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Linke

Eine tiefe Krise des Kapitalismus

Von 18. Delegiertenkonferenz des RSB/ IV. Internationale | 21.06.2012

Resolution der 18. Delegiertenkonferenz des RSB / IV. Internationale

Resolution der 18. Delegiertenkonferenz des RSB / IV. Internationale

Als wir im Herbst 1994 in Mannheim den Revolutionär Sozialistischen Bund / IV. Internationale (RSB) gründeten, wollten wir nicht nur dem politischen und organisatorischen Niedergang des revolutionären Sozialismus in der Bundesrepublik Einhalt gebieten.
Die radikale Linke war damals entweder mit sich selbst und dem Versuch beschäftigt, die Bedeutung der deutschen „Wiedervereinigung“ zu begreifen, oder sie orientierte sich auf den „neuen Hoffnungsträger“ PDS, der aus der alten SED hervorgegangen war.
Wir setzten schon zu dieser Zeit auf einen anderen Weg. An eine kurzfristige Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten der arbeitenden Klasse glaubten wir nicht. Dazu hatten wir uns zu intensiv mit der Entwicklung der Weltlage beschäftigt.
In der „Programmatische[n] [Gründungs-]Erklärung des Revolutionär Sozialistischen Bundes“ gingen wir von einer neuen Aktualität der sozialen Frage aus: „Weltweit wächst die soziale Ungleichheit… Eine nähere Betrachtung der Widersprüche des Kapitalismus… lässt bedrohliche Entwicklungstendenzen erkennen. Die Angriffe der bürgerlichen Politik auf die Existenzbedingungen, die politischen Rechte und sozialen Errungenschaften der arbeitenden Klasse sind bisher ohne einheitliche Gegenwehr geblieben… Deshalb kritisieren wir die ‚Realpolitik’, die Illusionen in den Parlamentarismus und jede Art von Stellvertreterpolitik schürt. Deshalb liegt der Schwerpunkt unserer Aktivitäten in den außerparlamentarischen Kämpfen. Nur hier kann die Kraft entstehen, die in der Lage ist, wirksame Gegenwehr zu organisieren. Warten wir nicht auf bessere Zeiten!“

Leider haben sich diese Sätze bis heute mehr bestätigt, als es uns lieb war und ist.       
Der internationale Kapitalismus ist durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln gekennzeichnet. Ausbeutung und Entfremdung sind zwei zentrale Resultate dieses auf Profitmaximierung ausgerichteten Systems, in dem selbst die menschliche Arbeitskraft eine Ware darstellt.
Dieser Sachverhalt ist mit dem Begriff der „Globalisierung“ lange verschleiert worden.
Er ist seit etlichen Jahren zum wichtigsten Schlagwort in der gesellschaftspolitischen Diskussion geworden. In der veröffentlichten Meinung herrscht die Vorstellung: Bei der „Globalisierung“ seien „Sachzwänge“ am Werk, denen sich niemand entziehen könne. Gesellschaftliches Handeln sei vorrangig darauf auszurichten, dass die jeweilige Nation in einem internationalen „Standortwettbewerb“ mithalten könne. Die weltweite wirtschaftliche Konkurrenz sei zu verstehen als Wettlauf um ein möglichst niedriges Lohnniveau, um die Absenkung sozialer Leistungen und um die Deregulierung des Arbeitsmarktes. In Zeiten der Globalisierung könnten nur die Volkswirtschaften und Unternehmen Erfolg haben, die mit möglichst geringen „sozialen Kosten“ agieren.
Es liegt auf der Hand, dass durch die beharrliche Umsetzung dieser Logik die Arbeiter­­Innenklasse und ihre Organisationen unter massiven Druck geraten sind.

Das bisherige Resultat der Durchsetzung eines kapitalistischen Weltmarktes ist nicht „Wohlstand für alle“, sondern eine extreme soziale Polarisierung. Die „Finanzkrise“ nutzen die Herrschenden, um diesen Prozess auf eine neue Ebene zu heben.
Eine Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2011 hat die massive Zunahme der Zentralisation und Internationalisierung des Kapitals nachgewiesen und damit die wahren Machtverhältnisse auf dem Globus ans Tageslicht gebracht.
Demzufolge gibt es rund 43 000 multinationale Unternehmen. Davon sind 1 318 bedeutender als die anderen. Aber der harte Kern, die Crème de la Crème, sind nur 147 zum großen Teil untereinander vernetzte Konzerne.
„147 Konzerne [kontrollieren] die Weltwirtschaft“ titelte die Presse (FR vom 25.10.11).
Drei Viertel dieser 147 Firmen sind Finanzunternehmen.
Unter den 50 mächtigsten sind gar 49 Finanzkonzerne und nur ein realwirtschaftliches Unternehmen.
Die Auswirkungen dieser Verhältnisse lassen sich an wenigen Beispielen verdeutlichen:

