!

Ein klassenkämpferisches Programm kann jedoch nicht ohne ein zweites Standbein auskommen: Die tariflichen und erst recht die real so unterschiedlichen Arbeitszeiten müssen auf niedrigem Niveau und bei vollem Lohnausgleich vereinheitlicht werden. Deswegen ist für uns der Mindeststundenlohn von 10 Euro der Bezugspunkt für die heute geltenden Arbeitszeiten. Bei der 35-h-Woche sind das 1522,5 Euro im Monat. Die auf dem DGB-Kongress diskutierten und seitdem von der NGG und der IG Bau (vor allem den Frauen) geforderten 1500 Euro Mindestverdienst im Monat sind deswegen für uns tatsächlich nur ein Minimum, was es zu erkämpfen gilt.3 Die zwei Zahlen 10 Euro in der Stunde und 1500 Euro im Monat ergänzen sich also und stehen nicht im Widerspruch zu einander.
Zum Abbau der Erwerbslosigkeit braucht es einen breiten Kampf zur Durchsetzung radikaler Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und zwar in allen Branchen und für alle Berufsgruppen. Eine 30-h-Woche – real umgesetzt, also nicht nur auf dem (Tarif)papier – brächte (ausgehend von den 39,9 h durchschnittlicher realer Arbeitszeit) mindestens 4,5 Millionen Arbeitsplätze, eine tolle Zwischenstufe zu unsrem Ziel der Verteilung der Arbeit auf alle Hände.

6. Bundesfrauenkonferenz der IG BAU – Mindesteinkommen statt Niedriglöhne
Die Delegierten der 6. Bundesfrauenkonferenz der IG Bauen-Agrar-Umwelt in Steinbach setzten sich besonders für einen Mindestlohn ein. Auszüge aus der Pressemeldung:„Die Mitglieder der Bundesfrauenkonferenz forderten ihren Bundesvorstand und die Tarifkommissionen auf, die tarifpolitischen Schwerpunkte so zu setzen, dass die Löhne bzw. Gehälter aller Tarifbereiche auf ein existenzsicherndes Niveau gehoben werden. `Es gilt, eine Lohnhöhe von derzeit mindestens 1500 Euro pro Monat (für Vollzeit) zu erreichen. Wenn nicht anders möglich, auch durch gesetzliche Maßnahmen`, erklärte Irmgard Meyer, für die Frauenpolitik verantwortliches Bundesvorstandsmitglied der IG BAU.
Scharfe Kritik äußerten die Gewerkschafterinnen an der Politik der Bundesregierung. Entgegen der im Grundgesetz verankerten Aufgabe zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter werden insbesondere Frauen durch Niedriglöhne und Mini-Jobs von einer eigenständiger Existenzsicherung sowie einer eigenen sozialen Sicherung ausgeschlossen. ‘Sie werden damit in die finanzielle Abhängigkeit vom Partner, von gekürzten Sozialleistungen und in die Altersarmut getrieben‘, so Meyer.
Die IG BAU Frauen wollen die Sonderregelungen für geringfügig Beschäftigte abschaffen und bis auf eine Bagatellgrenze alle Arbeitsverhältnisse gleich behandeln. Hierbei seien Nebenbeschäftigungen wie Überstunden beim Hauptarbeitgeber anzurechnen. ‘Wir brauchen keine Mini-Jobs und keine Niedriglöhne, wir brauchen existenzsichernde, sozial geschützte Arbeitsplätze‘, erklärte Irmgard Meyer.“

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