  • Die Hälfte der Weltbevölkerung hat derzeit mit weniger als zwei Dollar pro Tag auszukommen.
  • Die drei reichsten Männer der Welt verfügen über ein Vermögen, das größer ist als das Bruttoinlandsprodukt der 50 ärmsten Staaten der Welt. Einige hundert Multimilliardäre in aller Welt besitzen mehr Geld als die Hälfte der gesamten Menschheit.
  • 40 % der Weltbevölkerung vegetieren in dieser Ländergruppe, deren Anteil am Welthandel unter 3 % liegt. Die in der OECD zusammengeschlossenen reichen Volkswirtschaften repräsentieren nur 15 % der Weltbevölkerung, aber etwa 80 % der globalen Wertschöpfung.
  • Die Zahl der hungernden Menschen hat nach UN-Angaben einen neuen Höchststand erreicht. Jeder sechste der rund 7 Milliarden Menschen leidet an Hunger.
  • Alle vier Jahre sterben in der „Dritten Welt“ etwa 60 Millionen Kinder an Hunger und heilbaren Krankheiten. Das heißt alle vier Jahre wird ein Weltkrieg gegen Kinder geführt.
  • Mittlerweile rund eine Milliarde Menschen gilt als erwerbslos oder unterbeschäftigt.
  • Zudem werden die natürlichen Lebensgrundlagen aus Profitgründen nach wie vor weltweit rücksichtslos zerstört. Fuku­shima ist nur das aktuellste Beispiel einer schier endlosen Kette. Dem gefährlichen Klimawandel wird nicht konsequent entgegengewirkt.

Schließlich zeigen sich vor diesem Hintergrund umfassende sozio-kulturelle Krisenerscheinungen, die bis in die letzten Verästelungen des Alltagslebens hineinreichen.
Auch wenn die Bundesrepublik ein sehr reiches Land ist, so sind selbst hier – beschleunigt nach dem Mauerfall und nun durch die Krise – soziale Spaltungen spürbar vertieft worden.
Wachsende Arbeitslosigkeit, Prekarität und Armut verursachen massive Unsicherheit und treiben die Entsolidarisierung in der arbeitenden Klasse voran. Immer mehr Menschen erkranken dadurch physisch und psychisch. Die Krise verschlechtert die Arbeitsbedingungen derjenigen, die noch einen Arbeitsplatz haben. Löhne und Ansprüche auf Sozial­leistungen werden für die große Mehrheit immer weiter nach unten gedrückt.
In der Bundesrepublik sind die Reallöhne auf das Niveau von 1980 gesenkt worden. Die Zahl der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse wird auf über 11 Millionen geschätzt. Offiziell sind durch statistische Tricks zwar „nur“ rund 3 Millionen Arbeitslose registriert, aber die reale Zahl liegt bei mehr als 6 Millionen.
Diesen unübersehbaren Entwicklungen steht das Paradox einer trotz aller kurzfristigen Bewegungen nach wie vor erschreckenden Passivität der großen Mehrheit hierzulande gegenüber.
Wie kommt es, dass gerade in Deutschland sich viel zu wenige über eine menschliche Alternative zu einem System Gedanken machen, das die Welt mit Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung und Umweltzers
törung überzieht?
Um diese Frage ansatzweise beantworten zu können, müssen wir einen Blick zurückwerfen.
 
Ab einem gewissen Reifegrad der bürgerlichen Gesellschaft wurden neue revolutionäre Prozesse möglich.
Dies zeigte sich auf der materiellen Ebene in der Entwicklung der Produktivkräfte. Sie wird unvereinbar mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der kapitalistischen Produktionsweise. Wachsende Kapitalkonzentration und Staatsintervention sei es zur Regulierung oder zur Deregulierung des Marktes verschärfen den Widerspruch zwischen einer zunehmend vergesellschafteten Produktion und der privaten Aneignung.

Auf der sozialen Ebene bildete sich eine Klasse heraus, die sich objektiv mehr und mehr die Fähigkeiten aneignete, um – wie Karl Marx das nannte – die Rolle des „Totengräbers“ des kapitalistischen Systems spielen zu können.
Zum entscheidenden subjektiven Faktor kann die wirtschaftlich aktive Arbeiter­­Innenklasse, um die es hier geht und die in Deutschland derzeit rund 40 Millionen Menschen zählt, allerdings nur durch die Erfahrungen der Klassenkämpfe werden. Diese sind eine notwendige Bedingung für das Entstehen von politischem Klassenbewusstsein und dadurch möglicher Klassensolidarität.
Die russische Oktoberrevolution 1917 galt als weltweit gehörtes Signal für den Aufbruch in eine neue Zeit ohne Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung.

Nach der deutschen Novemberrevolution 1918 unterdrückten Mehrheitssozialdemokratie, Reichswehr und Freikorps blutig die radikale Emanzipationsbewegung von unten. Zehntausende revolutionärer Arbeiter­­Innen wurden im Namen der bürgerlichen Demokratie ermordet und die entstandenen Ansätze einer Rätedemokratie zerschlagen.
Das endgültige Scheitern des internationalen revolutionären Ansturms im Jahr 1923 ebnete sowohl der stalinistischen Konterrevolution in der Sowjetunion als auch dem Faschismus in Deutschland den Weg.
1933 konnten die Nazis die gespaltene Arbeiter­­Innenbewegung hierzulande zertrümmern und damit auch ein radikales, antikapitalistisches Massenbewusstsein vernichten.
Diese bedeutendsten Niederlagen der Linken weltweit wirken bis heute nach, und selbst die großen politischen Aufbrüche von 1967/68 und erst recht nicht von 1989/90 haben diese tiefe Wunden zu heilen vermögen.
Schlimmer noch: Mit dem Siegeszug des neoliberalen Kapitalismus nach dem Militärputsch von 1973 gegen Chiles Volksfrontregierung unter Salvador Allende  konnte die eingangs erwähnte beispiellose und rücksichtslose Umverteilung von unten nach oben durchgesetzt werden.

Mit dem „Washington Consensus“, dem „Lissabon-Prozess“, der „Agenda 2010“ oder dem Kampf gegen die „Euro- oder Schuldenkrise“ hat diese Strategie nur verschiedene Codenamen erhalten. Sie wurde und wird bisher deshalb so „erfolgreich“ umgesetzt und als „alternativlos“ dargestellt, weil  glaubwürdige antikapitalistische Alternativen auf parteipolitischer, gewerkschaftlicher und erst recht auf gesellschaftlicher Ebene fehlten und immer noch fehlen.
Mittlerweile hat zwar die Krise die Legitimität des neoliberalen Kapitalismus erschüttert und eine systemkritische Diskussion wiederbelebt. Vor allem aber war 2011 die bedeutendste internationale Entwicklung von Massenaufständen, Generalstreiks und anderen Protestbewegungen gegen die herrschenden Verhältnisse und ihre Zumutungen seit 1968 festzustellen.
Eine organisierte, verallgemeinerte und entschlossene Gegenwehr von unten gegen Arbeitsplatzvernichtung, gegen von oben erfundene „Sparzwänge“, gegen als „Reformpolitik“ getarnten Sozialabbau, gegen Privatisierung, Flexibilisierung und Deregulierung gibt es allerdings trotz der Krise in der Bundesrepublik derzeit nicht.
Die sozialdemokratisch kontrollierten Gewerkschaftsapparate setzen nach wie vor auf die „Vernunft“ der CDU-Mehrheit in der schwarz-gelben Koalition und auf ein informelles „Bündnis für Arbeit“ mit dem Kapital zur Sicherung der deutschen „Standortinteressen“. 
Statt auf ein „Bündnis“ mit den Herrschenden setzen wir auf die Schaffung einer breiten sozialen und politischen Protestbewegung, aus der sich der erforderliche Widerstand entwickeln kann. Wir treten deshalb für den Aufbau einer außerparlamentarischen Opposition gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die breite Mehrheit ein.
Wir wenden uns dabei auch gegen eine „Leistungsideologie“, die auf einem menschenverachtenden und ausgrenzenden Verhalten der Besitzenden basiert. Gesellschaftlicher Egoismus und Entsolidarisierung bilden gleichzeitig den Nährboden für die Akzeptanz faschistischer und rassistischer Hetze.
Mit Neonazi-Sprüchen à la Thilo Sarazin (SPD-Mitglied und Ex-Bundesbanker) wird der Rassismus immer wieder hoffähig gemacht. Trotz der Wahlschlappe der Neonazis werden tagtäglich Schwächere Opfer brutaler rechter terroristischer teilweise von Geheimdiensten unterstützter Gewalt.
Die Bundesregierung ist in einer schwierigen Lage. Sie muss nicht nur größere Angriffe denn je durchführen, um die Kosten der Krise bezahlen zu lassen. Sie muss auch den Lohnabhängigen und Erwerbslosen weismachen, dass nicht die Bosse und Banker­­Innen, sondern sie selbst für die Krise verantwortlich sind. Das ist der Grund, warum Angela Merkel und andere tönen: „Wir haben jahrelang über unsere Verhältnisse gelebt.“

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